Montag, Juli 31, 2006

Misthaufens versteckte Seiten

Heimlich nannten wir ihn Misthaufen. Dabei sah er aus wie ein dickes Pferd. Ein sehr altes und schlappes. Eine wulstige Nase verbreiterte sich zur Spitze hin und mündete unter den schlabbernden Lippen in einen kraftvollen Überbiss. Er flötete mit einem glockengellen Gummizwillentrimbre, wenn er sprach. Und er wieherte, wenn er lachte. Seine blonden Haare glänzten gern in der Sonne. Sie waren strähnig. Er trug gern weite Trainingshosen oder Leggings, in denen er seinen rundum weichen Körper erstaunlich langsam bewegte.

Wir gingen gemeinsam zur Schule. Damals. Und in einer Pause sagte er, dass er zusammen mit Heini und einigen anderen einen Geheimbund gegründet habe. Ob ich denn beitreten wolle? Ich zeigte mich interessiert und radelte eines Nachmittags zu ihm nach Hause. Er führte mich hinter den Garten. Dort hatte er mit Mamas Gartenschaufel ein knapp metertiefes Loch gebuddelt. "Wenn Du mitmachen willst, musst Du Dich nackt ausziehen, ins Loch springen und Dich um Deine eigene Achse drehen." "Und was habt Ihr dann an spannenden Geheimaktionen vor?" Er verstummte lange, runzelte angestrengt die Stirn, schien nachzudenken. Dann wieherte er: "Das ist doch geheim!." "Ach ja. Stimmt." Mangelnde Aussichten auf spannende Abenteuer und fragwürdige Aufnahmekritierien ließen mich von einer Mitgliedschaft Abstand nehmen. Vier Tage später löste sich der Geheimbund, ohne, dass irgendwer davon mitbekommen hätte, mangels Mitgliedern auf.

Ein Jahr später feierte der Misthaufen seinen zehnten oder elften Geburtstag. Um halb drei war ich eingeladen. Gewünscht hatte er sich Geld und Schokolade. Und so fuhr ich schon um kurz nach zwei in Richtung seines einige Kilometer entfernten Hauses, kam am Privatpuff vorbei, das Misthaufen angeblich mit Fernrohr bespitzelte, fragte mich, was wohl ein Puff sei, und klingelte. Seine Mutter öffnete. Ihr Gesicht war chronisch in sich zusammengefallen. Sie ächzte, und seufzte mir schwerer Stimme zu: "M. ist oben in seinem Zimmer." Dorthin stapfte ich auch fröhlich. Kam oben an, vergaß zu klopfen, stolperte hinein und erstarrte. Misthaufen quiekte, wieherte, wurde blass und zuckte zusammen. Er hatte splitternackt auf dem Fußboden gesessen und körpererforschende Experimente in Bezug auf schrittnahe Reibungswärme unternommen. Nun stand er da. Der Glanz in seinem Haar war vor Schreck zersplittert. Sein Teint graublass und stumpf. "E...e...erzähl das Keinem, verstehst Du? Kei-nem! Überhaupt, was machst Du schon hier?" "Meine Eltern mussten früher zur Arbeit und da bin ich schon jetzt gekommen." "Aber Du kommst doch sonst immer zu spät!" "Stimmt. Nun ja... meine Eltern mussten früher zur Arbeit. Und da dachte ich... naja... und Deine Mutter hat gesagt, ich soll einfach hochgehen." Mir wurde heiß, kalt, dann schwindelig. Ein wenig blass wurde ich auch. Denn hübsch anzusehen war der Misthaufen nicht, wie er da so stand. Nackt, mit seinem Pferdegesicht. Und dann vergaß ich ganz, dass Kindergeburtstag war. Und rannte schnell zum Fahrrad und fuhr nach Hause. Auch wenn da niemand war. Und den Jungs in der Schule erzählte ich nix und war angeblich krank gewesen. Denn wer hätte mir schon geglaubt? Der dicke Misthaufen nackt vor dem Fernseher in seinem Zimmer bei Selbstexperimenten... so weit hätten sie mir geglaubt. Denn der Misthaufen prahlte gern mit Quartett-Kartenspielen, die er seinem Vater geklaut hatte, da waren Frauen drauf. Ganz ohne irgendwas an. Ich hatte sie nie ansehen dürfen. Ich war dem ehemaligen Geheimbund ja nicht beigetreten. Doch niemand hätte mir die Wahrheit abgenommen: Er hatte MacGyver geguckt.

