Montag, Oktober 31, 2005

Erinnerungen einer Reise ins Elsass (IV)

Im Nebel ruhet (noch) die Welt – heute bis weit über Mittag hinaus. Das Wetter verschafft den popularitätsmüden Sehenswürdigkeiten etwas Ruhe und versteckt ihr Antlitz hinter nasskalter, blickdichter Watte. Wir verstecken uns wiederum vorerst noch vor dem Nebel im knusprig warmen Wohnwagen. Der frisch aufgebrühte Ostfriesentee dampft gut gelaunt aus den bunt gesprenkelten Bechern. Es duftet nach Käse, Marmelade, frisch geröstetem Brot und gesalzener Butter. Nur ganz langsam und entspannt lassen wir den Tag ankommen. Und wo solch trübe Suppe uns umgibt, gemahnt doch nichts zur Eile. Wir haben Zeit. Und schließlich wollen wir ausgerechnet heute die Berge durchkurven und den Blick schweifen lassen von den Passhöhen, Kuppen und Straßengipfeln, wo die Panoramasicht bislang doch gerade mal fünfzig Meter beträgt. Also nochmal nochschenken, abwarten, Tee trinken. Wahrscheinlich lässt die Sonne das tiefhängende, blassfahle Geschwappe ja alsbald verrieseln. Allzu eilig hat sie es damit scheinbar aber nicht, und so brechen wir doch auf ins Blickdickicht und fahren los.

Vor lauter Heimlichkeit leise kichernd versteckt sich am Rande der Straße auch Zellenberg - das Dorf, das ich so gern beschmunzelt habe, da seine Türmchen und Häuschen wie eine zottelige Mütze gezogen sind auf die Kuppe eines Berges, der eher einer umgestülpten Suppenschüssel ähnelt. Zu seinen Füßen kräuselt sich auch die Fecht heute fast lautlos durch die Weiße Suppe – der kleine Fluss, der das fruchtbare Tal durchnässt und der an vielen Stellen so schmal ist, dass man einen Hund hinüberwerfen könnte, wenn man denn einen hätte und man wollte.

Zunächst brummen wir in die nächstgrößere Stadt, nach Colmar. Malerische Ecken und Fassaden, Holzschweine in Restaurantschaufenstern, Chansons von Charles Trenet, die aus grün umglasten Luftschächten des Parkhauses unter der Place Rapp ihren Weg aufwärts säuseln, der Issenheimer Altar im Musée Unterlinden, Brotmülleimer, in denen Brot für die Welt gesammelt werden soll, die aber vollgestopft sind mit Coladosen, Döner-Alufolie und Kippenschachteln, ein maghrebinischer HipHopper, der sich überlegt hat, dass er mir eigentlich mal meine Kamera wegnehmen könnte und frustriert und fluchend von dannen zieht, als er merkt, dass ich seltsamerweise dagegen bin und meinen Besitzanspruch kraftvoll geltend mache.

Zaghaft nehmen die Nebelschwaden ihren flauschigen Hut und überlassen der Sonne den Staffelstab. Den unsrigen nehmen auch wir nach einem Café crème im aus ungeklärten Gründen berühmten "Leffe", um uns auf dem Rückweg durch das steile Gehügel der Vogesen zu schlängeln. Stauwarnungen auf der Route National, verbunden mit der wieder aufblühenden Erkenntnis, das ein deutscher Stau in Frankreich sinngemäß ein "Stöpsel" oder "Korken" ist.

Fast einhundertfünfzig kleine Pferde sind unter der Motorhaube unseres bulligen Land Rovers eingesperrt. Sie wiehern, grollen und röhren, während sie das schwarze Gefährt zwischen den steilen Felsstürzen und waldüberwucherten Hängen bergauf treiben. Während wir uns die Serpentinen hinaufschrauben, ereilt meinen Magen mit jeder neuen Kurve ein kribbeliges Schleudertrauma und die Erkenntnis, dass mich - ganz im Gegensatz zum begeisterten Erkunden von weiblichen Rundungen und Kurven, in deren direkter Nähe ich liebend gern lebe und mich aufhalte - inmitten schlängelnder Steingebirgskurven auf Dauer doch ein schleichender Drehschwindel befällt, der das Hirn nach geraumer Zeit in flauen Dämmer versetzt.

