Donnerstag, August 31, 2006

Ein Schwank aus Wulnikowskis Jugend (II)

Für V.

Wulnikowskis Stiefel schmatzten. Pfützenwasser durchdrang die Risse im Leder, ein Absatz drohte sich zu lösen; Lehmklumpen zerrten daran. Der Schnee war inzwischen geschmolzen, doch noch war der Frühling kalt. Kleine Nebelbänke schlangen sich um Eichen- und Pappelgruppen. Nicht gerade das erhoffte Wetter für die meilenweiten Fußmärsche auf ungepflasterten Feldwegen über Land. Immerhin regnete es nicht. Es hatte das große Geschäft werden sollen, doch gaben sich bislang nur Misserfolg und enttäuschungen in munterer Reihenfolge die Pranke.

Rechts des Weges pflanzte ein knorriger Landwirt Runkelrüben. Mürrisch hob er seinen verbeulten Hut zum Gruß, Wulnikowski erwiderte. Hinter der Hügelkuppe am Horizont kringelten sich seidige Rauchschwaden zwischen Baumwipfeln und verrieten eine Siedlung. Vielleicht ließ sich wenigstens hier ein kleines Geschäft machen. Und sei es nur ein einziges. Das allein wäre mehr als in den vergangenen drei Tagen zusammen.

Einen "irrwitzig lukrativen Deal" hatte es der GI genannt, als ihm Wulnikowski wenige Wochen zuvor beim Krämer um die Ecke begegnet war, und ihn zu einer Lagerhalle am Stadtrand geführt. Doch der einzige Irrwitz, der Wulnikowski bislang hierbei begegnet war, lag in seiner eigenen Gutgläubigkeit. Vielleicht hätte er sich doch vorher schlau machen sollen. Was half es?

"Fitness ist der kommende Trend", hatte ihm der GI ins Ohr geflötet.
"Fitness?" Wulnikowskis Stirn hatte Falten geschlagen.
"Schlank und lebendig bleiben durch Bewegung! Jeder will schlank und knackig bleiben oder wieder schlank werden, wenn die Schenkel zu schwabbeln beginnen, der Bauch sich wölbt und der Hintern erschlafft. Und dagegen hilft nichts besser als dies! Sie werden es Dir begeistert aus den Händen reißen! In den USA nutzt es inzwischen so gut wie jeder. Und gerade die alten, pummeligen Frauen auf dem Land werden es lieben!" Wulnikowski war kurz zusammengezuckt, weil es den Landfrauen gegenüber so abschätzig klang, aber der GI hatte ihn überzeugt. So hatte er sich einen Teil seines Erbes vorzeitig ausbezahlen lassen und von dem seltsamen Amerikaner vier Dutzend Wunderdinger "zum Schnäppchenpreis" erstanden.

Nun schlurfte er seit einer Woche zu Fuß über die matschigen Feldwege der schwäbischen Alb, klapperte Dorf für Dorf ab. Ein Moped besaß er nicht, ein Auto schon gar nicht. Wandelnden Latrinen war er begegnet, früh vergreisten Fettbergen in Kittelschürze, adipösen Backfischen und wuchtigen Hausherren. Doch argwöhnische Blicke waren meist noch die freundlichsten Reaktionen, die ihm entgegen schlugen. Niemand interessierte sich hier für die revolutionären Erfindungen aus Amerika in seinem Seesack.

Und dass dieser unverschämte Spargeltarzan mit seinem Oberlippenflaum, einem Sack auf dem Rücken und einem seltsamen Pappkoffer in der Hand auch nur für möglich hielt, sie könnten dieses Fitdings nötig haben oder gar eine Diät... Frechheit! So hetzten manche gar die Hofhunde auf ihn oder schlugen ihn mit dem Kehrbesen in die Flucht. Vierzehn Dörfer waren es nun, die er bislang abgeklappert hatte; ein einziger Verkauf stand bislang zu Buche. Nur zwei Prozent der ach so profitablen Ware hatte er verkaufen können. Doch vielleicht würde sich ja im nächsten Dorf endlich jemand finden, der den erstaunlichen Erfindungen aus Amerika gegenüber neugierig war? Seine Hoffnung diesbezüglich zerbröselte allmählich. Die Schwäbische Alb schien kein fruchtbares Pflaster zu sein für Hula-Hoop-Reifen.

Hier Teil 1 lesen.

Labels:

Nicht das Bermuda-Dreieck



















Joke de Buhr lag aufgeschlagen auf dem Schreibtisch,
doch entschied ich mich, weiter im Adressbuch zu blättern.
Freerk war nicht da, bei Sievert war besetzt, Klaas kochte
gerade Kaffee, warum ich denn aber nicht einfach

rüberkäme, fragte er. Ich hatte eine alte Scheibe
von Björk, sie sang 'Gling Gló', auf meinem Discman,
und die Sonne trocknete die feuchten Ziegel auf
den Dächern. Ich ging ohne zu klingeln hinein,

er war noch immer weder angezogen noch rasiert, als wir
den Kaffee mit dem Scotch seines Vaters frisierten
(es war erst halb zehn am Vormittag, aber was soll's?)
und die Tageszeitungen mit auf die Terasse nahmen.

Aus den Radioboxen trällerte Nina Simone. Ich
wollte gerade zum Fußball übergehen, als er
fragte: "Hilfst Du mir den Misthaufen umschichten?"
Ich nahm einen Schluck und sagte: "Klar, Klaas."

Mittwoch, August 30, 2006

Der große Herr verliert fast die Fassung

Heute nacht habe ich mit Benjamin Franklin gesprochen.

* * *

Er hüpft inmitten eines wütenden Gewitters über die Aaseewiesen und rennt mit einer Perlonschnurspindel in Händen hinter seinem Papierdrachen her, in dem eine Batterie steckt. Ich bin erstaunt; er besitzt gelinde Ähnlichkeit mit Rumpelstilzchen und spricht Hochdeutsch mit ostpreußischem Akzent.

"Mein Junge, was tust Du inmitten des Unwetters mit diesem seltsam zusammengeflickten Luftballon?"
"Ich suche das Anmeldebüro für die Montgolfiade."
"Die hast Du wohl verpasst. Sie war am vergangenen Wochenende. Aber sag, magst Du mir Deinen hässlichen Ballon für die Forschung überlassen? Und woher bekommt man so einen grässliches Modell?"
"Versprichst Du, es nicht zu verraten?"
"Blitzableiter-Ehrenwort!"


