Mittwoch, September 27, 2006

Ich schwärme noch heute: Eine Sternstunde

Die Häuser von Gordes kuscheln sich eng umschlungen an einen Felshang, still, täuschen Schlaf vor. Die Straßen sind eng, geben sich nicht ohne Weiteres als Straßen zu erkennen. Oft sind es nur mehr verwinkelte, winzige Gassen, klettern über handgehauene Treppen aufwärts oder führen hinab. Wo sie sich kreuzen, scheint es beinahe zufällig zu geschehen. Stromkabel hängen darüber wirr und frei in der Höhe, als wollten sie die Häuser verknoten, damit sie nicht nachts bergab ins Tal purzeln. Kleine Boutiquen verstecken sich in den Erdgeschossen, verkaufen Lavendelblüten, Honig, Nugat, bunte Handtaschen, Stoffe oder Olivenschälchen. Hier hat sich eine der Sternstunden des ohnehin herrlichen Urlaubs ereignet. Unerwartet. Plötzlich. Nun rufen Sternstunden nicht weit vorher an, um ihre Ankunft zu verraten. Sie tauchen lieber aus dem Nichts auf.

Schon als wir um die Kurve biegen, und sich das wildromantische Panorama dieses kleinen Bergdörfchens durch den milden Dunst schält, schlägt das Herz begeistert und die Augen sehen sich kaum satt. Die Sternenzeiger ticken indes erst kurz später los. Mein Vater hatte sich schon den ganzen Urlaub gefreut, ich hatte bis kurz vorher keine Ahnung: Wir würden essen gehen. Ganz besonders. Hier in Gordes, an einer niedlichen Berghanggasse liegt ein Häuschen, an dem man wegen seiner Unscheinbarkeit fast vorbeischlendert. Die provencetypischen hellblauen Fensterläden, ein Postkartenständer, drei kleine Buchsbäume in Terracottatöpfen, eine Schürze neben dem Eingang. Pittoresk, aber in dieser Gegend nicht ungewöhnlich. Jedoch! Darin findet sich das vielleicht herzerwärmendste Bistro der Welt: „La Pause“. Es taucht in keinem Touristenführer auf – somit bekommt Ihr hier einen kulinarischen Geheimtipp!
Zwei knuffige alte Herren, ein Deutscher und ein Frankokanadier, haben sich vor Jahrzehnten kennen gelernt, ineinander verliebt und haben zunächst in Kanada gelebt, ehe sie des Klimas wegen die Zelte ab- und in die Provence aufbrachen, um hier in ihrem Lebensherbst ein winziges Restaurant zu eröffnen. Nur für drei winzige Tische birgt das kleine Esszimmer Platz. Auf der anderen Straßenseite am Hang stehen noch zwei Tischchen im Schatten. Nur vier Gerichte zieren die Speisekarte. Die beiden alten Herren kochen, was Ihnen schmeckt und daran darf man gern teilhaben. Manchmal denken sie sich auch spontan etwas aus.

„Haben Sie Zeit mitgebracht? Wir haben noch einen Tisch vor ihnen, der bedient werden muss“, fragt uns der rosabehemdete deutsche Herr. Haben wir. In der Küche spült sein Freund gerade mit Pril einen Blechkochtopf durch, schneidet Zwiebeln und Tomaten, durchwühlt seinen Kühlschrank. Wir schauen ihm dabei zu und betrachten das obskure Sammelsurium seltsamer Gegenstände, mit denen die Beiden ihr kleines Reich liebevoll dekoriert haben. Zwei Kakteen räkeln sich in Blumentöpfen mit Kuhfellmuster. Die Außenseite der Fensterbank ist mit Kunstrasen beklebt. Auf einem abgewetzten Sekretär bändelt die Schere mit einem dicken Kugelschreiber an. Der Feuerlöscher hat es sich in einem geschnitzten Holzeimer neben der alten Singer-Nähmaschine bequem gemacht.
In der Glasvitrine des uralten Holzschranks zanken sich die liebevoll drapierten Krippenfiguren darum, welche von ihnen denn nun dem Himmel am nächsten sind. Die Teedosen aus Blech hören gar nicht mehr zu. Das Silbergeschirr rümpft die Nase. Die alten Glaskaraffen tratschen über den neuen Basilikum im Zinkeimer. Sie alle kennen das Krippenpuppengezänk seit Jahren.

„Ich nehme Ihre Bestellung noch nicht auf. Mein Freund ist noch nicht ganz soweit. Und für unsere Gäste kochen wir ja alles frisch.“ Der Rosabehemdete kommt noch einmal. Er atmet schwer, seine Haut ist fahl, er schleicht nur langsam. Wir warten gern. Sein Freund bringt uns derweil eine eiskalte Flasche Cidre. Seine Schürze ist speckig und schief geknotet. Wir trinken den eiskalt perlenden Apfelwein, und wir trinken die Atmosphäre, die kaum in Worte zu fassen, aber so unglaublich herzerwärmend und auf karge Weise magisch ist. Die schrullige aber von Herzen kommende Sprödigkeit der beiden Alten, die kleine Küche, in der sie alles allein und von Hand selbst machen, die schräge, seltsame Einrichtung, die karge, herzliche Ehrlichkeit. Aus den Boxen eines kleinen Ghettoblasters in der Ecke singt Billie Holiday „Blue moon“. Dann dürfen wir doch bestellen. Und kurze Zeit später bekommen wir auch schon unsere riesigen Teller, auf denen eine große Portion Tagliatelle an provencalischem Tomaten-Fleisch-Ragout darauf warten, mit uraltem Silberbesteck genossen zu werden. Und wie köstlich es war. Wunderbar zart, toll gewürzt. Einfach, aber herrlich. Zum Nachtisch gibt es noch selbstgebackenen Apfelkuchen mit einer Extrakugel Vanille-Eis. Und langsam naht der Moment, an dem wir endgültig fertiggegessen haben werden. Schon lange habe ich mich gegen diesen Moment nicht mehr so gesträubt. Zu krude ist die Idylle hier, zu liebevoll ist das Essen zubereitet, zu niedlich ist das alte, schon etwas kränkelnde Pärchen mit seiner entwaffnenden Ehrlichkeit. Es zieht mich wieder in die Provence. Gleich morgen möchte ich aufbrechen und wieder nach Gordes fahren, um dort zu speisen. Egal wer von Euch in Bälde die Provence bereisen sollte: Fasst Euch ein Herz und kehrt in „La Pause“ ein, solange die beiden alten Herren noch die Kraft haben, ihre Gäste zu bekochen. Bei mir wird es nicht morgen sein, bis ich dorthin zurückkehre, morgen geht es zunächst nach Budapest.

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Hannelore und Horst sind nebenan

Auch wenn ich in Kürze auf dem Weg nach Budapest sein sollte: Es gibt noch was Neues aus der absurden Feder zu lesen. Und zwar ab dem 28.9. (nach heutiger Rechnung: morgen) mit Hannelore und Horst, das Ganze aber bei Mindestens haltbar, wo zugleich das einjährige Bestehen gefeiert wird. Ich gratuliere gern von hier aus.