Regelmäßig die Nase zuhalten und den Druck ausgleichen, bloß nicht lesen und schreiben. Höhenangst habe und hatte ich nie, aber sobald ich mich zu lange und schnell im Kreise drehe, wird mir ganz schalou und blümerant. Gerade, wenn man im Tal kurvt, verstellen die Berge auch auf unverschämte Weise den Blick zum Horizont und sorgen dafür, dass Luftlinienstrecken von anderthalb Kilometern in Drehwurmfahrten von schlappen fünfzehn Kilometer münden.

Wer oben auf der Passhöhe oder in einer der an den Hang gekrallten Hütten hoch über dem quirlig sprudelnden Tal wohnt, sollte schauen, dass er seinen Einkaufszettel nicht vergisst und alles sauber abhakt, wenn er ins Dorf hinunter zum Einkaufen fährt. Doch das Panorama im silbrigsanft glitzernden Herbstlicht auf der Passhöhe entschädigt für Vieles und nach einiger Zeit und viel frischer Luft, schleicht sich auch wieder das spiralige Schwindelschwirren in meinen Hirnwindungen.


Gegen Abend krabbelt die Sonne wieder hinter die Berghänge, um sich schlafen zu legen. Gespenstisch bleicher Dunst verdickt sich zu neuerlichen Nebelschwaden, schwebt wieder aus den Wiesen und betaut und verschluckt die Welt unter sich. Wir klettern zurück ins wohlig warme Heim, am Herd prasselt und brutzelt es, mit formidablem Abendessen beginnt der gemütlichste Teil des gemütlichen Tages, ehe die Dunkelheit der Nacht und die Schwere der Augenlider uns in Richtung Traum sinken lassen.
„Die Deutschen haben eine außerordentliche Schwäche für Rheinwein. Er wird in schlanke Flaschen abgefüllt und gilt als angenehmes Getränk. Von Essig unterscheidet man ihn mit Hilfe des Etiketts.“ (Mark Twain)
Zurück zur Schnecke verwandelt, kriecht mein Internet nurmehr. Aber es kriecht wieder vorwärts. Zum ersten Mal seit meinem Umzug kann ich endlich wieder von meinem eigenen Schreibtisch ins Internet. Statt pfeilschnellem DSL stellt ein krudes, altes ISDN-Modem, das seltsam blinkt, meine Geduld phasenweise auf die Probe, aber ein paar erleichterte Schweißperlen kullern freudig abwärts und verwischen ungeduldiges Gegrummel mit Blick darauf, dass was Langsames immer noch enorm viel besser ist als garnix. Ein fortschrittliches Wochenende. Seit gestern kann ich zudem endlich wieder fernsehen - ARD, ZDF, WDR und den britischen Soldatensender BFBS - die erste Sendung im neuen Zimmer war "Die Sendung mit der Maus", kurz nach dem Aufwachen. Darüber hinaus habe ich dank German Wings sogar noch einen Flug gebucht und werde für 3 Euro je Flug im Dezember nach Dublin und zurück fliegen. So lobe ich mir das.

Freitag, Oktober 28, 2005

Erinnerungen einer Reise ins Elsass (III)


Mit dicken Schonern und Helm eiert die Schwyzer Mama den sanft abfallenden Weg vor unserem Wohnwagen entlang. Sie lernt Inline-Skaten. Noch zittern ihre Knie, die sie krampfhaft aneinander presst. Der Weg unter ihren Rollen ist tückisch, die Fahrtrichtung schwer voraus zu sagen. Sohnemann kichert. Das kleine Schwesterherz gibt sich solidarisch und schlingerd hektisch quiekend hinterher. Ihr Papa erhebt sich aus seinem schaffellüberworfenen Sessel, legt "Das lustige Taschenbuch" beiseite, schlurft gemütlich hinterher und fängt Mama auf, bevor sie fällt. Doch plötzlich erblickt der Augenwinkel Spannenderes und stutzt. Dann vernimmt das Ohr vielstimmiges Raunen.