Er befestigt seine Spindel mit einem Stahlbolzen als Häring im Boden. Dann stellen wir unter das dichte Blätterwerk einer Blutbuche, da uns der Regen über den Nacken schon den Steiß hinab rinnt, und ich erzähle.

* * *

Ich war im Zug nach Brescia einem Schwarzmagier begegnet, der sich Nemesio nannte und mir unaufgefordert, aber voller Stolz vorschwärmte, er habe "den Durchbruch erzielt". Die Revolution! Ihm sei es gelungen, mit der Asche von zwei verbrannten Lämmern, einer Prise Bilsenkraut, wenigen Zweigen Kirschbaumholz und drei Ingwerwurzeln ein Feuer erschaffen, dass es ermöglicht, gesuchte Menschen aus ihren aktuellen Geschichten zu reißen und an jeden gewünschten Ort zu teleportieren. Ich gab mich interessiert und flüsterte ihm von meinem Raddiebstahl. "Lass uns den Schuft finden", hatte er gekrächzt und mich mit in seine finstere Heimstatt genommen, in der es gräuslich nach verbranntem Haar stank

Nemesio zückte ein gell leuchtendes Stück Kreide und kratzte drei konzentrische Kreise auf den Boden, in die er seltsame Zeichen und Namen längst verstorbener Herrscher kritzelte. Dann murmelte er verwirrende Lautfolgen, wedelte mit den Armen wüst durch die Luft, wuchtete eine riesige Urne vom Kaminsims und fischte mit einem Löffel dicke Staubflocken heraus.
"Das ist die Asche der Lämmer", knarzte er. Er verschwand kurz in einem gedrungenen Nebenraum und kam mit gewundenen Kirschbaumzweigen, kleinen Ingwerwurzeln und einem Jutesäckchen zurück, indem womöglich das Bilsenkraut steckte. Er schichtete die Ingredenzien übereinander, schlug einen Funken, erweckte die Glut mit sanftem Pusten zum Leben und übertanzte die flackernden Flammen. Sein Mantelsaum fing dabei Feuer. Ich sprang darauf und erstickte sie.

Plötzlich, inmitten der prasselnden Flammen, erschien ein schrumpelnasiger Widerling, safrangelber Haut, Schlitzaugen und einem David Niven-Schnurrbart. "Dein Fahrrad bekommst Du nicht wied...", begann er zu bollern. Da hechtete ich schon auf ihn, zückte mein Schweizer Armeemesser und rammte es in seinen Unterleib und schlitzte ihn auf. Metallisch riechendes Blut spritzte, und ich rupfte ihm, von Wut durchbrodelt seine Blase aus dem Leib, zerschnitt alle Verbindungen mit dem Messer. Er röchelte, wimmerte, blutete in seiner Lache, doch ich wandte ihm den Rücken zu, dankte Nemesio und ging.

Ich betrat eine Näherei in der Nebengasse und bat die hutzelige Näherin, alle Öffnungen der Blase sauber zu vernähen bis auf die unterste. Sie tat wie geheißen, und so war ich zu meinem kleinen Heißluftballon gekommen.


* * *

"Jetzt brauche ich nur noch etwa 10.000 Liter Rauchgas, um damit fliegen zu können", sagte ich mit verschmitzt funkelnden Augen. Benjamin Franklin hält sich die Hand vor den Mund und atmet schwer. Sein Gesicht ist plötzlich ergrünt. Schweißperlen glitzern auf seiner Stirn. Ein Hauch von Entsetzen umspielt seine Gesichtszüge. "Du hast ihm einfach die...?", beginnt er eine Frage, ehe er wieder Luft holt. "Ich fürchte schon", kann ich gerade noch antworten, ehe der Wecker alle Bilder zersplittern lässt und mich in den neuen Tag schleudert.

Montag, August 28, 2006

Finger auf Busglas

















Ein leises Seufzen weicht von meinen Lippen, als die Haustür hinter mir ins Schloss fällt. Zum ersten Mal seit Monaten lehne ich wieder am Blechmülleimer vor dem Immobilienbüro, um auf die 14 zu warten. Zum ersten Mal seit langer Zeit zücke ich meinen Studentenausweis für einen Busfahrer. Drinnen schwitzen dicht gedrängte Gestalten. Die alte Frau mir gegenüber fährt sich durch die Haare. Ihre Dauerwelle hat unter dem heftigen Regen gelitten. Ihre wulstigen Lippen sind verkrustet. Womöglich, weil sie unentwegt darauf kaut. Sie steckt in einem riesigblauen Regencape, erinnert entfernt an einen großen Sitzsack. Gedankenverloren starre ich durch die beschlagenen Scheiben. Ein kleiner Junge malt darauf Blitze mit dem Zeigefinger. Er ragt kaum über die Sitzlehne hinaus, auf der er seitenverkehrt hockt. Dann quietscht er vergnügt zum grauen Hornbrillenträger in der Reihe hinter ihm: "Du, Onkel?" Der graue Onkel rückt seine Brille zurecht und blickt erstaunt von der Zeitung auf, in die er vertieft war. "Ja?" "Das hat ganz doll geknallt - gestern bei uns'rem Haus. Ein Gewiwitter." "Oh. Und hast Du Angst davor bekommen?" "Nee." Der Kleine grinst verschmitzt. "Wir haben doch einen Glitzergleiter." "Einen was?" "Einen Glitzergleiter. Wenn der Blitz auf unser Haus draufschlägt, geht er da rein und dann passiert unserem Haus nix." "Ach, Du meinst einen Blitz-Ableiter!" "Ja, genau. Hast Du auch einen?"

Sonntag, August 27, 2006

Foul is not fair!

Woher Du seist und kommst, oh Fremdling, sprich!
Ich würd' Dir gern, um Tacheles zu sprechen,
Die Nase und auch alles And're brechen!
Dann lernst Du Deinen Rächer kennen: mich!


Was kann man über ein Hollandrad sagen, dass nach anderthalb Jahren stumpf gestohlen worden ist? Dass es so treu war wie kaum ein anderes, dass es tapfer dem Kopfsteinpflaster trotzte und seine Reifen die Luft länger hielten als jedes Rad, was ich zuvor besessen habe. Dass es geschmeidig wie eine Pythonschlage durch die Häuserschluchten glitt und seine teekannenförmige Klingel mich im Alltag zum Schmunzeln brachte, wenn es galt, träge Radler aus dem Fahrtweg zu bitten. Dass es mich stets sicher und flink quer durch die Stadt gebracht hat. Vorerst nicht wieder, fürchte ich.