Dienstag, September 26, 2006

Schock bei nacht

Bis auf den blassen Schimmer der Straßenlaternen ist es finster in Deinem Zimmer. Dunkel genug, um ruhig schlafen zu können. Eigentlich. Doch es geht nicht. Du kannst nicht. Innerlich gehetzt, getrieben, verwirrt, zerwühlt liegst Du zwischen den Decken. Auf Deinem Fuß landet eine Fliege. Du stößt sie weg. Schwach hörst Du das Röhren eines Kühlaggregats. Dann den dumpf aufröhrenden Motor des Lastwagens, an dem es hängt. Du wälzt Dich hin und her, umarmst das Kopfkissen, verschränkst die Hände, flehend, betend, hoffend. Eiskalte Achterbahn durchsaust Dich. Der Schweiß perlt kalt. Du malst Dir die Konsequenzen aus. Und doch kannst Du momentan rein gar nichts tun - es ist nachts um halb fünf.

Zwei Stunden zuvor hast Du die Lagerhalle Deiner Arbeit abgeschlossen, hast den Schlüssel ordnungsgerecht in den Briefkasten geworfen... doch dann. Beim Routinegriff an die rechte Hosentasche bleibt es viel zu flach. Nur die Konturen Deines Hinterns kannst Du erfühlen. Da fehlt was. Etwas Wichtiges. Ist es Dir im Lieferwagen aus der Hose gerutscht? Schnell nachsehen. Nein, verdammt! Du hast den Schlüssel soeben im Metallschlitz versenkt! Heilige Scheiße! Du rufst Deinen Kollegen auf dem Handy an, der noch unterwegs ist und in etwa einer halben Stunde ankommen wird, doch Du erreichst ihn nicht. Du sprichst ihm auf die Mailbox und bittest ihn nachzuschauen, ob etwas im Lieferwagen liegt. Dann rufst Du auch bei Deiner Firma an und sprichst dasselbe auf den Anrufbeantworter. Letztlich bleibt nichts, als nach Hause zu fahren. Übermüdet, aufgewühlt, erschöpft von der eh murphyesken Fahrt.

Es hatte schon seltsam begonnen. Der Liefer-LKW eine Dreiviertelstunde zu spät. Eine der entlegensten Apotheken wegen eines winzigen Medikaments wieder auf der Tour. Prasselnder Regen ohne Jacke. Ein unvermuteter Jahrmarkt in einem kleinen Dorf, bei dem Du rückwärts mit einem großen Lieferwagen zwischen engst gestellten Buden und Karussells hindurchmanövrieren durftest, da der altbekannte Weg von einer Wurstbude verstellt war. Alle möglichen Wege waren zugestellt. Nun schließt Du Deine Haustür auf und legst Dich ins Bett, ohne schlafen zu können, malst Dir die Konsequenzen aus, es ist gerade drei.

Um halb sieben kannst Du nicht mehr schlafen. Die Unruhe raubt Dir alle Nerven. Du wälzt Dich, doch Dein Herz pocht, Du drückst die Augen zu, doch vor dem inneren Auge flimmern grelle Schnitte. Um den Perso und den Führerschein brauchst Du Dir keine Sorgen zu machen. Die hast Du im zweiten Portemonnaie, das Du meist mit Dir führst. Hier hat sich die Strategie gelohnt. Draußen braust der erste Arbeitsverkehr. Du hältst es nicht mehr aus. Ziehst Dich dick an - der Kreislauf ist im toten Tal - und rast wie blöde zur Arbeitsstelle, springst vom Rad, hechelst hinein, turnst in den Lieferwagen, doch nichts. Du ziehst den Sitz nach vorn, grabbelst in die Spalte zwischen Sitz- und Anlehnfläche, nichts. Klaffende Leere. Dein Gesicht fällt vor Entsetzen auf den Fußboden. Der Chef hat auch nichts gefunden. Dir rutscht das Herz in die Hose, Dir wird schlecht, Du zitterst, leichenblass. Es ist kurz nach sieben.

Schnell rast Du nach Hause zurück, rufst Deinen Vater an, denn Dein eigener Internetanschluss streikt gerade. Du gibst ihm die Namen der Apotheken durch, auf dass er im elektronischen Telefonbuch die Nummern heraussucht. Vielleicht ist Dir das Portemonnaie beim Ein- oder Aussteigen aus der Hose gerutscht. Vielleicht beim Bücken, als Du volle Medikamentenwannen abgestellt oder leere aufgeklaubt hast? Bange Minuten vergehen, Du möchtest versinken. Nach und nach kommen die Nummern, der Arbeitstagbeginn der Apotheken rückt nur zäh näher. Alles vergeht in Zeitlupe, wo es in Dir selbst doch alles auf der Überholspur rast. Es ist Viertel vor acht.

Ausgerechnet jetzt, sagst Du Dir. Deine Bank ist nicht in Münster, Du wirst nicht ohne EC-Karte eigenmächtig an Geld kommen. Bargeld hast Du ja keins mehr zurzeit. Du hast auch Dein Semesterticket nicht mehr. Und keine Bahncard. Äußerst unpraktisch, wo Du doch auch noch übermorgen in Urlaub fahren willst. Eine knappe Woche in die unruhigen Straßen von Budapest. Die Schicksalsfratze grinst Dich blöde an. Du versuchst, an ihr vorbeizuschauen. Es gelingt nur phasenweise.

Du wählst eine Nummer nach der anderen. Alle sind mitleidvoll, sehr freundlich, hilfsbereit. Doch alle kommen bedauernd zurück, beteuern, Bescheid zu sagen, wenn sich doch noch etwas finden sollte. Niemand findet etwas. Mit jeder Nummer, die Du wählst, sinkt das Herz tiefer, wird das Seufzen lauter, das Bangen größer, wächst die Enttäuschung und die Sorge. Die EC-Karte ist gesperrt. Da kann - zumindest ab jetzt - nichts mehr passieren. Doch die blöden Umstände bleiben. Du wolltest eigentlich noch zum Arzt, Routine-Untersuchung vor dem Urlaub. Ohne Krankenkarte schwierigst. Du wolltest noch eine Menge mehr, die jetzt weitaus komplizierter wird. Und Du hast gerademal drei Stunden geschlafen. Du hoffst, dies ist Dein viel zu realer Traum. Doch Deine innere Stimme weiß, dass auch diese leise Hoffnung im eisigen Hauch der Wirklichkeit bald zersplittern wird. Du träumst nicht. Das macht es nicht besser.

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Montag, September 25, 2006

Das sportpädagogische Kampfhuhn fährt sich durch die blassblonden Strähnen, nippt am Kaffee, durchwühlt, ohne den Blick von mir zu wenden, seinen Rucksack mit der linken Hand.