33 Wortmeldung(en):

Anonymous Anonym meint...

o mann, und sowas muß ich lesen nach 3 gläsern rotwein...und so spöt am abend...verzeiht, bin neuer leser, eigentlich fan...aber sowas...mehr wein!

31/7/06 22:39

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Also vielleicht könnte ich ja... auf Kosten des Hauses... zum Wiedergutmachen... ich hätte da noch nen Côte du Rhône...

31/7/06 22:49

 
Anonymous Anonym meint...

Immer wieder bin ich froh, dass ich meine frühe Jugend als Mädchen verbringen durfte. Die leben den aufkommenden Sexualtrieb ja oft eher verbal aus.
Aber ich würd gern mittrinken von dem Zeug da. Damit ich nachher nicht von Erdlöchern träum. Und von Kindergeburtstagen.

31/7/06 23:46

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Hau rein, schenk ein! :)

31/7/06 23:49

 
Anonymous Anonym meint...

Ich hatte schon ein bisschen Tarragona, mir geht´s gut, hick.
Mir fiel gerade mein liebster Schulfreund ein, den seine Mutter jahrelang wegen psychosomatischer Magengeschichten in Therapie schickte. Er sagte, er selbst wisse genau, was sein Problem sei, aber das dürfe niemand wissen, auch die Therapeutin nicht. Ich starb vor Sorge und Neugier.
Zum fünfjährigen Abitreffen erschien er entspannt geoutet und supertuntig.
Misthaufen trägt dich sicher heute noch dafür im Herzen, dass Du keinem was erzählt hast.
Prost.

1/8/06 00:30

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Ich habe mit ihm darüber nie wieder gesprochen. Ich habe ihn auch sicherlich zehn Jahre nicht mehr gesehen und auch kein sonderliches Interesse verspürt, das zu ändern. Ich tippe allerdings darauf, dass er eher enorm bieder und fad herumläuft und nicht tuntig oder auffällig. Er hatte doch generell eher das Temperament einer Sandwüste bei Windstille, entdeckte fast nadolnyesk die Langsamkeit und bestach durch verblüffende Ödnis. :)

1/8/06 00:40

 
Anonymous Anonym meint...

Dann verdient die Geschichte erst recht eine Fortsetzung, etwa Aufkommender Sandsturm oder Misthaufens Frühlingserwachen.

1/8/06 01:06

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Lassen wir uns überraschen. Hängt vielleicht auch davon ab, wieviel Wein noch im Keller ist, den man gastfreundlich anbieten kann, falls Lesern die edlen Tropfen ausgehen oder sie einen stärkenden Trunk gebrauchen könnten im Anschluss an die Lektüre.

1/8/06 01:09

 
Anonymous Anonym meint...

wieder so eine schön charmante geschichte! der arme misthaufen kann einem leid tun ;)

1/8/06 01:32

 
Blogger kein einzelfall meint...

Erinnert an irgendwas zwischen Dr. Sommer und einer jugendfreien Variante von ihm.

1/8/06 02:02

 
Anonymous Anonym meint...

Also, mit Hermes Ph. wirds hier jetzt aber wirklich grauslich. Der Vergleich ist gemein. Der ist doch bekennender & praktizierender Perverser! Das ist nimmer jugendfrei. Bin entsetzt ;)

1/8/06 08:59

 
Anonymous Anonym meint...

hihi - war eigentlich schon bei den leggings klar :-)

1/8/06 10:05

 
Blogger mq meint...

Was muss ich tun, um das Klingeln des glockengellen Gummizwillentrimbre wieder aus dem Ohr zu bekommen?

1/8/06 11:17

 
Blogger Scheibster meint...