Eine seltsam mulmige Vorahnung flackerte in mir auf und hieß mich, mein Fahrrad lieber in den finsteren Innenhof zu stellen, als ich kurz nach Mitternacht den Ort der Abschiedsparty von zwei guten Freunden erreichte, die nach Japan und Leipzig entschwinden. Doch mein gesundes Urvertrauen gähnte nur "och..." Und so schloss ich mein Rad sorgsam inmitten eines Fahrradpulks vor einem japanischen Restaurant am Friedrich-Ebert-Platz ab, um zwei Stockwerke darüber zu feiern und zu verabschieden. Eine Abschiedsparty wurde es darüber hinaus für mein Rad. Nur habe ich nicht "Tschüs" sagen können. Definitiv ein Abschied mehr als nötig. Lange Finger haben es gekrallt und verschleppt, um es woanders aufzubrechen. Sich dreist vergriffen an dem, was mir teuer war und noch ist. Eine halbe Stunde habe ich das gesamte Gebiet abgesucht. Mehrfach. Es ist nicht umgestellt worden, es ist futsch. So sehr ich Überraschungen auch mag. Diese abscheuliche Sorte zählt wahrlich nicht dazu! Und so krallt sich mein Blick zurzeit an jedes Herrenrad der Stadt, sucht in neurotischer Akribie nach potenziellen Ähnlichkeiten, immer zum Absprung bereit, immer auf dem Kiewief, denjenigen mit einer Hechtrolle vom Sattel zu holen.

Wer auch immer ein graues Gazelle "Gelria" Herrenrad mit leichter Kerbe unten im Kettenschutz, einem schwarzen Plastikring an der Sattelstange und - wenn sie nicht abgeschraubt wurde - einer Teekesselklingel mit fremdem Fahrer (oder gar ohne) auf Münsters Straßen erblickt, möge geistesgegenwärtig handeln und/oder mir wenigstens Bescheid sagen. Auch wenn die Hoffnung nur schwach flackert. Zu groß ist die Stadt, zu klein die Chance.

Freitag, August 25, 2006

Murphyesken und Musik

Scharen weißer Möwen zersplittern das Grau des Himmels. Kalte Tropfenkaskaden stürzen – von meinem Unwillen unberührt - auf mich herab, kleben Haare in die Stirn, bilden eisige Rinnsale, die den Rücken hinabkullern. Ein kleiner Blondschopf wirft ein selbstgefaltetes Papierboot in den Liffey. Doch der Regen durchnässt es noch im Abwärtsflug. Es kentert, sobald es das Wasser erreicht hat und versinkt in graugemütlichen Fluten. Ich schlage den Mantelkragen enger um den Hals, schlendere ein Stück flussaufwärts und biege in eine schmale Kopfsteinpflastergasse Richtung Temple Bar. Zwei uniformierte Schuljungen üben in einer Seitengasse Schwertkampf mit ihren Hurlingschlägern. Eine abgewetzte Schöne mit rübenfarbenen Locken lehnt vor dem Auld Dubliner und raucht. Trotz des Eisregens trägt sie Minirock. Ihre bloßen Beine zittern leicht. Sie ist nicht die Einzige, die hier frierend vor den Pubs steht und raucht – trotz Wintereinbruch in knappsten Klamotten. Vielleicht nur privat, vielleicht auch mit geschäftlichen Absichten?

Drinnen hocken drei Kavenzmänner am Tresen und verflüssigen ihren Wochenlohn. Auch ich gönne mir ein Guinness, nehme einen kräftigen Schluck und lecke den torfigen Schaum aus den Mundwinkeln. Ein besonderes Verhältnis scheinen Iren indes zum Körperduft zu pflegen. Denn an die Wand der Herrentoilette geschraubt, hängt „Rent-a-scent“. Ein Blechkasten mit einem Münzschlitz und vier Knöpfen, die von unzähligen Daumen glatt poliert glänzen. Darunter vier stählerne Zerstäuberdüsen. So kann, wer den Pub direkt auf dem Heimweg ansteuert, noch flink den Geruch des Alltags überdecken und sich in süßere Wolken hüllen, falls plötzlich die Frau der Träume erscheint.
Nach einem Pint lege ich zwei Münzen auf den Tresen und ziehe weiter. So kräftig das Wetter manche Fassaden zerschlissen und abgewetzt hat, so freudig sich die Regenwolkentürme hier entladen, nachdem sie kilometerweit zuvor nur ins Wasser regnen konnten, so grau und düster das Licht erscheint: Die Stadt sie lebt, sie singt und tanzt. Gegenüber dem Auld Dubliner schrabbelt ein vollbärtiger Schmerbauch Tenacious Ds „Fuck her gently“. Ein blasser Zwerg begleitet ihn als Schlagzeuger auf einer indischen Teekiste. Zwei der Minirockdamen singen mit und tanzen mit Stöckelschuhen über das verregnete Kopfsteinpflaster. Und nicht nur hier. Ich schlurfe weiter in Richtung Grafton Street und wundere mich, ob sich auch in Deutschland ein Versicherungsbüro namens „Murphy Insurances“ etablieren könnte ohne beargwöhnt zu werden. Eine Ecke weiter krümmt sich eine alte Vettel in einem schwarzen Umhang auf einem Klappschemel. „Miss Murphy – Fortune teller“ prangt auf einem handgemalten Schild über ihr. Die Sorge, dass schief gehen könnte, was sie mir prophezeit, hält mich von ihrem Blick in meine Zukunft ab.

Ich lasse die Murphys hinter mir und erreiche die Dubliner Einlaufsmeile, behängt mit geschwungenem Tannengrün. Übermorgen ist der zweite Advent. Ein schiefäugiger Herr mit einem Gesicht wie ein beleidigter Engel verkauft Marienbilder aus seinem Bauchladen. Sie finden reißenden Absatz. Einige Meter weiter wieder Musik. Drei junge Wilde schmettern alte irische Gassenhauer, turnen und hüpfen über die Straße, fetzen über ihre abgegriffenen Instrumente. Schnell bildet sich ein Schaulustigenkreis. In dessen Mitte torkelt ein Greis. Schlaff hängen seine Gesichtszüge, sein Teint erinnert an schales Porter. Doch er lacht. Von seinen Zähnen sind nur Stumpen geblieben, doch er lacht. Seine Augen funkeln vor Glück. Und plötzlich beginnt er, der kleine Greis, zu tanzen. Und er singt. Eher lallt er. Unmengen von „des Teufels Buttermilch“ müssen seine Kehle zuvor hinab geflossen sein. Aber er tanzt. Sturzbetrunkenes Glück. Der Pulk um den Alten wächst und schart sich enger um ihn. Er freut sich, posiert, tanzt, winkt mit den Armen, um die Menge anzufeuern. Er torkelt, fällt fast. Aber ein anderer Herr fängt ihn auf, hakt sich ein und tanzt mit ihm zusammen. Eine Dame in grünem Samtkleid schmeißt ihre Schuhe beiseite und springt hinzu. Binnen Minuten tanzt auf fünfzig Metern die ganze Innenstadt, singt, nimmt sich in den Arm und schunkelt. Mitten unter grauen Wolken, überschüttet von eiskaltem Regen pulsiert das Leben. Mag sich der Himmel auch verdüstern, machen wir einfach das Beste daraus. Das Volk zeigt dem Mistwetter die kalte Schulter und feiert trotzig eine Viertelstunde lang. Dann zerfasert die Menge wieder und läuft mit einem Lächeln auseinander. Die magischsten Momente erwischen Dich ohne Vorwarnung.

