Mittwoch, August 09, 2006

Wenn die Erdmöbel am frühen Morgen...

„Ich stehe seit meiner Jugend in einem gewissen vertrauten Verhältnis zu Särgen“, raunte Wulnikowski dem skelettdürren Spitzkinn neben sich am Tresen zu. Dem klebten Schaumblasen in den Mundwinkeln. „Zu der Zeit meines Studiums, in den ärmsten Tagen, hatte ich die Erlaubnis erlangt, auf einem Haufen Sägespäne in einer Sargfabrik nicht weit von den Klinkermonstren des Linoleumwerks zu übernachten. Kein Auge habe ich in den ersten Nächten zugetan. Es half nichts, dass ich mir einzureden versuchte, die hölzernen Kisten rund um mich seien nur für besonders empfindliche Frachtladungen von Obst- und Damenwäsche bestimmt. Auch drang mir die Bodenfeuchte bis in die Knochen und die Sägespäne in meine Haut…“

Wulnikowski pausierte, um einen weiteren Schluck Bier zu sich zu nehmen. Das Spitzkinn starrte mit offenem Mund auf die Vereinswimpel über den Schnapsflaschen und legte seine lederne Stirn in Falten. Glitzernde Schweißperlenketten darauf ließen auf leichtes Entsetzen schließen.

Es war schon fast wieder Tag. Das Morgenlicht floss in der Farbe schalen Bieres durch die schlecht geputzten Scheiben; vom Himmel tropfte matt der Schimmer der letzten zögernden Sterne. Gegenüber schnitt ein Stadtmitarbeiter (wohl am Ende seiner Nachtschicht) einen Sack mit Tausalz auf und füllte ihn in einen orangenen Behälter. Seit Stunden hatten die Beiden hier in der Pinte über beinahe Nichts gesprochen. Begegnet waren sie sich nie zuvor. Doch irgendwie hatte Wulnikowski nicht nach Hause gemocht. Außerdem hatte er seine Schlangen schon gefüttert und insofern keine Eile. Er hatte keine Beichte eines Mörders in einer Nacht erlebt. Sie hatten ein wenig über Biologie gesprochen, viel über den abbröckelnden Sozialstaat, lange Zeiten auch nur geschwiegen und getrunken.

Vor der Pinte hielt ein Taxi, als hätte ein Windhauch es zum Stehen gebracht. Urplötzlich warf das Spitzkinn einige Scheine auf den Tresen, stob davon. „Heimlicher Scherge des Todes!“, keifte das Spitzkinn noch schnell, ehe er durch die Tür sprang, die hin und her schlug, ehe sie ihren Schwung langsam verlor. Wulnikowski schüttelte den Kopf. Auch ihm wurden die Augen plötzlich schwer. Er fühlte eine neue Erkältung aufkeimen – sein Rachen kratzte. So zahlte er, klaubte seinen Pappkoffer vom Barhocker neben sich und taumelte durch den trüben Morgen seinem Bett entgegen.

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12 Wortmeldung(en):

Anonymous Anonym meint...

>>Vor der Pinte hielt ein Taxi, als hätte ein Windhauch es zum Stehen gebracht.<<

Großes Kino.

9/8/06 12:29

 
Anonymous Anonym meint...

So geht es nicht nur Wulni nach so mancher an Nichts zerbrochener Nacht. Ich bin dann auch oft erkältet und die Zigaretten schmecken nicht mehr.

Tolle Episode mit anderer Färbung als die üblichen Wulni Rants:)

9/8/06 12:31

 
Blogger Scheibster meint...

Ich habe da wohl einen gewissen Wulnikowski-Aufholbedarf...

Klingt aber so vielversprechend, dass es auf meiner "Dinge, die ich unbedingt noch tun muss, bevor ich diese Dimension verlasse"-Liste Einzug findet.

9/8/06 16:13

 
Anonymous Anonym meint...

Was die richtige Entscheidung war.
Ist ja auch nicht mehr der Jüngste, der Wulni!

9/8/06 17:20

 
Anonymous Anonym meint...

ole, ich bin seelig. mein liebster herr wulni ist wieder da. und wie bezaubernd die übernachtungsmöglichkeit auf der sägespäne bei den frischen särgen!

auch den koffer hat er wieder dabei. wie schön!

9/8/06 20:15

 
Anonymous Anonym meint...

Hey der Wulni! Die Farbe des Morgenhimmels ist aber das Wissen anderer. Die Ähnlichkeit fällt Betroffenen kaum noch auf... Ich hab heute so ein komisches Kratzen im Hals und gestern Glück gehabt, dass mich die Pustekontrolle von den grünen Männchen nicht rausgewunken hat *schwitz*

10/8/06 08:52

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@burns: "Rants" gehört zu den Worten, denen ich zum ersten Mal in meinem Leben begegne.

10/8/06 12:26

 
Blogger Galen meint...

Na ja, wörtlich aus dem Englischen übersetzt ist "rant" nicht gerade positiv. "Wortschwall" oder "leeres Gerede" wird da bei leo.org angegeben...
Vielleicht hat es im Webslang aber auch noch eine andere, durchaus positive Bedeutung. Aber damit kenn ich mich nicht so wirklich aus.

10/8/06 12:32

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@scheibster: In ungefähr umgekehrter Reihenfolge gibt es weitere Episoden featuring Wulnikowski hier,
hier,
hier,
hier,
hier und
hier nachzulesen.

10/8/06 12:33

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@Michael: Äußerst erstaunliche Theorie! :)

10/8/06 12:42

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@bitts: Ab und zu wird so'n Koffer ja auch mal gebraucht. :)

10/8/06 13:03

 
Anonymous Anonym meint...

So ein Holzkulani (Kulani: zweireihige blaue Jacke der Marineangehörigen, genannt nach einer Kieler Herstellerfirma) wirkt manchmal etwas steif und soll die Bewegungsfreiheit längerfristig behindern. Nichts für unruhige Schläfer.

Verbindlichsten Dank für die vielen hiers.

10/8/06 15:59

 

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