"Dass die Bayern schon wieder mit dem Sieggewurschtel anfangen und sich zu Unrecht gegen Aachen drei Punkte erschnarcht haben, ist eine Sache. Dass Stuttgart plötzlich zu Hause vergeigt und auswärts gewinnt, ist auch seltsam genug, aber wo hat der Veh plötzlich diese Plautze her?"
"Hat der jetzt eine?"
"Und wie. Als ob der auch heimlich Bälle klaut und meint, so merkt das keiner."

Freitag, September 22, 2006

Großartige Musik für neugierige Ohren (IV)

Lauscher gereinigt? Wenn ja, umso besser. Vom Q-Tip-Gebrauch wird aus Gesundheits- gründen deutlich abgeraten, doch mit grundgereinigten Gehörgängen lässt sich den brandneuen Musiktipps wahrscheinlich noch mehr abgewinnen, als wenn Talggeschmier den Genuss trübte. Also, auf in eine neue Runde kostenlos-legal herunterladbarer Musiktipps.

Für den schwungvollen Weg ins Wochenende brausen zunächst What Made Milwaukee Famous mit Sweet Lady ins Bild und sorgen mit ihrem sommertrunkenen Indie-Rock für vergnügt hüpfende Herzen und steigendes Launebarometer. Neuanmeldung im Register der Wochenendohrwürmer nicht unwahrscheinlich.

Traumschön gezupfte Gitarren, leise Wehmut und perlendes Wohlgefühl, zwei Spritzer Rock, vier Teelöffel Folk und eine Vielzahl anderer Gewürze verquirlen The Say Highs zu einer herrlichen Mixtur, die - nicht zuletzt der Stimme wegen - den Fans der Decemberists köstlich munden könnte. Sie gewinnen auswärts wie zu Hause, wie Away games beweist.

Ich hatte nicht damit gerechnet. Vielleicht leise gehofft, aber. Nun sind sie aber tatsächlich zurück, die Lemonheads. Evan Dandos Haar schlubbert immer noch schlapp im Gesicht, vieles ist wie früher, aber es rockt immer noch erfrischend. Etwas Dreck vom trunkenen Stolpern auf den Bürgersteig klebt an der Hose, das T-Shirt sollte schon vor Wochen in die Wäsche. Das Rückgrat der Welt ist zerbröselt. Doch - wen kümmert's? Reinhören, über die Rückkehr freuen: No backbone.

Fein verspielter Pop, der überraschende Netze webt, betört, bannt, verwirrt und umschnurrt, leise melancholisch, doch herrlich, schleicht sich von hinten an und legt Dich in flauschige Fesseln: Something of an end von My Brightest Diamond.

Schrammeliger und ungeschminkt, nicht so zart verpackt aber trotzdem packend stellt sich John K Samson mit Faded Farewell Memory in den Weg. Gerade für mich als glühenden Weakerthans-Verehrer ist das Solo-Debüt des knatschblonden Strubbelkopfkanadiers ein heißersehntes Highlight, gerade wo das neue Album der Band an sich wohl noch bis Anfang nächsten Jahres auf sich warten lässt. Einem musikalischen Start ins Wochenende sollte nicht mehr viel im Wege stehen.

Die voran gegangenen Episoden:
Teil 1
Teil 2
Teil 3 bzw. Bonus

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Donnerstag, September 21, 2006

Salbungen und ihre Preisungen

"Wusstest Du schon, dass ein Kilo Herpes-Salbe fast 2.500 € kostet?"
"Transportierst Du die, oder hast Du einen sehr hohen Verbrauch?"
"Ich hab nur ein bisschen davon gekauft."
"Niemand braucht ein Kilo Herpes-Salbe."
"Nicht?"
"Nein. Es sei denn, Du bist ein Bartenwal, und sei Dir sicher: Das wäre mir aufgefallen."
"Ich habe auch nur 2 Gramm gekauft. Die kosteten aber 5 €."
"Sehr clever."
"Aber stell Dir vor: Entweder Du kaufst Dir 1000 Döner beim Aleppo-Grill, kannst also fast 3 Jahre Döner essen, jeden Tag, oder Du kaufst Dir ein Kilo Herpes-Salbe..."
"Wie wär's denn mit einem Pfund Herpes-Salbe und 500 Dönern?"
"Äh..."
"Vielleicht schmeckt Herpes-Salbe ja sogar... statt Tzatziki."
"Oder in Ergänzung dazu."

Mittwoch, September 20, 2006

Bodumverdauung

Das Schnitzel war verputzt. Nur die Tomate kuschelte sich noch in den Schoß des Salatblattes am Tellerrand. Im Bierglas - das dritte - nur noch Schaum. Wulnikowski sah zur Uhr. "Ich gebe Joost noch drei Minuten", dachte er. Sie schwadronierten noch ein wenig über dies und das, über die unfreiwillige Tonsur mit zunehmendem Alter, über den Preisanstieg bei Reiserücktrittsversicherungen und die Ostsee. Die Minuten zerrieselten und dann, fast auf Schlag, sprang Joost auf. "Entschuldige mich, ich muss ganz dringend zur Toilette." Wulnikowski versuchte, sein heimliches Vergnügen zu verbergen und flötete wohlwollend: "Wohl entkomm's."
Joost war ein Vierteljahr lang Wulnikowskis Nachbar in der Schillerstraße gewesen und inzwischen emeritierter Professor der Ur- und Frühgeschichte und seit nunmehr fünf Jahren einer der wenigen guten Freunde Wulnikowskis. Einmal wöchentlich trafen sie sich in der Trattoria della Norma, speisten gemeinsam (meist Tagliatelle Vongole), tranken und diskutierten bis tief in die Nacht.

Die Themen, über die sie sprachen, waren bunter und zahlreicher als Flicken an einem amerikanischen Quilt, eins aber war zum Leitmotiv ihrer Abende geworden. Etwa zwanzig Minuten nachdem Joost sein Dessert verputzt (mit Vorliebe Pannacotta mit Pflaumenpüree) und sein drittes Bier getrunken hatte (Wein mundete ihm nicht), sprang er urplötzlich auf und huschte zur Toilette. Es schien, als explodiere der peristaltische Druck aus dem Nichts, von null auf hundert, und steige nicht, wie bei ihm selbst, allmählich an. "Joosts Verdauung ist ein wenig wie Kaffeekochen in einer Kanne von Bodum, bei der man ruckartig den Filter herunterdrückt", dachte Wulnikowski heimlich und versuchte, sein Schmunzeln zu unterdrücken, denn Joost kam soeben zurück.

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Montag, September 18, 2006

Panem et Pommes

Die stille Post. Vielleicht war sie Schuld, dass über die Jahrtausende in Frankreich aus Brot und Spielen inzwischen eher Brot und Fritten geworden sind. Um mein Unverständnis demgegenüber vielleicht zu relativieren, habe ich gestern den Selbstversuch gestartet. Ich liess mir einen halben Meter pappiges Baguette mit zwei halbierten, schrubbelig gebratenen Hamburgerbuletten und einem Haufen fetttriefender Pommes servieren. Kein Ketchup, keine Sauce, kein Salat dazu. Ich bin dem Faszinosum "steak américaine frites" nicht auf die Spur gekommen. Ich werde bis auf Weiteres nicht begreifen, warum man sein Brot mit Fettfritten futtert und dabei Begeisterung verspürt. Mir senkte sich nur der Magen bleiern bis in die Beckengegend. Die spinnen, die Franzosen.