Es klappert kurz und trocken. Ein gefiederter Kinderbote stolziert über den Campingplatz wie ein eitler Pfau. Von hupenden Autos lässt Meister Adebahr sich nicht beeindrucken. Wer seinen Weg kreuzen will, soll warten. Eine ganze Meute Neugieriger zieht er an und hinter sich her, während er gemessenen Schrittes den Campingplatz durchstreift.

Er weiß, er ist eine Sensation. Nur eine kleine, aber auch die muss man erst mal sein. Immerhin ist er das Wappentier im Elsass und bommelt als Plüschtierversion zigtausendfach in den malerischen Gassen der Dörfer in seiner Heimat.


Und er weiß auch, dass sein ungewöhnlicher Auftritt ihm die Herzen und jede Menge Essensbrocken zufliegen lassen wird. Wozu mühsam Frösche fangen? In loser Reihenfolge lässt er sich Käsewürfel, Baguettefetzen und Leberwurstflatschen in den Schnabel werfenDie trainingsbehosten Dauerwellenkugel giggeln, holen ihre Kinder, alles staunt. Fünf Meter entfernt knien sie sich hin, der kleine Blitz ihrer Fujifertigkamera flackert auf. Leider hat sich soeben der Hintern der dänischen Nachbarin ins Bild geschoben und fängt das Licht ab. Trotzdem ein schönes Bild für eine Reiseanekdote. "Hier hätte man eigentlich einen Storch sehen können. Der ist bei uns über den Campingplatz gelaufen. Wir haben ihn gefüttert. Das war sehr spaßig. Der Hintern gehört Frau Ulsgaard oder Frau Sörensen." Der Schwyzer Papa schmunzelt wieder durch seinen Schnurrbart, gibt seinem Sohn ein Fleischermesser in die Hand und sagt: "Gchescht dchamit mal zum Schtorch!" Später ruft der Schwyzer seine Kinder zu Tisch: "Kchommt, 's gibt Schtorchenrágú!"

Rechtswissenschaftlicher Lookalike-Contest?

In seltenen Momenten kann man beobachten, wie ich mit Scheren hantiere, von denen ich sogar drei besitze. Mit an "nie" grenzender Häufigkeit sieht man mich hingegen jemanden oder etwas scheren. Und noch viel seltener über einen Kamm. Und so wenig applausträchtig ich Vorurteile finde, so sehr sah ich meine irgendwo im schummrigen Dunkel meines Unterbewusstseins hausenden Klischees über Jura-Studenten bei meinem Gang vorhin durch den eckigen Innenhof der rechtswissenschaftlichen Fakultät bestätigt, die sich nahezu verblüffend deckten mit der Beobachtung, die eine Dozentin von mir vor einigen Semestern gemacht hat. Dass nicht alle Juristen gleich sind, dass es enorm sympathische Ausnahmen vom Mainstream gibt und ich mir argumentativ gerade den argumentativen Türvorleger unter den Füßen wegziehe, weiß ich und bestreite ich auch nicht. Vielmehr geht's hier eigentlich nur um folgende eindrückliche Episode:

Schmunzelprustend betrat Frau Dr. S. damals den Seminarraum in Literaturwissenschaft und scheiterte dauerhaft an dem Versuch, ihr inneres Schütteln vor Lachen mit einem Mantel aus seriöser Angemessenheit zu überdecken. Verwirrt und amüsiert über eine Dozentin, die wortlos an ihrem Schreibtisch vor dem Seminar saß und immer wieder zu kichern begann, runzelten wir die Stirn, wollten mitlachen und fragten nach. Daraufhin erzählte sie ihre gerade getätigten Beobachtungen und Gedankenspiele.

"Ich bin soeben auf dem Rückweg von der Universitätsbibliothek durchs Juridicum gelaufen und habe gedacht: Hier sehen doch fast alle Männer und alle Frauen derart gleich aus, dass man vermuten muss, dass allabendlich die falsche Freundin zum falschen Freund ins Bett steigt, weil sie gar nicht gemerkt hat, dass sie ihn mit jemand anderem verwechselt hat, der genauso aussieht und umgekehrt. Wahrscheinlich ist - rein optisch bedingt und ungewollt - nirgends die Fremdgehquote so hoch wie bei den Juristen."