Beim MacGyver schauen wird man doch eigentlich von seiner Mutter erwischt, oder nicht? Naja, indirekt war das ja so... :-)

1/8/06 12:13

 
Anonymous Anonym meint...

Misthaufen ist ein beliebter Kosename bei der Seefahrt für einen Drecksack, der stinkt. Mir fiel übrigens in diesem Zusammenahng der Bulle von Tölz ein.

1/8/06 13:09

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Die Körpermasse des Tölzer Bullen oder gar des österreichischen Götterfettboten hat Misthaufen nie erreicht. Er war zwar moppelig, aber nicht völlig ausufernd. Auch zeichnete ihn nach außen hin generell eher unsichere Schüchternheit und harmlose Biederkeit aus. Da passt der Phettberg dann doch noch weniger. :)

1/8/06 13:24

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@scheibster: Die schnitt unten gerade aber den Zitronenkuchen auf. :)

1/8/06 13:24

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@markus: Vielleicht hilft Niesen? Oder Kaugummikauen? Rückenschwimmen im Baggersee?

1/8/06 13:25

 
Anonymous Anonym meint...

A man called Misthaufen could have changed your life.

1/8/06 13:35

 
Blogger Mephistascripts meint...

Das hinterlässt mich so mittel.

1/8/06 13:39

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@mephistascripts: Das wiederum hinterlässt mich mindestens mittel-, nein, ahnungslos ;)

1/8/06 13:42

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@burns: could have. aber ich glaube, he hasn't, so far.

1/8/06 13:43

 
Blogger Galen meint...

Doch, auf schriftlichem Wege gewinnt die Story ungemein. Hab'S bisher ja nur gehört. ;)

1/8/06 14:53

 
Blogger Galen meint...

Gehörte der Ralf eigentlich auch dazu? Den hab ich dieser Tage bei multi an der Kasse gesehen. Noch stärkere Ausprägung von Fliegenlandeplatz über der Stirn als das letzte Mal...

1/8/06 14:56

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Mit dem Club: Das waren vor allem Misthaufen und Bruno. Heini war da eigentlich auch eher unfreiwillig reingerutscht. Und dann noch die Brüder S&L. Ralf war da nicht bei, glaube ich. Viel zu moralisch. Der hat ja auch vehement gegen den Privatpuff gekämpft. Und wird jetzt Reli-Lehrer. Und Deutsch-. Auf dass ich bitte vorher informiert werde, wo dieser Mensch seine Lehrtätigkeit aufnimmt, damit ich rechtzeitig nach alternativen Schulen für irgendwann mal von mir abstammen könnende Kinder suchen kann.

1/8/06 15:04

 
Blogger Mephistascripts meint...

Wollte gemeint haben: Mich beschlich nach Komplettlektüre ein gar schwummriges Gefühl - nicht genau zu definieren, weil sowohl Abscheu, als auch Verständnis, plus selbstredend der altbekannten Freude ob der Formulation deines jüngsten Ergusses eintraten...das alles und einiges mehr, entlud sich in der Kürze der vorhergegangenen Äußerung.

...fand ich irgendwie verständlicher, als den jetzt verzapften Scheiß...wie man's auch macht...

1/8/06 17:30

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Heißa, jetzt hab ich den Durchblick! :)

1/8/06 17:39

 
Blogger viktorhaase meint...

großes tennis, herr cordsen. ganz große.

1/8/06 20:42

 
Anonymous Anonym meint...

erinnert mich stilistisch sehr an hesse... bewegend.

2/8/06 02:52

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@Viktor: Serve'n'Volley?

2/8/06 09:45

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@Morphin: Mein letztes Hesse-Buch habe ich vor etwa neun Jahren gelesen. Deshalb staune ich ein wenig. Aber: Danke. :)

2/8/06 09:46

 
Anonymous gutscheine zum ausdrucken meint...

sehr guter Beitrag

18/12/12 13:15

 
Anonymous gutscheine zum ausdrucken meint...

sehr guter Kommentar

23/2/13 15:20

 

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