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Sonntag, September 17, 2006

Ma vue subjective sur la Provence (VII)

Nur allmählich dämmerte Madame Hippolytaine aus Saint-Rémy de Provence, dass ihr Lampenschirm, den sie zum Abstauben der Lampe auf der Fensterbank abgeschraubt hatte und an dessen Aufenthaltsort sie sich danach nicht mehr erinnern konnte, etwas damit zu tun haben konnte, dass sie nicht mehr genau sehen konnte, ob ihr Glas noch halbvoll war.

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Freitag, September 15, 2006

Die Franzosen wissen zu leben und haben eine Menge Interessen und Vorlieben, denen sie sich gern mit Hingabe widmen. Selten bemerkt, scheint gerade auch "Berge abtragen" dazu zu gehören. Immerhin haben sie ja eine ganze Menge davon.

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Mittwoch, September 13, 2006

Verlockungen der Nacht - Ma vue subjective sur la Provence (VI)

Wenn die Sonne der Dunkelheit den Staffelstab reicht, wandelt die Stadt ihren Sound. Die Musette-Spieler kratzen ihr Kleingeld aus den Hüten, die Betagteren legen sich den Pullover um die Schultern, giessen den Rest Wasser in ihren Pastis und ordern die Rechnung, um gemächlich gen Bettstatt zu entschwinden. Nun zieht die Nacht ihr anderes Kleid an. Jetzt ist Balzzeit. Die Baggerschaufeln sind geschärft. Zerbeulte Kleinwagen lassen in den engen Gassen die Motoren röhren, die Fenster sind bis zum Anschlag heruntergekurbelt, mit dumpfer Wucht klatschen HipHop-Beats aus den Boxen auf der Hutablage. Goldene Ketten glitzern im Lichtkegel der Strassenlaternen. Die Trainingshosen, an der Seite aufknöpfbar, hängen lässig im Schritt, die Kippe cool im Mundwinkel. Coole Anmachsprüche flattern den powackelnden Grazien auf dem Bordstein zu. Deren üppige Brüste heben sie nun stolz noch ein Stück weiter. Sie werfen ihre wallenden Mähnen kokett in den Nacken, ziehen ebenfalls an ihrem Glimmstengel, an dessen Filter ihr Lippenstift kleben bleibt, und hauchen den Jungs heisse Wolken entgegen. Riesige Ohrringe klicken an Halsketten und entwickeln mit dem Schuhabsatzklacken ihren eigenen Groove.

Kahlrasierte Muskelprotze pfeifen. die Gertenschlanken kratzen sich im Schritt und johlen. In diversen Betten ist noch unnötig viel Platz. Und so schäkern sie, tingeln in die Kneipen, schlürfen lasziv an stylishen Drinks, umtänzeln und -schwänzeln sich, schieben sich in die wenigen angesagten Clubs. Parfümwolken bersten vor Lockhormonen und betören die Nase. Hier kreisen die Zungen, lustfeuchte Lippen umschliessen sich, erregte Becken schmiegen sich aneinander. Nach dem betulichen Tag folgt die rauschende Nacht. Wildfremde erliegen den glutheissen Reizen und folgen einander in die heissesten Stunden der Nacht, auch wenn der Wind draussen frischer wird. Und nicht wenige werden in unbekannten Zimmern erwachen, dann, wenn die Stadt wieder ihre unschuldige Maske aufgesetzt hat für die Gäste der Welt.

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Nix trocken - Feucht-fröhliche Geschichte I

Mit nur vager Ahnung bleibt das Kopfkino dunkel. Du magst wissen, wie die uralten Gemäuer heissen, die Du bestaunst. Und so viel Dir das antike Gestein auch wortlos zuzuflüstern scheint: Die lebendigen und spannenden Episoden verrät es erst, wenn Du Dich hinsetzt und Dir aus Erzählungen die Gestalten vor Augen führst, die hier einst gehaust haben, die Geschichten, in die sie verstrickt waren. Erst mit ihren Irrungen und Wirrungen, mit ihrem Treiben und Verbleiben im Hinterkopf, sprudeln die Bilder plötzlich, die stummen Felsbrocken erwachen zum Leben und der Kopfkinosaal füllt sich.

Du schlenderst die kleine Platanenallee hinaus und trittst vor den Campingplatz. Im morgendlichen Gegenlicht glitzert die Rhône. Gegenüber wäscht die Stadt darin noch kurz ihr Gesicht und macht sich fein für den nächsten Besucheransturm. Die bullige Sadtmauer umarmt schützend die vertrackten Winkel, Gassen und Häuser in ihrem Innern. Die goldene Marienstatue strahlt in der Sonne und scheint mit ihrem Dornenkranz zu winken. "Idylle", haucht das Grosshirn. Die ersten Touristen kraxeln über Pont St.-Bénézet, die halbe Brücke mit dem Lied, das jeder kennt. "Sur le pont d'Avignon l'on y danse... tralala". Ein übermütiger Ire versucht sich darauf im Two-Step, doch führt das bekannte Lied, das er dazu singt, in die Irre und gaukelt ihm leichten Unsinn vor.

Auf der Brücke hat auch früher kaum jemand getanzt - vielmehr einige Meter tiefer in den schummrigen Spelunken, die sich damals im Mittelalter quf einer Rhôneinsel unter die Brückenbögen gekuschelt hatten. Hier hiess es: "Hoch die Krüge!" Hier wurde gehurt, gebechert, hier prellte man Zechen... und tanzte zu den Klängen umherziehender Wandermusiker. Diese Brückenkatakomben waren übervölkert von schlitzohrigen Falschmünzern, Kartentricksern, Beutelschneidern, Messerhelden und Galgenvögeln, die hier ihr Schindluder trieben. Sie neppten, betuppten, soffen, gaunerten und langfingerten was das Zeug hielt. Doch so tanzt der Ire oben auf der Brücke und weiss gar nicht so genau, warum und in wessen Gefolge er tanzt. Solche Geschichten verrät der alte Stein nur, wenn Du seine Geschichten kennst.

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Montag, September 11, 2006

Ma vue subjective sur la Provence (V)

Seitdem der Heinzelmann von Mutti nicht mehr zum Saugen und Blasen gefragt war, büxte er aus; rumpelte von dannen und heuerte als Spezialföhn in einem südfranzösischen Hundesalon an. Unbeliebt machte er sich zuweilen, wenn er im Eifer des Gefechts wieder einmal Saugen und Blasen verwechselte.