Donnerstag, Oktober 27, 2005

Aus der Reihe "Antworten, mit denen man nicht unbedingt gerechnet hatte":
"Ich soll mit Dir Tretboot auf dem Aasee fahren? Okay, es ist windstill und wunderschönes Herbstwetter. Aber ich werd doch schon seekrank, wenn ich dusche!"

Mittwoch, Oktober 26, 2005

Heute wäre ein guter Tag, um sich an der Promenade in die Berge herabgetaumelter Blätter zu stürzen und Laub-Engel hineinzuwühlen. Mal schauen.

Erinnerungen einer Fahrt ins Elsass (II)

Bonsoir tristesse. Fast postsozialistischer Charme erfüllt die karge Klause links von der beschrankten Einfahrt des Campingplatzes "Pierre de Coubertin" in Ribeauvillé. Zwei trainingsbehoste Camper fläzen sich auf schäbigen Plastik-Monoblocksesseln. Das Gros des Raumes steht leer. Selbstverloren kräuseln sich graue Linien aus Staub auf dem abgewetzten Linoleumfußbodenbelag. Einige verblichene Poster hängen seit Jahren an der Wand. Bedruckt sind sie mit sehenswertem Fachwerk, zigtausendfach geknispten Fassaden. An die Zeit, bevor sie hier angepinnt wurden, können sie sich nicht mehr erinnern.

Die Dartscheibe und die umgebende Wandtapete dahinter bemuttern ihre Stichwunden. Doch die Schmerzen lassen nach. Am wenigstens schmerzt die Scheibe noch die Bull's-Eye-Gegend. Hauptsächlich ihre Randbereiche puckern noch von den Einstichen. Für heute abend werden sie Ruhe haben. Fast niemand ist da. Und die einzigen Gäste, die gefährlich werden könnten, hängen wie ein Schluck Wasser in der Kurve in ihren Plastiksesseln und trinken schales Kronenbourg.

Die hakennasige Rezeptionistin kokelt gewaltig an Papas Geduldsschnur, die alsbald Feuer fängt. Was uns denn einfiele, einfach bis zur Schranke vorzufahren, anstatt brav auf den dafür vorgesehenen Anmeldeparkplatz vor dem Gelände anzuhalten. Ob wir vielleicht gar eine versteckte Waschmaschine und einen Trockner in unserem Wohnwagen mitführen. Dass wir uns gar nicht einbilden bräuchten, nach 22 Uhr mit dem Auto noch auf das Gelände fahren zu können. Alimentation nur zwischen 8 und 9 Uhr, je nach Laune aber auch ne Viertelstunde kürzer.

Kleine Rauchwolken meint man noch Tage später über dem strubbelfrisierten Kopf meines Vaters wahrzunehmen, wenn er daran zurück denkt, flankiert von grimmigem Grummeln. Doch verfliegt dies flink wieder, schließlich ist der eigentliche Urlaub enorm entspannend und nett.

Ein Niederländer mit zerknautschtem Bulldoggengesicht kniet auf seinem Terrain und montiert ein riesiges Stahlstativ samit seiner Satellitenschüssel. Doch die Feinjustierung wirft Probleme auf. Der Kontakt ins Weltall stockt noch. Sinuskurvige Dauerpiepstöne begleiten sein Hantieren. Die Dänen haben die Feierabendhosen ausgepackt. Das Bier schmeckt, scheint's. Eine einsame Fußmatte liegt reglos auf ihrem Stellplatz. Zwei Paar Badelatschen langweilen sich darauf. Das dazugehörige Wohnmobil ist noch unterwegs. Drei Kinder toben, vor Freude quietschend, auf dem riesigen Spielplatzgerüst. Rumms! Einer fällt die Kletterleiter runter. Seine grüne Mütze ist runtergefallen. Er plärrt glasklirrend. Mama kommt angerannt. Ist ja alles gut. Der Mond schimmert fahl durch die feuchtkalte Nebelplüschdecke, die sich zur guten Nacht auf den Wald und vor den Flur gelegt hat. Kniehohe Positionslampen weisen mit buttermilchigem Schein den Weg zu den Campingwagen wie Leitlichter einer Flugzeuglandebahn. Der Bauch wölbt sich zufrieden und erschöpft von mächtig leckerem und lecker mächtigem Essen. Ohne anzuklopfen klettert die Nachtkälte durch kleine Ritzen in den noch wohlig warmen Wohnwagen und erzittert sogar vor sich selbst, als der Heizlüfter ausgeschaltet ist.