Labels:

Großartige Musik für neugierige Ohren - Bonus Material

Der letzte Rundumschlag mit unzähligen Musiktipps duftet noch knusprig, und schon gibt es noch einen kleinen Nachschlag in punkto Weakerthans. Ohren gespitzt. Denn hier gibt es hervorragende Live-Aufnahmen aus Toronto zum kostenlosen Runterladen, darunter auch einige der knackfrischen neuen Songs, beispielsweise das traumschöne "Night windows".

Labels:

Donnerstag, August 24, 2006

Das große Theater (I)

Im Walde von Toulouse,
da haust ein Räuberpack,
da haust ein Räuberpack,
schnedderengpengpeng,
schnedderengperline,
da haust ein Räuberpack,
schneddereng pengpeng
schneddereng pengpeng!


Schwippschwapp!
Zerfranste Pinselborsten wischen über die Wellpappenporen und verkleben sie mit grüner Farbe. Für die Blätter der Kronen. Und mit brauner. Die ist für die Stämme. Die zweite Klasse bastelt einen Pappwald. Ralf taucht den Pinsel tief ins Grün, grinst, schüttelt ihn und besprenkelt dann Caro. Ein paar Spritzer fliegen auch in die Augen. Caro kreischt auf, Tränen kullern die Wangen herab und heulend rennt sie zu Frau Baselitz, in deren Rock sie ihr Gesicht vergräbt. Dabei bleibt sie mit dem Fuß an einem Farbeimer hängen. Eine braune Pfütze schwappt über die Linoleumfliesen und breitet sich langsam aus. Olli quiekt: "Haha! Caro sieht aus wie das Sams!" Frau Baselitz schickt Jan zum Hausmeister, um einen Wischmob zu besorgen.

Krack!
Sven versucht derweil Heini mit dessen Füller zu erklären, wie die Krummhörn aussieht, hat dabei aber die mangelnde Biegsamkeit nicht bedacht. Der Füller bricht entzwei. Tinte läuft aus. Heini schreit und schubst Sven samt Stuhl um. Rumms!

Knister!
Wiebke knüllt heimlich kleine Tesafilmschnipsel zusammen: Ihre große Schwester, die schon einen Freund hat, sagt nämlich, dass Barbie sonst krank werden kann, wenn sie keine Kondome benutzt und hat ihr so einen echten Luftballon gezeigt. Und da Ken so klein ist, kriegt er Tesafilmkondome für seinen Pillemann. Auch wenn man den gar nicht wirklich erkennen kann. Jan kommt zurückgesaust und stolpert fast über den großen Wischmob, der ihn um drei Käsehöhen überragt. Frau Baselitz füllt Wasser in einen Eimer und kniet nieder, um die braune Suppe aufzuwischen, bevor sie trocknet und pustet dabei Haarsträhnen aus ihrer Stirn.

Klingelingeling.
Die Stunde ist vorbei. Frau Baselitz pfeift André zurück, der nicht aufgeräumt und noch nichtmal seinen Stuhl hochgestellt hat. "Ich freu mich schon auf morgen", flüstert Anne ins Ohr von Yvonne und kichert. Denn morgen wird geprobt. Das erste Mal mit Kulisse.

Mittwoch, August 23, 2006

Moderne Minne

Bezwinge die Stürme des Herzens oh Hirn
und dämme die finsteren Fluten.
Der Blick geht aufwärts zum Himmelsgestirn
das Herz kann nicht enden zu bluten

Die Schönheit der Chance schien so groß wie schon lang
nicht gewesen - und doch kam es bitter,
Verzweifelt, chancenlos, traurig, gekrümmt
hockt auf pechschwarzen Stufen der Ritter.

Die Rose im Mund, die er schenken gewollt,
ist verdorrt, faul, verwelkt, jäh gestorben,
grad schien das Glück greifbar, es leuchtete hold,
doch er hat - scheint's - umsonst so geworben.

Dienstag, August 22, 2006

Großartige Musik für neugierige Ohren - der Rundumschlag (II)

Nun, wo die Magisterarbeit in staubigen Büros des Prüfungsamt darauf wartet, den Gutachtern zugestellt zu werden, ist endlich wieder einmal Zeit sich anderen wichtigen Dingen im Leben zu widmen. Eine davon, die in den letzten Wochen doch recht kurz kam, ist Musik. Endlich ist einmal wieder genug Zeit gewesen, um durch's Netz zu wuseln und nach legalen Songs zu forschen von Künstlern und Bands, die mir am Herzen liegen. Nach Teil 1 aus dem März nun die nächste Chance für Euch, vielleicht das ein oder andere Unbekannte neu für Euch zu entdecken, den musikalischen Horizont um ein paar Facetten zu erweitern und ein wenig zu stöbern. Und wenn's gefällt, vielleicht auch dann sogar einen (ebenso legalen, versteht sich) Plattenerwerb anzudenken.