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Ma vue subjective sur la Provence (IV)

"Ich weiss nicht", sagt Björn und fährt mit dem Zeigefinger durch seinen schüchternen Ponyschnitt. Sein T-Shirt spannt ein wenig über dem Bauch. "Die anderen aus dem Kurs sind in der Stadt, um sich zuzukippen und zu feiern. Irgendwo in eine Disco-Bar, tanzen. Ich mag sowas nicht. Mir macht das keinen Spass."

Was Björn stattdessen mag: Seinen Schäferhund Ayla, ein bisschen Computer spielen, Sailor Moon (er sammelt auch die Soundtracks und hat alle Folgen auf Video), Pizzabrötchen und den 1. FC Nürnberg.

Er sitzt allein auf dem Treppchen, das zur Telefonzelle führt. "Das Blöde daran ist nur: Sie haben den Zimmerschlüssel mitgenommen. So kann ich nicht rein und muss bis ein Uhr warten; dann müssen sie wieder zurück sein." Es ist halb elf. Hinter ihm steht eine Damenhandtasche. "Das ist nicht meine." Er hebt beinahe entschuldigend die Hände. "Die gehört Frau Schwanendorf, meiner Päda-LK-Lehrerin. Die wollte an der Rhône spazieren gehen, und als sie mich hier sitzen sah, bat sie mich, darauf aufzupassen." "Wieso lässt sie sie denn nicht im Zimmer oder nimmt die Tasche mit?" Schulterzucken.

Deswegen kann er jetzt auch nicht einmal auf eigene Faust in die Stadt gehen, um wenigstens ein wenig zu fotografieren und vielleicht doch noch jemanden aus seinem Kurs zu treffen. "Nicht; dass Du denkst, ich sein ein langweiliger Spiesser!", hebt er plötzlich an und wird ein wenig rot an den Schläfen.

"Gestern zum Beispiel war ich in der Stadt. Joschi und ich haben uns vor den Papstpalast gesetzt und jeder eine Flasche Orangina getrunken." "Und, war's schön da?" "Sehr nett. Und auch ein bisschen aufregend." "Was ist passiert?" "Es waren zwanzig Pferde da." "Und?" "Die haben da gestanden. Im Kreis. Und irgendwann haben ein paar von ihnen Äpfel auf den Boden gekackt. Da haben ihre Besitzer geflucht." "Sowas." "Und als wir gerade gehen wollten, fingen die Pferde an, im Kreis zu gehen."

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Samstag, September 09, 2006

Ma vue subjective sur la Provence (III)

Für den Lavendel sind wir ein wenig zu spät. Die sonst duftenden violetten Felder sind bereits abgeerntet. Und so wirbelt der Cousin des Mistral, der als Vorbote die baldige Ankunft seines kräftigeren Vetters ankündigt, wolkenweise Sandstaub über die brachen Felder, die grünen Weinrebstöcke und den Zypressen um die Nase. Zugleich hat er die schweisstreibende Schwüle zerstoben, die sich auf diesen herrlichen Landstrich gequetscht hatte.

Keine Wolke verschleiert den lasurblauen Himmel. Die Sonne streut ihr warmes Licht auf die malerischen Dörfer, die sich an Felsnasen krallen oder unter zerklüftete Kalkmassive ducken. Schmale Weinbautrecker tuckern über die Hänge und sammeln erste Reben unterhalb der Dorfmauern ein. Pastellfarben schimmern die Flecken schon von Weitem mit ihren blassroten Dachschindeln auf den hellen Häusern, deren Aussenwandfarbe dezent an eingestaubten Eierstich erinnert.

Inmitten, auf dem Dorfplatz, strecken Einheimische und Fremde ihre Beine aus, schlürfen einen petit café und lassen sich von der milden Mittagsbrise umschnurren. Ein Landschaftsmaler kaut auf seinem Pinsel und aquarelliert gemütlich die neueste Fassung seines ewiggleichen Bildes. Heute hat er ein wenig am Grün gespart. Die Verkäuferin eines Schuhgeschäfts staubsaugt den Bürgersteig vor ihrem Laden. Ein Marokkaner mit grossem Nasenpflaster lehnt am Stamm einer der ehrwürdigen Platanen und wirft einer Katze ein Stück seines Schinkenbaguettes hin. Das Thermometer im Schatten gähnt, streckt alle Viere von sich und klettert dann zu den vergnügt hüpfenden Melodielinien des Akkordeonspielers mit den riesigen Augenbrauenbüschen gemächlich auf 31°C; um sich dort wieder schlafen zu legen.

Der Garçon des Coupe d'or (der uneheliche Zwilling von Frank Zappa) stolziert aus dem Bistrot und präsentiert einem Familienoberhaupt die "plat du jour", die er quf einer kreidebekritzelten Schiefertafel mit sich trägt. Monsieur strubbelt seinen Schnurrbart, schiebt seine Gauloises in den anderen Mundwinkel und schliesst sich mit Madame kurz. Dann bestellt er zweimal Rumpsteak mit Ratatouille und eine Portion Pommes frites für die Kleine. Ein geduckter Greis schlurft heran und versucht, uns katzengoldenen Schmuck anzudrehen. Wir lehnen freundlich ab, er meckert zahnlos, schiebt seine Unterlippenwulst vor und humpelt einen Tisch weiter. Fast zu herrlich ist es, um wieder aufzubrechen, doch gibt es noch so viel zu sehen.

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Donnerstag, September 07, 2006

Ma vue subjective sur la Provence (II)

Die Zunge durchturnt den Gaumen; die Mundwinkel zucken verhalten. Der erste Rotwein unter provençalischem Himmel ist überraschend sauer, mit faltigschlaffem Bouquet und mattem Abgang. Wir fläzen uns gemûtlich in Aurora-Monoblocksessel vor der Campingplatz-Gaststätte. Der Wind dreht sich leicht im Kreis. Zuweilen umwehen herbe Brisen aus den ansonsten sauberen Sanitärräumen unsere Nasen; teils umhüllen uns die betörend süssen Parfumwolken der zehn drallen deutschen Frisösen aus Leipzig, die mit grell geschminkten Lippen an riesigen Desperadosflaschen nuckeln,

um für den letzten Abend ihrer Abschlussfahrt auf Betriebstemperatur zu kommen. Sie wetteifern, wer denn bislang mit der grössten Geschwindigkeitsüberschreitung geblitzt worden ist, wer das meiste Geld für verchromte Auspuffkrümmer ausgegeben hat, vergleichen die Ergebnisse ihrer Volumenföhnbestrebungen und zählen einander die Kondome vor, die sie gekauft haben: "Denn was wäre der letzte Abend, ohne auch nur einen niedlichen Franzosen gevögelt zu haben?", fragt Jenny, und der Hühnerhaufen explodiert vor Jubelgegacker. "Gern auch mal aufm Klo", schiebt Maggy hinterher. Gackerwellen branden erneut.

Ich bemühe mich um einen unbeteiligten Blick und verberge mein heimliches Vergnügen; lasse sie nicht zwissen, dass ich alles verstehe. Soeben hat Sidney Gouvou das 3:1 gegen Italien erzielt. Nun explodiert die Gaststätte und die etwa fünfzehn Franzosen entfachen ein blaues Fahnenfeuerwerk. Vor Begeisterung reisst Virginie ihr Bier um. Tausende Scherben zersplittern umschäumt auf staubigem Stein.