Dienstag, Oktober 25, 2005

Bedingt Wissenswertes

Gurunüsse wachsen am Stinkbaum.
Wer genau war eigentlich "Onkel Hansi"?

Montag, Oktober 24, 2005

Eindrücke einer Reise ins Elsass (I)

Winzige Dörfchen kuscheln sich wie schlummernde Katzen an weinüberrankte Hügel. Goldherbstliches Licht rieselt vom Himmel, in dem die verwinkelten Gässchen mit den malerischen Fachwerkfassaden regenbogenpastellen schimmern. Einige Serpentinen aufwärts klammern sich gedrungene Hütten mit sorgenzerfurchter Miene an den Hang. Seit Jahrzehnten leben sie mit der Angst, herunter zu purzeln und abzustürzen. Fest gemauert in der Erden thront alle paar Kilometer eine graufelsige Burg. Ein Landwirt auf einem weinroten McCormick eggt sein steiles Feld und krault dem Berg den Fuß. Die schelmisch gelben Rebenreihen auf den Bergterassen haben sich mit Goldpuder bestäubt.

Überall herausgeputzte Farbenfreude. Sich selbst zur Freude, vor allem aber für die Gäste. In malerischen Flecken wie Riquewihr, Ribeauvillé oder Kayserberg – der Heimat von Dr. Albert Schweitzer – lebt man ein wenig wie im Zoo, die idyllischen Flecken gleichen eher in bewohnten Freilichtmuseen. Im Innern quillt dickfleischige Touristensuppe durch die engen Gassen. Wird busseweise herangekarrt, hineingepfropft, abgefüllt, vollgestopft, ausgenommen. Regenschirme ragen wie Zahnstocher der Orientierung aus der schwabbelnden Masse – die quasselt und folgt blind, drückt sich die breitflügligen Nasen platt, auch an Fensterscheiben zu bewohnten Zimmern. Mal schauen, wie wer wohnt, der hier wohnt. Kaum ein Winkel, der nicht schon auf Zelluloid oder Chip gebannt ist.

Hinter vorgehaltener Hand gähnen die Häuser von Riquewihr, setzen aber ihr routiniertes Lächeln auf, tragen tapfer ihr farbiges Trachtenkleid. Sie lassen sich begrabbeln und halten still für die sirrenden Fotoapparate. Sie kennen das Prozedere seit Jahrzehnten, die angekarrten Horden, das Schieben, das Wuseln, die staunenden Münder, die verzückten Augen, das volkstümliche Gebrabbel. Unter der Woche, erst recht am Wochenende. Sie machen sich nichts mehr draus. Die Gesichter, die sie begaffen, wechseln und ähneln sich doch frappierend. Gerundete Geronten, die reizüberflutet vor Begeisterung schnurren, Dauerwelle, sich lichtendes Deckhaar. Wenige Ausnahmen. Die Hälfte ihrer Blicke geht durch den Sucher der Kamera. Erika, Gisela… noch etwas näher zu Werner, und jetzt lä - cheln!

An den Fassaden klappern unzählige Holzschilder. „Plat du jour“, „menu du jour“, Baeckaouffa, tartes gratinées. Venez nombreuses ! Kommt, trinkt, schlemmt, lasst uns Euer Bestes. Und wenn Ihr satt seid: Wir haben auch noch kitschige Putten, quietschbunte Ansichtskarten, lieblos bedruckte Steingutbecher mit dem Rathaus, Anhänger, Wimpel und Plüschstörche, die auf Fingerdruck mit ihrem Bauchlautsprecher scheppern und Lieder krähen können.