Rockkelle

Immer noch viel zu unbekannt sind meine Lieblingskanadier von den Weakerthans. Wer bessere Texte in der englischsprachigen Rockmusik finden will, muss fürwahr verdammt lange suchen ohne Garantie, fündig zu werden. Und auch musikalisch sind sie eine hochpoetische Wucht. Zum reinhören gibt es hier Plea from a cat called virtue von der famosen "Reconstruction site" und eine Live-Aufnahme aus Münster (!) von Our retired explorer (dining with Foucault). Auch bislang erst in vergleichsweise wenige Gehörgänge eingedrungen sind Dredg, auch wenn sie inzwischen zu Recht den Ast geschwinde hinaufsteigen. Hier ist der - noch recht rohe, aber sehr großartige - Opener ihres allerersten Albums "Leitmotif" (1998), der Symbol Song . Die neuen Helden des "Glum-Rock" (was immer das auch sein mag) sind Morning Runner. Eine Erkundungsreise in glumrockige Sphären - ob mit zwei Beinen oder einem zighundertfachen und einem zusätzlichen M - gibt es mit Have a good time Verstärkt niveauvoll mit Schmackes auf die Zwölf gibt's bei Amplifier. Kurz bevor ihr neues Album erscheint, gibt es hier eine Live-Version von Electricity zu entdecken. Led Zeppelin hingegen haben eine Seelenwanderung durchgemacht und sind nach einigen Jahrzehnten in den Körpern von Wolfmother wiedergeboren worden. Der Innovationsfaktor ist hier sanft eingeschläfert worden; die Musik besticht aber nichtsdestoweniger fast wie bei den Luftschiffern. Nachzuhören z.B. in Woman. Neu, schmissig mit ohrwurmendem Schwung tanzen sich The Rifles auf dem hinteren Kamm der New Wave of New Wave in die Gehörgänge. Hier könnt Ihr zur aktuellen Single
Local boy durch die Wohnung toben, ehe Ihr mit dem ...Trail Of Dead-Klassiker Relative Ways die Wände wackeln lasst.

Indie-Popkultur

Verschroben sind sie. Skurrile Vögel, die sich in der Abgeschiedenheit Alaskas einen ungemein erfrischenden Sound ertüftelt haben: Portugal. The Man verquicken zuckersüßen Pop mit verschrobenem Rock, biegen immer wieder um ungeahnte Kurven, ohne den Hörer jedoch aus der Bahn zu werfen. Bislang eine der Entdeckungen des Jahres für mich. Reinhören? Gern. Hier entlang! Weit weniger verspult aber trotzdem wunderschön ist die neue Scheibe von Grandaddy geworden. Leider vorerst ihre Abschiedsplatte. Ein Grund mehr, sich dieser allzu oft unterschätzten Band intensiver zu widmen. Einen Anfang könnte Elevate yourself machen. Anfangs etwas sperrig, dann aber ungemein großartig sind Seachange. Verschrobener Indie-Pop, der erst im dritten, vierten Hördurchgang zündet, dafür aber um so flammender. Ebenfalls eine der Entdeckungen des Jahres! Absolute Sahne, die sich mit No backward glances erkunden lässt. Auch wenn ein Song keine ganze Platte ersetzt. Gleichfalls zur absoluten Crème zählen auch Arcade Fire mit ihrem Album „Funeral“. Runterladen von gleich zwei Songs geht hier. Herrlich spinnert, originell und eingängig ist auch The Spinto Band. Definitiv die Lauscher wert. Beispielsweise bei Oh Mandy. Selbiges gilt auch für ihre belgischen Kollegen von Absynthe Minded mit It could be oder Film School mit Pitfalls. Wer die Schönheit der Chance schon genutzt hat, alles von Death Cab For Cutie zu kennen, kann sich alternativ bei der Youth Group einfuchsen. Ebenfalls traumschöner Pop zum kniewippenden Schwelgen in Wohlklang. Antesten? Skeleton jar und Shadowland bieten dazu die Chance. Sehr feiner Indie Pop kommt auch aus Münster, zum Beispiel mit der überraschend guten Scheibe von Cuba Missouri, von der es hier den Song Bitter zu hören gibt.

Leisetreter

Sanft gezupfte Gitarre, perlende Gesangslinien, die Poesie der Stille zelebriert Rocky Votolato auch auf seinem neuen Album „Makers“, von dem es hier den Song White daisy passing als Kostprobe gibt. Ebenfalls famos sind die kunterbunt arrangierten Alben von Sufjan Stevens. Gleich mehrere Songs zum Runterladen gibt es hier. Schon ein paar Tage älter, aber immer noch bezaubernd ist auch das famose Yesterday is an eternity von Keith Caputo. Klang gewordene Trauerweiden inmitten eines lebendigen Flusses aus Indie, Rock und Jazz sind Karate, die ungewohnten Ohren oft anfangs Hörnüsse zu knacken geben, ehe sie sich mitten ins Herz spielen. Beispiele hierfür finden sich in Ice or ground? und One less blues, dem vielleicht sprödesten Stück auf ihrem tristschön poetischen Meisterwerk „Unsolved“.

Sphärisches

Weite Sphären, sanfte Steigerungszüge zwischen zerbrechlicher Stille und wuchtigen Pathos-Vulkan-Ausbrüchen zeichnen die folgenden Kandidaten aus. Melodieseligkeit trifft die epische Ausdehnung des Raumes. Da wären Vito mit ihrem herrlichen Debüt-Album „Make good areas disturbed“, von dem Rejoice stammt. Weitgehend käferfrei, aber betörend schön sind auch die hauchzarten Epen von Gregor Samsa, beispielsweise Young and old - ebenso wie Sit in the middle von A Silver Mt. Zion. Etwas virtuoser geht es in den künstlerischen Gärten der Giardini di Miró zu. Ein Ohr leihen kann man den Italienern zum Beispiel am Beispiel von Othello.

HipHop


Mit seinen fantastischen, ungemein groovenden Debütalben erkannten sie im Blues einen Frosch, übergossen ihn mit erfrischendem Sodawasser, klatschten ihn gegen die Wand und verquirlten ihn mit funky Grooves und akustischem HipHop zu einer mitreißenden Mischung: G. Love & Special Sauce. Die alten Songs sind indes leider nicht mehr legal im Netz aufzutreiben. Inzwischen haben sie die spezielle Soße im Namen in den Ausguss gekippt, stattdessen aber neue Stilarten in ihren mitreißenden Soundcocktail gemixt. Ein Hauch von Jack Johnson (dem Inhaber des neuen Labels) weht mit auf den neuen Songs. Gute-Laune-Alarm. Antesten! Und zwar hier: Der famos beschwingte Sommerpopper Hot Cookin’ mit Donavon Frankenreiter, der elektrifizierte HipHop-Knacker Banger zusammen mit Blackalicious oder Let the music play, zusammen mit dem großartigen Ben Harper und Marc Broussard.

Viel Spaß beim Antesten!

Labels:

Montag, August 21, 2006

Kraftakt marsch! Just nach seiner Wahl zum Vorsitzenden der Interessenvertretung "Leinenloses Hundedasein e.V." ließ Wutz der Jüngere den Ankündigungen seiner Antrittsrede "Nieder mit den Parkuhren!", von unbändigem Eifer befeuert, Taten folgen.