Mit finsterem Todesblick stampft der stiernackige Sicherheitsbulle heran und zieht zwei kleine Teenager mit sich, die er hinter dem Rezeptionshäuschen beim Kiffen erwischt hat. Er staucht sie zusammen, pfeffert sie auf zwei der Plastiksessel und lässt die Eltern herantelefonieren. Kurz später huschen die Schatten der Mutter durch kaltes Neongeflacker. Sie schlägt die Hände über dem Kopf zusammen, als sie das Karrée vor dem Bistro erreicht, kriecht demütig vor dem Stiernacken zu Staube, krallt sich dann ihre backfischigen Spösslinge und beschämt jeden Rohrspatz mit ihrer Schimpftirade.

Die zehn blonden (und noch nicht nackten) Frisösen zwitschern stöckelnd in die Nacht; um ihre körbchengrossen Angeln nach schnuckeligen Franzosen auszuwerfen. Ich schlendere vom Platz an die Rhône; lehne mich auf eine Bank und verliere mich in Träumen, während der protzige Palais du Pape sich im Spiegel der sanft dahinsprudelnden Rhône abschminkt und bettfertig macht.

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Ma vue subjective sur la Provence (I)

Niemand tanzt. Ein zweiter Blick: Nein. Höchstens ein paar Moleküle. Saint-Bénézet, die berühmte Brücke von Avignon ist tanzfreie Zone und auch kein Spatz flattert am Himmel, als wir in die Stadt einfahren und ihr gegenüber, direkt an der Rhône auf dem Campingplatz Quartier beziehen. Noch ist früher Abend, doch die Nacht fällt so schnell herein wie ein Guillotinenbeil. Im Schatten der mächtigen Gemäuer des Gegenpapstpalastes quirlt das Leben.

Mopeds knattern über das Kopfsteinpflaster; Kleinwagen und Lieferwagen schieben sich hupend hintendrein und verstopfen die hautengen, verwinkelten Gassen. Ein belgisches Wohnwagengespann hat sich, scheint's, verfahren und rangiert verzweifelt umher. Dem Fahrer tropft Schweiss von der Stirn.

An der Place d'Horloge lassen sich Platanen den linden Abendhauch durch die Äste wehen. Darunter, von bunten Stoffbahnen überschirmt, geniessen die Jungen und Alten ihr Feierabendbier, einen Pastis oder einen kleinen Vin Rouge. Ein Schnurrbärtiger im Seidenhemd durchblättert eine Gazette, um zu erraten, welches Pferd wohl das nächste Rennen gewinnen mag. Ein dicker Belgier wemmst vor einer Bar Tabac mit seiner Wampe versehentlich einen Zeitungsständer um. Handys klingeln im Takt weniger Sekunden. Zeit, die Abendverabredungen zu treffen. Eine verwaschene Tricolore hat sich in den Gusseisenschnörkeln eines Balkons verheddert. Doch mit Hilfe des Windes reisst sie sich frei und flattert munter, als wolle sie mich begrüssen. Als wolle sie sagen: "Bienvenue à Avignon."

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Montag, September 04, 2006


Bisher unterrepräsentierte Topoi: Schlecht gepellte Zitrusfrüchte und zerbrechliches Porzellan in der Kunst.

Take off is nearing

Zeiträume kann man sich nicht gänzlich aussuchen. Zumindest nicht mehrere gleichzeitig. Das stört nur selten einen großen Geist, ist manchmal aber unpraktisch. Manchmal ist momentan. Denn schon vor Monaten hat mich mein Vater eingeladen, gemeinsam mit ihm nach der Abgabe meiner Magisterarbeit für zwei Wochen in die Provence zu fahren. Etwas, worüber und worauf ich mich immens freue. Jetzt, wo die Tage hier verwaschener werden, grauer Regen lustlos gegen die Scheiben prasselt, freut es mich umso mehr, zwei Wochen lang sagen zu können: „Adieu, tristesse!“ Und nach der Fertigstellung des magistralen Mammutprojektes sind zwei Wochen „savoir vivre“ auch erlaubt und verdient. Morgen früh wird es auf die Reise gehen.

Nun hat sich der weitere, höchst erfreuliche Umstand ergeben, dass die Redaktion von Jetzt.de diese Seite für wert befunden hat, im Rennen um das so genannte „Blog-Stipendium“ mitzumischen, dessen Abstimmung jüngst auf Hochtouren läuft. Was zum Zeitpunkt der Urlaubsplanung nicht abzusehen war, knirscht jetzt im Gebälk: Urlaubs- und Abstimmungszeitraum überschneiden sich für einige Tage. Der umständliche Umstand, dass lediglich Einzelbeiträge – und nur diejenigen, die jünger als 24 Stunden sind – bewertet werden können, fordert implizit also, dass tagtäglich (bei manchen Autoren auch zigfach täglich) Beiträge ins Netz gestellt werden. Der Wunsch der Redaktion, leidenschaftliche Blogger für das Stipendium gewinnen zu wollen, hat in meinen Augen einigenorts nicht nur zu Leidenschaft sondern auch beinahe zu blindem Engagement, einem Drauflosschreiben im Wahn, zu einer Inflation des Unnötigen, zu lieblos hingeklatschten Beitragsfluten geführt. Das ist schade. Hinsichtlich der Abstimmung und des Abstimmungsmodus wäre ich also gezwungen, auch mitten in Südfrankreich aus dem Urlaub tagtäglich Internetcafés zu suchen, um von dort aus Texte einzuspeisen, will ich im Rennen um das heißbegehrte Stipendium nicht an Boden verlieren. Denn – wenn auch nur vorsichtig – klopft doch in mir eine leise Hoffnung und der heimliche Wunsch, zu denen zu gehören, deren Texte die Redaktion und/oder das Publikum für wert befinden, Stipendiat zu werden. Dies auch nicht zuletzt deshalb, weil der damit verbundene Gewinn einige finanzielle Sorgenfalten, die zuletzt meine Stirn überzogen haben, wieder glattstreichen könnte.

Nur weiß ich erstens nicht, ob ich dort ein Internetcafé vorfinden werde. Zweitens bin ich mir auch noch unsicher, wie häufig ich dort hingehen möchte, sollte es überhaupt eins geben. Zu lange habe ich hart an der Magisterarbeit geknabbert und mich damit immens unter Druck gesetzt. Und so groß die Chance und die Verlockung auch ist, mag ich jetzt noch nicht beurteilen, ob ich bei dreißig Grad in wunderschöner Umgebung mit guten Büchern im Gepäck und der Möglichkeit, endlich richtig auszuspannen, mir die Anspannung auflasten möchte, mich in dunkle Internetcafés zu hocken und das Erleben des Moments durch permanente Suche nach Schreibenswertem einzutrüben, um noch eine Chance im Wettlauf zu haben. Ich kann und will in meinem Leben mein Bloggen bestimmen, möchte aber nicht den Punkt erreichen, wo das Bloggen mein Leben bestimmt. Ich kann nur hoffen, dass die zahlreichen bisherigen Arbeiten hier der Jury einen Einblick in mein fleißiges Werkeln und die Schreibleidenschaft haben geben können, und dass auch ihnen die Texte gefallen. Freuen würde es mich enorm.

