Montag, Juni 23, 2008

Nightswimming in Edinburgh (II)

Eine gruselfreudige Gruppe Touristen versammelt sich inmitten der düsteren Nebelschwaden unterhalb der gotischen Zinnen von St. Giles-Cathedral. Ein rabenschwarz gewandeter Stadtführer klemmt eine Taschenlampe unter sein Kinn, die Schlagschatten in sein Gesicht wirft, hält einen Totenschädel hoch, grollt und gurgelt unheilvoll, während er seinen Schützlingen einen Vorgeschmack auf die bevorstehenden (Er-)Schrecklichkeiten auf den nächtlichen Friedhöfen und in der Unterwelt von Edinburgh gibt. Amerikanische Hausfrauen quieken und kreischen ekstatisch. Noch ist überhaupt nichts Aufregendes passiert. Aber anscheinend sind sie sehr schreckhaft. Ich hingegen bin sehr durstig.

In einer steil bergabwärts kurvenden Seitenstraße der Royal Mile finde ich einen Pub – die „Scotman’s Lounge“. Wie Ölsardinen quetscht sich eine trinkfreudige Horde darin. Nur dass Ölsardinen nicht tanzen, juchzen, johlen und grölen. Ein Barde mit Gitarre singt inbrünstig alte Gassenhauer und Volksweisen, seine Silben knallen hart, das „R“ fliegt mit Flatterzunge vom Gaumen. Sein urschottischer Akzent beißt sich ein wenig mit seiner äußeren Erscheinung. Demnach könnte er ein vorzeitig ausgestiegenes Gründungsmitglied des mongolischen Oberton-Gesang-Ensembles „Huun Huur Tu“ sein. Er besingt alte Schlachten, spottet der englischen Königin, und sein Volk kreiselt über der Stelle, hakt sich unter, tanzt Ringelreihen, schwitzt und säuft vergnügt.




Halbleere Bierhumpen tummeln sich auf alten, angestrichenen Whiskyfässern, die als Tische dienen. Gestalten mit glasigen Blicken klammern sich daran, schwanken, plustern die Backen und atmen schwer. Doch gelingt es ihnen, den Arm zu recken und noch ein weiteres „XXXXXX“ zu ordern. Fotos von Dudelsack-Orchestern prangen an der Wand. Sie haben an Wettbewerben teilgenommen und sind gegen andere Dudelsack-Orchester angetreten. Irgendwer wird dabei gewonnen haben. Torkelnde Gestalten schieben sich nach draußen, rauchen, blicken trübe durch den inneren und äußeren Nebel hinein. Die Fensterscheiben sind beschlagen. Plötzlich platscht es außen an der Scheibe. Ein Sturztrunkener knallt mit dem Gesicht gegen das Glas, offene Wunden klaffen an seinen Wangen, sein Gesicht ist blutverschmiert, die Scheibe ist es danach ebenfalls. Irgendwo konnte anscheinend schon zuvor eine harte Oberfläche seinem fallenden Gesicht nicht rechtzeitig ausweichen.

Ein Strubbelbärtiger, dessen Rachen von Hochprozentigem gegerbt ist und der sich einige Zähne hat ziehen lassen, um Whisky mit geschlossenem Mund trinken zu können, zeigt – mit dem Arm eiernd – auf ein paar hüpfende, kreiselnde Frauen, die beim Tanz ihre Brüste schwingen. Schottland sei ein Busenparadies, hier gäbe es die großartigsten Titten der Welt. Ich nehme es zur Kenntnis. Die großartigsten Titten der Welt, die hier geschwungen werden, haben wahrscheinlich schon ein paar Runzeln, zumindest aber fünf Jahrzehnte auf dem Buckel. Der schottische Mongolenbarde ist beim „Wild Rover“ angekommen.



Vier Takte braucht der Betrunkenenchor, um das Lied zu erkennen. Dann grölt er aus voller Kehle die zweite Zeile mit: „…and I’ve spent all me money on whisky and beer“. Ansonsten beschränkt sich die Textkenntnis weitgehend auf „No, nay, never! No, nay, never, no more!“, die mit ähnlich glühender Inbrunst gegen die tiefe Holzdecke geschmettert werden. Daumen und Zeigefinger werden zum Pfeifen in den Mund gesteckt, aus manchen Winkeln rinnen Speichelfäden. Dann umarmen sie sich, stoßen an. Släintsch! Slaínte! Prost. Noch ne Runde, Wirt. Fast wie die Wikinger in Torfrocks „Rollo“: Wir saufen den Met, bis keiner mehr steht, unser Häuptling heißt rote Locke. Nur dass hier keiner Met säuft und auch keiner umfallen kann. Dazu steht die quietschvergnügt-besoffene Meute viel zu dicht gedrängt.