Freitag, August 18, 2006

Der erste Regen danach

Inmitten der Restefickrampe - ein eigenwilliger Rahmen. Zuvor habe ich mich erst ein einziges Mal hierher verirrt. Sturztrunken, an Altweiberfastnacht. Doch manchmal heiligt der Zweck auch Orte. Heute ist sie mir nur recht, auch mangels Alternativen. Zu nah ist die Nacht schon den Morgenstunden gekommen. Hier wird ihr Aufschub gewährt, in der Mocambo Bar. Glatzrasierte Stiernacken kauern in Bomberjacken am Tresen. Einige lallen, faseln vor sich hin, dem anderen zugewandt, der abwesend am Bierdeckel knibbelt. Abgehackte Sätze tropfen von tonnenschweren Zungen, zerbrechen auf halbem Weg. Stimmen wie Besetztzeichen. Zerschlissene Gestalten, gemeinsam einsam. Verschwommene Worte durchtorkeln die Rauchschwaden auf dem Weg zum Gegenüber, erreichen sie aber nicht. Lösen sich auf in Bierdunst und Schweiß. Gesichter zerfließen, die Muskeln vom Suff erschlafft. Kerzen flackern auf wackligen Stehtischen. Ein Barbie-Imitat schwankt und kippt sich dadurch Cola-Korn auf ihre großen Brüste. Sie kreischt hysterisch vor Lachen, dabei verschüttet sie den Rest. Am Pissoir klebt Erbrochnes, darüber Klopapiergirlanden.

Im Vollrausch der Getränke und Gefühle kreisen vereinzelt Zungen, hier und da wandern auch erkundende und massierende Hände in heimliche Bereiche. Ich sitze nur da, trinke entspannt zwei Bier und schaue zu, ohne mit irgendwem zu sprechen – außer dem Barkeeper beim Bestellen. Noch immer erschöpft von den letzten Tagen mit ihren technischen Wirren, dem steigenden Druck und Herzklabattern. Aber glücklich und erleichtert. Nun, nachdem auch die Medikamente ausgeliefert sind, darf ich auch mit mir selbst darauf anstoßen. Die Stadt draußen schläft längst, auch die Freunde liegen längst unter Daunen im Dunkel. Und so feiere ich mit mir selbst. Gemeinsam gefeiert wird ja noch. Die Puppen werden später tanzen. So lade ich mich selbst auf zwei Bier ein in der einzigen Kneipe, die wochentags um vier Uhr nachts noch geöffnet hat. Eine stille Feier in abgerissenem Rahmen, doch würdig allemal. Um halb sechs radele ich heim. Es regnet. Der erste Regen danach. Er fühlt sich gut an.

Donnerstag, August 17, 2006

Zahlenkoller

Das große Werk scheint vollbracht.

585.287 Zeichen, die zusammen 73.075 Wörter bilden, teils in eine der 283 Fußnoten geschoben sowie in einen der 1324 Absätze mit insgesamt 6.962 Zeilen gezwängt sind, die sich über 155 Seiten (davon 133 Seiten Fließtext) unter Zuhilfenahme von 412 Literaturquellen erstrecken und auf denen sich 5 selbsterdachte Grafiken finden, befinden sich nun im Druck. Puh.

Mittwoch, August 16, 2006

Endspurt

Auch wenn eine Magisterarbeit zu schreiben kein Teamsport ist und sein darf: Man muss auch abgeben können. Morgen früh geht das Opus Magnum in Druck.

Sonntag, August 13, 2006

Endspurt. Noch gut fünf Tage. Dann hat der Schacht Schicht. Die Magister-Abgabe rückt bedrohlich nahe. Ergo: Abtauchen aus Absurdistan bis das Werk vollendet ist. In Kürze geht es hier weiter. So lange stehen Euch ein reichhaltiges Archiv und hunderte anderer toller Seiten für erfrischende Lesebelebungen zur Verfügung.

Freitag, August 11, 2006

Sie und ich im Fünfer

Sie warf die Stirn in Falten voller Zweifel. Sie sprach. Nicht schnell, doch – scheint’s – wohlüberlegt. „Warum verklebst Du schwülstig Deine Worte? Warum so wenig Rede, so viel Tand? Zwar sprichst und schreibst Du klug und überraschend, doch allzu oft erstickst Du jeden Schwung in allzu eng gereihten Adjektiven. Du schreibst so bunt, und doch erblasst das Strahlen der Einzelfarben in so grellem Wust. Die Bilder flirren, müde wird das Auge und vor dem Hirn wird Überschwang bald grau.“

Ich sprach: „Ist’s gar so arg?“ Sie schwieg ein Weilchen. Sie trank in kleinen Schlücken schwarzen Tee. Nur zögerlich erhob sie ihre Stimme. Es war, als wög’ sie jedes Wort in Gold.

„Es ist vielleicht ein wenig wie mit Hühnern auf einer allzu produktiven Farm. Es sind so viele, doch nur Platz für wenig. So zwängst Du sie, beraubst sie ihrer Kraft. Sie schubbern aneinander, leiden Platzangst. Die Häute scheuern wund, das Federkleid ein’s jeden Huhns verliert bald seinen Schimmer, wird blass und schlapp, es krankt und leidet Harm. So strahlend jedes Deiner Einzelwörter auch glänzt und funkelt – es wird seltsam stumpf, lässt Du ihm nicht genügend Luft zum Atmen, für die Entfaltung keinen rechten Platz.“

Ich sprach: „Wünschst Du Dir wortgerechte Haltung?“ Sie sagte: „Ja, ich glaube, Du verstehst. Sowie ich nurmehr Bio-Eier kaufe – nicht nur aus Tierschutzgründen, sondern auch weil jedes Ei viel frischer wirkt und mundet, wünsch ich mir Texte sprudelnd vor Esprit. Wortschutz wie Tierschutz! Gegen Überfischung und Massenhaltung, leben soll das Wort! Lass Texte tanzen, Worte sich berühren. Doch zwäng sie nicht zu dicht! Begnüge Dich, und Du wirst sehen, es wird sich reichlich lohnen!“

Ich dankte schon, da sprach sie: „Noch etwas. Gönn’ den Figuren auch mehr eigene Worte. Beschreib’ nicht nur, lass’ freie Rede zu. Hilf den Figuren durch ihre eigene Stimme. Schärf’ ihr Profil durch Rede! Du wirst sehen, wie wohl dem Text die Schlankheitskuren tuen. Vergiss nicht, was Du kannst, doch geh voran und feile wohlbedacht an Deinen Worten und möglich scheint durchaus ein Quantensprung.“

Dann drehte sie sich um, bereit zu gehen. Ich rief bald: „Halt! So warte doch noch kurz! Verrate mir doch wenigstens den Namen. Wer bist Du? Woher kennst Du mich?“ Sie sagte: „Ich gehöre doch zu Dir! Ich lebe in Dir, seit Du denken kannst. Ich wirk’ in Dir bei Arbeit, Freizeit, Brunft. Ich glaub’, man nennt mich landläufig Vernunft.“

Donnerstag, August 10, 2006

Die Fleisha

Ich habe seit Pfingsten keinen Flecken Erde dieser Stadt mehr betreten. Vielleicht hätte ich am Dienstag da sein sollen. Denn dort wurde das Kolloquium "Anthropologie im Spannungsfeld von Wurst und Religion" abgehalten. Ich bin nicht da gewesen.