Selbstverständlich wird es hier nach dem Urlaub munter in gewohnter Frequenz weitersprudeln - selbstverständlich auch mit augenzwinkernden Urlaubsgeschichten. Vielleicht auch zwischendurch direkt von dort. Dass Schreiben mir viel Spaß bringt, ist nichts Neues; an Einfällen mangelt es mir auch nicht, und doch möchte ich die kommenden Wochen vor allem druckfrei genießen und bei aller Leidenschaft für’s Schreiben das Er-Leben zu kurz kommen lassen. „Leben, um davon zu erzählen“, heißt Gabriel Garcia Márquez’ Autobiographie zu Recht. In den nächsten zwei Wochen möchte ich vor allem leben. Ob ich es nebenher schaffen und Lust haben werde, direkt aus dem Urlaub zu erzählen, wissen bislang vielleicht schon die Sterne. Die haben mir aber noch nichts verraten.

Ein wenig kann man fast schon damit rechnen, dass was kommen wird. Nur wann, wie und wo, können nur die Umstände vor Ort ermöglichen und voraussagen lassen. Bleibt am Ball und lasst Euch überraschen!

Alles Käse?


Im Hinterhof einer Fromagerie in der Nähe des Quai des Orfèvres in Paris experimentierte Jean-Francois Laitcremé an der Erfindung eines überdimensionalen Hartkäseschneiders.

Sonntag, September 03, 2006

Musikalische Ausgrabungsfelder

Die Reifen quietschen. Der Zeitgeist knattert in halsbrecherischen Tempi vorwärts und überschlägt sich mit in Kurven, die er ungebremst ansteuert. Manches, das einst knackfrisch und brandheiß war, wird oft nur kurz von den Rädern des Zeitgeistes hochgeschleudert und erkaltet allzu schnell. Und so versinkt viel Wertvolles unter den Staubwolken, die der fortrasende Zeitgeist aufwirbelt. Dass dabei nicht nur viel Hervorragendes von der großen Menge unentdeckt bleibt, sondern selbst Entdecktes wieder in Vergessenheit versinkt, ist enorm bedauerlich.

Erfreulich ist aber, wenn beispielsweise musikalische Archäologen mit Baggern, Spaten, Pinseln und intuitivem Gespür ausrücken, um nach Spuren längst vergessener Perlen zu suchen und sie Erstaunliches wieder zu Tage fördern. Zu solchen tapferen Buddelkönigen gehören die Betreiber von Soulshower. Längst verstaubte Platten aus den Siebzigern, seltenste Sonderpressungen, Stücke aus Archivbeständen, deren Originale bei Bränden zerschmolzen sind, für immer verloren geglaubte und beinahe unfindbare Raritäten aus dem Soul- und Funksektor werden hier kostenlos - oft nur für kurze Zeit - zum Kennenlernen und Wiederentdecken angeboten.

Die überwiegenden Goldkrümel stammen aus der Zeit, als die kräusellockigen Haarhelme noch bis zu einem halben Meter vom Ohrläppchen abstanden, die Koteletten an den Schläfen fast so groß wie Rahsegel eines Windjammers wucherten, Schnurrbärte die Lippen überstrüppten, das strahlende Glitzern der Discokugeln noch unverbraucht war und gelenkige Menschen in seltsamen Anzügen über die Tanzflächen turnten: aus den Siebzigern. Hier erwachen verloren geglaubte Basslinien von Arthur Lee wieder zum Leben, zucken die Grooves Arthur Conley durchs Tabzbein, kitzelt die Stimme von Roberta Flack die Gänsehaut und erstaunen Dutzende von Bands, denen man nie auch nur den Hauch einer Existenz zugetraut hätte. Hier lohnt es sich, am (Mirror-)Ball zu bleiben und die Ausgrabungen zu durchstöbern (gerade, weil die Songs selten lange im Netz bleiben). Vieles in dieser besonderen Musikschatzkiste, was glänzt, ist wirklich Gold. Gerade für Fans des frühen Soul und Funk, für Neugierige und Seltenheitenforscher ist die "Seelendusche" ein kleines Paradies.

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Samstag, September 02, 2006

Musterungültig

"Um in meiner neuen Küche einen neuen Fußboden zu legen, hatte ich einhundertachtzig kleine Fliesen bestellt, und zwar neunzig orangene und neunzig graue."

Vikke rührt mit dem Olivenstocher durch seinen Martini.

"Der Maurer und sein Lehrling fuhren in einem grauen Lieferwagen vor und rammten zunächst einen Teil meiner kleinen Rhododendronhecke. Ich schwieg hierüber und gab ihnen vorab lediglich auf den Weg: 'Damit eins klar ist: Auf keinen Fall Muster oder Motive!' Sie entschuldigten sich für das Heckenmalheur und begannen flugs zu werkeln.

Zwei Stunden bemühten sie sich eifrig, in ihren blauen Kitteln eine Art pastellenes Kreuzworträtsel auszulegen. Bald klatschten sie verzweifelt ihre Werkzeuge in die Ecke, pressten die Lippen aufeinander und stemmten die Hände in die Hüften: Die Erfüllung meiner Weisung misslang ihnen ein ums andere Mal. Trotz allem Bemühen kristallisierten sich immer wieder unfreiwillig Muster heraus. Ich schlug vor, es einmal blind zu versuchen. Denn ich war der Überzeugung, dass so nach den Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung eigentlich kein Muster zu Stande kommen könne. Killefitt!"

Vikke kaut die Olive vom Stocher ab und wirft den Stocher in den Aschenbecher. Ich runzle die Stirn, er hebt weiter an:

"Meine zwei Handwerker bauten alle Fliesen zurück und begannen von vorn. Mit krampfhaft zusammengekniffenen Augen robbten die Beiden über den Küchenboden, doch kaum hatten sie begonnen, zeichneten sich die ersten Muster auf dem Boden ab. Wurden diese Hände von höheren Mächten zur Ordnung gezwungen, oder ist es wirklich unmöglich, etwas X-Beliebiges zu schaffen, ohne dass sich unerwünschte Muster, Motive oder Zusammenhänge entspinnen?

Ich entlohnte die zwei Verzweifelten dann trotzdem, zog ihnen allerdings die notwendigen Neuanpflanzungen in meiner Rhododendronhecke ab. Danach habe ich den Boden selbst verlegt. Alle orangenen Fliesen zu den orangenen, alle grauen zu den grauen. Genau auf die Grenze habe ich meinen Küchentisch gestellt." Ich entschuldige mich kurz und kurve zwischen Barhockern und verrauchten Leibern in Richtung Toilette. Sie ist, wie erwartet, gekachelt - ohne Muster. Komplett in weiß.

