Mittwoch, Januar 25, 2012

Mit acht oder neun?


Morgens, wenn das Tal noch unter der Nebeldecke schlief, kletterte er aus dem Bett in die Dunkelheit seines Hauses. Riss ein Streichholz an, und mit einer flackernden Kerze in der Hand, die er mit den Fingern der anderen vor Windböen beschirmte, humpelte er in den Stall. Er warf den Schweinen im Koben ein paar Möhren hin und sah ihnen zu, wie sie schmatzend und grunzend ihre Rüssel in den Schlamm bohrten, der schwappte und klatschte. Dem Pferd im Stall strich er zart über die Nüstern, zupfte einen Heuballen auseinander, um ihm sein Frühstück zu geben. "Es greift mir ans Herz, Dir ein kaltes zu geben, aber es ist nicht zu ändern", sagte er oft, ehe er auch seine Kuh besuchte. Für die schnitt er ein oder zwei Kürbisse auf, setzte sich auf einen alten, abgewetzten Melkschemel und sah ihr zu, wie sie sanft und anmutig mit den Kiefern malmte, am Fruchtfleisch schlürfte. So saß er dann oft eine halbe Stunde oder länger. So früh war kaum jemand wach, der ihn rufen konnte. Und während er saß, kamen plötzlich alte Bilder wieder. Wie ihm einst die Badehose im Freibad geplatzt und er fast ertrunken war. Beim Turmspringen war er abgestürzt wie eine riesige Kartoffel und mit dumpfem Knall aufs Wasser geklatscht. Über seinem Kopf schlugen die Wellen zusammen, prasselnd zerfiel die Fontäne, Wasser schwappte über den Beckenrand, und der Schwimmmeister hatte ihn mit einem Ring an einer Eisenstange aus dem Wasser gefischt. Prustend, Wasser spuckend, nach Luft japsend war er aus dem Wasser getaucht, hatte sich mühsam an den Beckenrand geklammert, während die anderen Kinder seine zerfetzte Badehose "Iiih" schreiend in ein Gebüsch warfen. Er hatte sich nicht mehr aus dem Wasser getraut. Niemand sollte ihn so sehen. Er war so lange im Wasser geblieben, bis der Abend dunkelte, das Becken sich leerte und und seine Haut - von schrumpligen Rillen zerfurcht - aussah wie das Wattenmeer bei Ebbe. Dies alles dachte er, während seine Kuh die Kürbisschnitzel vertilgte, und er fragte sich: "Wann habe ich eigentlich mein Seepferdchen gemacht - mit acht oder neun?"

8 Wortmeldung(en):

Anonymous Sofasophia meint...

ich frag mich, ob das seepferdchen auf ebendiese badehose genäht worden war (vor dem platzen, meine ich) von seiner mutter, gotthabsieselig. oder bereits auf die neue, die schöne blaue, die ihm sein patenonkel zu weihnachten geschenkt hatte. und die ihm im sommer darauf schon fast zu klein gewesen war.

26/1/12 18:52

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Wenn man das so genau wüsste. (Ich für meinen Teil habe nie irgendein Schwimmabzeichen je auf eine Badehose genäht und auch nicht nähen lassen, aber um mich geht's hier ja auch gar nicht.) :)

26/1/12 21:22

 
Blogger mkh meint...

Zwei Geschichten in einer - und ich finde, es ist ebenso anrührend, wie er sich heute um seine Tiere sorgt und es so mitfühlend bedauert, dass Madame Kuh nur ein kaltes Frühstück bekommt, wie es tief nachempfunden werden kann, dass sich der acht- oder neunjährige Junge seinerzeit nicht mehr aus dem Wasser getraut und dabei vielleicht eine der schicksalweisendsten Erfahrungen seines Lebens machen musste -, das gefällt mir.

29/1/12 19:21

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

's ist gewissermaßen das Head&Shoulders unter den Geschichten, hier. Oder wie hieß dieses 2in1 Duschgelshampoo noch? :)

Danke.

30/1/12 13:53

 
Blogger mq meint...

Der Mut zum Absprung ist entscheidend, und wenn man den Fall lebend übersteht, kommt es darauf an, den Untiefen aufrecht zu entsteigen. Egal, wie nackt und verletzt man ist.

31/1/12 21:57

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Verflixt wahre Worte!

31/1/12 22:07

 
Anonymous novesia meint...

Dieses plötzliche Auftauchen von Erinnerungen in völlig anderen Situationen - ein Fest für die Seelenkunde.
Wie immer wunderbar in Worte gefasst!

1/2/12 06:21

 
Anonymous gutscheine zum ausdrucken meint...

sehr guter Beitrag

18/12/12 13:12

 

Kommentar veröffentlichen

<< Home