Ich habe nicht teilgenommen an der Reise durch die Kultugeschichte des Verzehrs. Ich habe mich nicht von den transdiziplinären Text-, Bild- und Film-Erkundungen der Projektgruppe "Produkt und Raum" tragen lassen zu Aspekten rund um Ernährung, Sex, Religion und Gewalt. Ich war nicht dabei, als sie Themen wie Amputation, Hostienschändung und Schweinehochhäuser streiften und über Videoüberwachung in Schlachthöfen, die Semiotik der Nahrungsdarstellung im urbanen Raum und den Fall Armin Meiwes diskutierten. "Unser Credo heißt Hyperkulturalität", erklärte Tim Holtorf, Mitinitiator der transmedial ausgerichteten Veranstaltung. "Im Zuge der Pornoisierung und Orbitalisierung von Gesellschaft reproduzieren sich die semantischen Felder 'Fleisch', 'Fressen', 'Fritten' im Raum postmoderner Erlebniswelten", so Holtorf über das Anliegen der Veranstaltung. Ich bin nicht dagewesen.

Mittwoch, August 09, 2006

Wenn die Erdmöbel am frühen Morgen...

„Ich stehe seit meiner Jugend in einem gewissen vertrauten Verhältnis zu Särgen“, raunte Wulnikowski dem skelettdürren Spitzkinn neben sich am Tresen zu. Dem klebten Schaumblasen in den Mundwinkeln. „Zu der Zeit meines Studiums, in den ärmsten Tagen, hatte ich die Erlaubnis erlangt, auf einem Haufen Sägespäne in einer Sargfabrik nicht weit von den Klinkermonstren des Linoleumwerks zu übernachten. Kein Auge habe ich in den ersten Nächten zugetan. Es half nichts, dass ich mir einzureden versuchte, die hölzernen Kisten rund um mich seien nur für besonders empfindliche Frachtladungen von Obst- und Damenwäsche bestimmt. Auch drang mir die Bodenfeuchte bis in die Knochen und die Sägespäne in meine Haut…“

Wulnikowski pausierte, um einen weiteren Schluck Bier zu sich zu nehmen. Das Spitzkinn starrte mit offenem Mund auf die Vereinswimpel über den Schnapsflaschen und legte seine lederne Stirn in Falten. Glitzernde Schweißperlenketten darauf ließen auf leichtes Entsetzen schließen.

Es war schon fast wieder Tag. Das Morgenlicht floss in der Farbe schalen Bieres durch die schlecht geputzten Scheiben; vom Himmel tropfte matt der Schimmer der letzten zögernden Sterne. Gegenüber schnitt ein Stadtmitarbeiter (wohl am Ende seiner Nachtschicht) einen Sack mit Tausalz auf und füllte ihn in einen orangenen Behälter. Seit Stunden hatten die Beiden hier in der Pinte über beinahe Nichts gesprochen. Begegnet waren sie sich nie zuvor. Doch irgendwie hatte Wulnikowski nicht nach Hause gemocht. Außerdem hatte er seine Schlangen schon gefüttert und insofern keine Eile. Er hatte keine Beichte eines Mörders in einer Nacht erlebt. Sie hatten ein wenig über Biologie gesprochen, viel über den abbröckelnden Sozialstaat, lange Zeiten auch nur geschwiegen und getrunken.

Vor der Pinte hielt ein Taxi, als hätte ein Windhauch es zum Stehen gebracht. Urplötzlich warf das Spitzkinn einige Scheine auf den Tresen, stob davon. „Heimlicher Scherge des Todes!“, keifte das Spitzkinn noch schnell, ehe er durch die Tür sprang, die hin und her schlug, ehe sie ihren Schwung langsam verlor. Wulnikowski schüttelte den Kopf. Auch ihm wurden die Augen plötzlich schwer. Er fühlte eine neue Erkältung aufkeimen – sein Rachen kratzte. So zahlte er, klaubte seinen Pappkoffer vom Barhocker neben sich und taumelte durch den trüben Morgen seinem Bett entgegen.

Labels:

Montag, August 07, 2006

Dreams ate my reality

Ohne profunde Kenntnis der Traumdeutungswerke von S. Freud und C.G. Jung kann es verunsichern, von taufrischen Sonnenstrahlen geweckt zu werden und sich eingestehen zu müssen, dass im Traum soeben noch ein schlabbrig schnaufendes Walross mit einem roten Stringtanga um die Hüften und einer gigantischen Mohrrübe auf dem Rücken vor einem Milchregal im Supermarkt stand und just im Begriff war, eine übermenschengroße, knatschblaue Fruchtgummischlumpfine mit gelber Mütze auffressen zu wollen.

Samstag, August 05, 2006

Hirnschmelze.