Die Provinzschleife

















In der Postfiliale um die Ecke hieven die Beamten die "Geschlossen"-Schilder auf ihre Schalter. Sekretärinnen schalten die Schreibmaschinen ab, rüsten sich für den Heimweg und schlüpfen in ihre Mäntel. Hausmeister verrammeln die Tore; in Bälde wird der Sicherheitsdienst dahinter auf Streife gehen. Junggesellen trommeln ihre Freunde auf ein Bierchen zusammen, während die Verheirateten sich lieber von einer Talkshow im Fernsehen berieseln lassen. Und doch werden wir alle heute wie morgen einsam bleiben.


"Tut mir Leid, meine Damen und Herren, Sie sind leider zu spät. Bitte begeben Sie sich zum Ausgang - wir schließen nun." In Kürze werden die Ampeln wieder automatisch auf Rot springen, sobald kein Verkehr aufkommt. Und schon gegen fünf wird alles rings um die hochgeklappten Bürgersteige reglos daliegen; auf den Straßen wird jeder dritte Wagen ein Taxi sein, und das scheuklappige Volk wird stumpf in den Betten liegen wie die betäubten weißen Mäuse in den Hochschul-Labors.


Nicht im Ansatz passiert je irgendetwas, nicht einmal die Spur dessen. Die Nadel springt zurück zum Anfang des Liedes und wir alle singen es immer wieder von vorne mit. Und doch werden wir alle heute wie morgen einsam bleiben.


Eingehende Anrufe in Telefonzentralen werden automatisch weitergeschaltet, ohne dass noch irgendwer zugegen wäre. Selbst wenn die Marsmenschen auf dem Parkplatz beim Rathaus landeten, würde sich niemand drum scheren. Überwachungskameras in Kaufhäusern drehen Tag für Tag denselben Film, und die Stars dieser Filme sterben nicht, noch werden sie ermordet, überleben nur die ewige Endlosschleife.


Nicht im Ansatz passiert je irgendetwas, nicht einmal die Spur dessen. Die Nadel springt zurück zum Anfang des Liedes und wir alle singen es immer wieder von vorne mit. Und doch werden wir alle heute wie morgen einsam bleiben.


Riesige Reklametafeln vor den Städten bewerben Produkte, die niemand benötigt, während ein Wütender aus Manchester in schummrigem Licht einen Beschwerdebrief gegen die endlosen Wiederholungen im Fernsehen tippt. Und Computerterminals verzeichnen einige Wertzuwächse für Kupfer und Zinn, während amerikanische Geschäftsmänner sich Van Goghs für den Preis eines Krankenhaustraktes unter den Nagel reißen.


Nicht im Ansatz passiert je irgendetwas, nicht einmal die Spur dessen. Um sechs werden sie die Synagogen niederbrennen, und wir werden trotzdem weiter machen wie bisher. Und so werden wir alle heute wie morgen einsam bleiben.


Frei übersetzt nach: Del Amitri - Nothing ever happens.

Freitag, September 01, 2006

Ich seh' im Text, was Du nicht siehst

Aus fremden Worten eigene werden lassen ohne die fremden Worte zu verfremden, darin liegt die Kunst des Übersetzers. So wie eifrige Hermeneutikerhorden als Wortalchemisten noch immer mit abenteuerlichen Theorie-Apparaturen den Stein der Weisen, die einzig "wahre" Bedeutung eines Textes herauszudestillieren suchen, gibt es auch immer neue Interpretationen von Bruckner-Sinfonien und immer neue Versuche, "die einzig wahre Übersetzung" eines fremdsprachigen Textes ins Deutsche zu vollbringen. Wenn, kann es nur näherungsweise gelingen. Oft sind die Unterschiede haarfein zwischen den Interpretationen, manchmal stoßen sie sich auch ab wie Gegenpole am Magneten. Wohl über zwanzig Übersetzungen ins Deutsche gibt es inzwischen allein von Flauberts Roman "Madame Bovary". Wagen wir einen Blick, schnappen uns den ersten Satz und schauen, was im Deutschen aus Flauberts Original geworden ist. Er selbst begann folgendermaßen:

"Nous étions à l’étude, quand le proviseur entra, suivi d’un nouveau habillé en bourgeois et un garçon de classe qui portait un grand pupitre. Ceux qui dormaient se réveillèrent, et chacun se leva comme surpris dans son travail."
Caroline Vollmann hat eine der neuesten Übersetzungen geliefert und wurde wegen ihrer Nähe zum Originaltext von diversen Flaubert-Philologen und dem deutschen Feuilleton mit Lobpreisungen überschüttet. Sie übersetzt Flauberts Auftakt so:

"Wir waren im Arbeitssaal, als der Direktor eintrat, ihm folgten ein Neuer in ziviler Kleidung und ein Schuldiener, der ein großes Pult trug. Wer schlief, wachte auf, und jeder erhob sich, als sei er in seiner Arbeit gestört worden."
Im Vergleich dazu liest Winterstein (1930) darin Folgendes:

"Wir waren eben noch im Lehrerzimmer bei unseren Aufgaben, als der Vizedirektor des Instituts brüsk eintrat und einen neuen Zögling hineingeleitete, der noch nicht die passende Uniform des Instituts, sondern einen gewöhnlichen Anzug trug; ein Schuldiener, ein großes Pult auf dem Rücken schleppend, folgte ihnen auf dem Fuße nach. Die Knaben, welche während des Unterrichts eingenickt waren, fuhren aus ihrem Halbschlummer empor und taten, als wenn sie durch die neue Erscheinung in ihrer Arbeit gestört worden wären."
Spannend ist nun, mit welcher Präzision Ernst Sander (1949) auch die kleinsten Details in Flauberts Vorlage aufspürte, die dem Auge eines Durchschnittslesers möglicherweise entgehen, dessen Kunst des Zwischendenzeilenlesens sich noch nicht zu voller Blüte entfaltet hat:

"Es war kurz nach halb zwei; der Studienaufseher wartete auf den kleinen Dreiviertelschlag und schickte sich an, die Arbeiten vorlesen zu lassen, als der Direktor in der Unterrichtsraum der 'Mittleren' trat; ihm folgten ein etwa fünfzehnjähriger Junge und ein Pedell, der ein großes Pult trug. Die geschlafen hatten, fuhren hoch. Geräuschvoll wurden Wörterbücher aufgeschlagen und die zugeklappten Hefte zu sich gezogen. Wer Männchen gezeichnet hatte, versteckte sie unter seinem Atlas; mehr als einer, der mit feuerroten Backen einen Schundroman verschlang, hatte nur noch Zeit, ihn zwischen seinem Rücken und der Wand zu Boden gleiten zu lassen. Wer sich mit nichts beschäftigte, tat, als schnitzele er sich eine Feder zurecht. Dann sprangen alle auf, als seien sie bei der Arbeit überrascht worden."
Man muss schon sehr genau hinsehen.