Gleichgewichtsprobleme werden erst auf dem Heimweg wieder ins Gewicht fallen. Diesen trete ich allmählich an. Noch längst nicht betrunken genug, aber der Blick auf die Uhr verrät, dass Mitternacht schon lange vorüber gezogen ist. Und morgen gibt es noch so viel Neues zu entdecken, dann, wenn der Nebel sich allmählich verzogen hat.

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Montag, Juni 09, 2008

Nightswimming in Edinburgh (I)



Zwischen den gusseisernen Zäunen an Princes Street führt eine Kopfsteinpflastertreppe durch den Nebel hinab in ein schwummriges Dunkel zu Füßen der St. Josephs Church. Ein Uhu flüstert, und ich steige über verwitterte Grabplatten. Fledermäuse flattern über meinen Kopf hinweg, während ich die Kamera aus der Tasche zerre, um aus der Düsternis heraus die Burg ins Bild zu bannen. Sind es mächtige Scheinwerfer, die sie grünlich anstrahlen? Oder sind es nicht doch die misstrauischen Augen einer riesenhaften Katze, auf deren Buckel die Burg und ein Teil der Altstadt sich niederlassen? Es dröhnt und grollt tief, die Grabplatten auf denen ich stehe, zittern. Noch weiß ich nicht, dass in einer schmalen Furche unterhalb des steilen Burgfelsens Dieseltriebwagen der schottischen Eisenbahn rollen. Allem Grollen zum Trotz hält die Katze still, blickt stoisch durch das milchige Dunkel, springt nicht fort – die kostbaren alten Gebäude der Altstadt abwerfend.

Ich klettere wieder hinauf und spaziere unter dem Blütengewirr der Kirschbäume hindurch, die am Rande Spalier stehen, gehe an den massiven Säulen der Nationalgalerie vorbei und die Straße hinauf, die sich in die Altstadt windet. „Look right“ ist mit dicker weißer Farbe auf die Fahrbahnen an den Ampeln getüncht. Und von rechts rumpelt ein schwarzes Taxi durch die feuchtklebrige Nacht. Wie ausgestorben wirkt die „Royal mile“, die berühmteste Kopfsteinpflasterstraße der Stadt, die sich vom Burgvorhof sanft absinkend bis zum königlichen Palast erstreckt. Noch sind es nur lose Wahrnehmungsfetzen. Jeder Augenblick prägt sich ein, als seien die Augenlider weggeschnitten, hinterlässt Spuren, Einzelflicken reihen sich, formen sich ganz langsam, ehe sie – weit später – zu einem klareren Bild zusammenwachsen. Erst allmählich ziehe ich meine unsichtbaren Fäden in der neuen Stadt, verwandeln sich beschreibende Schriftzeichen im Reiseführer in eigene Wahrnehmungen.

Kaum Touristen bummeln durch das neblige Dunkel. Warmes Licht schimmert durch wenige Vorhänge in den oberen Stockwerken, die meisten Fenster schlafen. Die Innenhöfe gestehen dem Himmel ihre Leere. Niemand nimmt die engen, verwinkelten Stiegen zwischen den steil aufragenden Häusern. Aus einem offenen Flur riecht es nach Kühle und schalem Bier. Motten schwirren im buttermilchigen Licht der Straßenlaternen. Ein paar Geister umspuken lautlos die St. Giles-Kathedrale mit ihren rußschwarzen Zinnen, huschen um die Statue des großen Denkers David Hume und verschwinden wieder – zu wenig Gesichter, die sich erschrecken ließen.



Ich schlendere allmählich die Flaniermeile hinab. In polierten Restaurants sitzen einsame Nachtschwärmer und lassen ihren Cocktail schal werden, während sie in ihrem Handy das Adressbuch durchforsten, um am Ende doch niemanden anzurufen und ihr Telefon seufzend wieder auf den Tisch zu legen und die Decke anzustarren. Spielautomaten blinken, an denen niemand sitzt. Eine Alte hockt geduckt an einer Mauer, der Nebel verdeckt den kleinen Hut und das Pappschild, die vor ihr auf dem Boden liegen. Ihr Gesicht lässt sich zusammenziehen wie der Balg einer Zieharmonika. Alle Augenblicke legt eine weinerliche Grimasse diese Zieharmonika in tausend Querfalten, als eine kleine Münze von mir in ihrem Hut landet, zieht das dankbare Erstaunen die Zieharmonika wieder auseinander, glättet die Falten, enthüllt die Schlitze der winzigen Augen und das feuchte Zahnfleisch mit den gelben Zähnen unter der fleischigen Oberlippe.

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Donnerstag, Juni 05, 2008



Schotten haben ein feines Gespür für generationenübergreifende Rücksicht und den Schutz des Lebens in allen Alterslagen. Zäune am Straßenrand - wie bei Krötenwanderungen - sieht man in den Städten bislang noch selten, es sei denn, es werden Straßen (um)gebaut.