Freitag, August 04, 2006

Tagesnacht

Einige Meter unter meinem Bett haben sie die Nacht in die Flucht geschlagen. Britzelnde Flutlichtmasten verjagen die Dunkelheit. Ein futuristischer Maschinenpark durchlärmt die Nacht und zertrampelt den kleinen Zeitraum, in dem die Stadt sonst friedlich und still daliegt, in sich ruht und schläft. Rundumlichter kreiseln sich schwindelig. Sie kleben eine neue Haut auf die Verkehrsader unter meinem Fenster. Die Fräse wetzt die Krallen. Sie kreischt, als ihre Sägezähne sich in den altersmüden Asphalt keilen und ihn in Bröckchen zerhacken! Ratsch! Einige Meter weiter kippt die Teermaschine schwarze, stinkende Brocken ab. Es dampft. Süßlich stechende Wolken schweben empor und klettern durch die Fensterritzen. Die knatternden Dieselmotoren der Radlader heulen auf. Der Schalldämpfer am Auspuff ist bereits in Frührente geschickt worden. Ersatz scheint noch nicht in Sicht. Dann bebt der Boden. Mit meilentiefem Dröhnen malmt die Walze über den noch klebrigwarmen Asphalt. De profundis declamo ad te domine. Alles zittert unter der tonnenschwer vibrierenden Last. Zwei Gläser auf Deinem Schreibtisch klirren aneinander. Die lose Schubladenklappe Deines Unterwäschefachs klappert. Die Schallschutzfenster bibbern und schwenken weiß. Kurz atmen die Maschinen durch, gönnen Dir ein, zwei Minuten Ruhe. Dann kreischt die Fräse von Neuem. Der Rückwärtsfahrsensor der Walze lässt gelle Piepstöne zucken. Das Scharren auf Teer, das Rappeln, Klappern, Dengeln, Kratzen, Schaben und Hämmern hat Deine Nerven poliert. Sie glänzen blitzblanker als Tafelsilber. Du wälzt Dich zwischen den Kissen hin und her. Schon die vierte Nacht in Folge machen die Straßenarbeiter auf der Kreuzung unter Dir zum Tag. Verzweifelte Sehnsucht nach Schlaf bricht sich Bahn. Und irgendwann entschlummerst Du doch, ehe Du am nächsten Morgen gerädert aufwachst, müdigkeitstrunken den halben Kaffee neben die Tasse kippst und Dir das Herannahen des Tages ersehnst, an dem die Kreuzung unter Deinem Fenster nur noch Kreuzung und keine Baustelle mehr ist.

Mittwoch, August 02, 2006

Der Schock!

Der Wind kitzelte ihren Oberschenkel kalt durch die Netzstrumpfhose. Ihr Dekolleté überzitterte ein frischer Schauer. Der BH zwickte ein wenig, doch war er ja absichtlich eine Nummer zu klein gewählt. Auch das aufregend rote Kleid war fast einen Tick knapp. Wann er nur kommen mochte? Sie zupfte ein, zwei Strähnen ihrer frisch frisierten Haarpracht zurecht. Die Aussicht auf das bevorstehende Abenteuer, diese verruchte Sünde, kribbelte innerlich, ließ sie vor sich selbst erschaudern, schlug sie alsbald aber wieder mit wildsüßer Verlockung in den Bann.
*
Drei Jahre war sie nun mit Lutz zusammen. Überwiegend schöne Jahre waren es, auch wenn es sie anödete, wie Lutz sie immer Schatz nannte. Und die Ödnis hatte sich schleichend ausgeweitet, sie immer tiefer ergriffen. Zwischen ihr und Lutz war es wie in Kästners sachlicher Romanze geschehen. Plötzlich war ihnen die Liebe abhanden gekommen wie anderen Leuten der Stock oder Hut. Die leidenschaftlich lodernde Glut der beidseitigen Begierde war zu einem sauerstoffjapsenden Fünkchen verkommen. Inzwischen ödete sie sogar schon sein Vorname an: Lutz. Wie lahm. Es nervte sie, dass er seine Zahnpastatube immer nur halb zudrehte. Dass er nach dem Fußballtraining sich einfach verschwitzt aufs gemeinsame Leinensofa warf, alle Viere von sich streckte (die Miefsocken auf den Tisch, wo sie glitzernde Schweißflecken auf der Glasplatte hinterließen). Und dass er die Zeitung immer auseinanderlas. Früher hatte sie das eher niedlich gefunden. Heute weckte es giftigen Groll in ihr. Und es kränkte sie, dass er sie nicht mehr berührte wie früher. Sein Blick schien stumpf geworden für ihre Reize. So kokett sie ihn auch umschnurrte, sein inneres Feuer steckte im Quark fest. Er war nicht mehr der heiße Prinz, er war immer noch nett. Nett. Und irgendwie auch nervig. Und es war Zeit für etwas Neues, Prickelndes, Sinnbetörendes.

So hatte sie sich heimlich, als sie frustriert von einer Party mit Freundinnen kam, in einer Netzpartnerbörse angemeldet. "Junge, wilde Sie sucht feurigen Hengst für zügellosen Seitensprung". Und prompt hatte RingoStarr ihr geschrieben. Den Namen fand sie grässlich, doch sponn er gemeinsame Fantasien, die sie vor Aufregung zittern ließ. Er war so anders als Lutz. So zärtlich und doch verdorben in seinen Worten. So... unbeschreiblich. Tag für Tag schrieben sie sich. Woche für Woche pochte das Herz höher. Der heimliche Kontakt mit RingoStarr ließ ihr die Beziehung zu Lutz nur noch schnöder erscheinen. Träger, schlapper Sack! Und nun hatte ihr heimlicher (Text-)Lover sie eingeladen. Hier, wo sie stand, wollten sie sich treffen. Dann würde er sie in sein Lieblingsrestaurant ausführen. Er würde in einem blauen Smoking kommen, hatte er geschrieben. Sie hatte sich heimlich sogar neue Dessous für die erste gemeinsame Nacht gekauft. Hatte ihm geantwortet, sie käme in einem bordeauxroten Minirockkleid. Das hing seit zwei Monaten im Schrank, doch Lutz hatte es nie bemerkt. Sie hatte es ihm zeigen wollen, doch dem war eh nicht mehr zu helfen. RingoStarr hingegen würde es zu schätzen wissen.
*
Sie sah auf die Uhr. Er war schon zehn Minuten überfällig. Kurz zögerte sie, ob sie es wirklich tun könne, ob sie Lutz trotz betrügen könnte, auch wenn die Beziehung nur noch so erfrischend war wie der Geruch von Schweißfußsocken. Nein. Ja. Nein.... Ja! Etwas Dämonisches kletterte in ihr hoch. Das schlechte Gewissen röchelte noch kurz und hisste dann die weiße Flagge. Sie kicherte hämisch. Die Vorfreude, die Neugier steigerte sich ins kaum mehr Messliche. Da hielt ein Taxi. Ein großer, stämmiger Mann stieg aus. Er trug gewitzt verzwirbelte blonde Strubbelborsten auf dem Kopf, ein seidig glänzendes, blaues Jackett. Sie stellte sich in Position. Brust raus, Bauch rein, das verführerischste Zahnpastalächeln strahlte aus ihr heraus. Die Show konnte beginnen. Dann... dann... dann... zersplitterte ihre Fassade. Ringo Starr kam näher. Und im kalten Schein der Straßenlaterne erkannte sie... Lutz.