Kleine Kinder aus dem Dorf in Trachten tanzen einen Ringelreigen auf dem Kopfsteinpflaster und trällern muntere Kinderlieder. Die Augen des flanierenden Publikums glänzen, die Kamerablitze zucken. Es gibt Kaffee und Kuchen, selbstgebacken. Unten am Rathaus bollert „le petit train“. Gleich ist wieder Abfahrt. Ein als Dampflok verkleideter kleiner Trecker deportiert zahlkräftige Touristenschafe quer durch das Gassengewusel, die schlängelnden Straßen hinauf in die rebenschwangeren Weinberge über dem Dorf. Wer mag, garniert seinen Kopf mit Kopfhörern und kann sich via Bandschleife Wissenswertes zu Ort und Geschichte ins Ohr blöken lassen.

Tresterreste gären in den Seitengassen und legen - zusammen mit den Krügen voll Federweißem – säuerlichsüße Schwaden zwischen die Giebel, die das Hirn in samtigen Dämmer tauchen, die Poren weiten und Fruchtfliegenschwärme anlocken. Rebensaft fließt hektoliterweise. Anakreons Jünger frönen in sanguinischer Heiterkeit ihren Leidenschaften: Wein, Weib und Gesang. Fettige Wurst mit Sauerkraut (Choucroute) und dick mit Käse, Sauerrahm und Speck überbackene Flammkuchen glänzen zentnerschwer in ihren Mägen. Hoch das Glas! Elsässischer Wein…schenk noch mal ein! Juhejuhe, der Wein ist da! Die Tonnen sind gefüllt; drum lasst uns fröhlich sein und juhejuhejuuu aus vollem Halse schrei’n!

Vor der großen Schänke am Wehrtor bewegt sich die Masse und aus der amorphen Menge formiert sich ein volkstümelnder Männergesangverein, baut sich auf und beginnt unter weinseligem Schwanken urdeutsche Weisen zu grölen. Wenn zu mei’m Schätzel kommscht, sag I lass grüßen… O Täler weit, o Höhen, o schöner grüner Wald… Thüringische Mädchen… Heißa Kathreinerle, schnür Dir die Schuh… Vom Weingeist beseelt und befeuert überschlagen sich ihre Stimmen. Das dauergewellte, halbbeglatzte Publikum johlt Beifall in einem krummschiefen Halbkreis um die Sängerhorde herum. Die schwarzen und silbernen Kameras tanzen vor den bebenden Bäuchen, während ihre Träger ihre fettglitzernden Hände mit Schmackes zum Klatschen ineinander schmettern. Wir sind nicht in Rüdesheim in der (Schnaps-)Drosselgasse, doch der (Wein)Geist ist hier ein fast identischer.

Und doch: Ein paar Winkel abseits der Hauptgassen lassen sich erschleichen, in denen man die zarte Schönheit der Dörfer auf sich wirken lassen kann und einem kein anderer Tourist auf die Füße tritt, um sich danach in breitem Pfälzisch zu beschweren, wieso man denn im Weg steht. Alsace, die malerische Schöne, die Zartwangige, Farbenfrohe mit üppigen Rundungen. Die Fremden liegen ihr zu Füßen. Ihre versteckteren Ecken, die unerforschteren Winkel haben auch mich verzaubert.

Freitag, Oktober 21, 2005

Heute nehme man nicht Dr. Oetker, sondern ein gebundenes Buch zur Hand. Irgendeines. Welches, ist egal. Und dann kann man sich fragen, ob der Schutzumschlag bei gebundenen Büchern in Wirklichkeit niemanden schützt, sondern vielmehr so heißt, weil er vom gesamten Buch den meisten Schutz benötigt, damit er nicht kaputt geht.

Kommunikationsstörungen im Regionalbus

Stapelskotten am Freibad. Eine einsame Bushaltestelle döst gelangweilt an der wuseligen Bundesstraße stadteinwärts. Ein frisch rasierter Student wartet auf den R22, der ihn von dieser entlegenen Stelle vor den Toren seiner Wahlheimat in die Innenstadt tragen soll. Auf dem Plan stehen "Hauptbahnhof, 11.19h" und "Stubengasse, 11.24h (Endstation)" als Ausstiegsmöglichkeiten zur Wahl. Wo war doch gleich die Stubengasse? Einer dieser Straßennamen in der eigenen Stadt, denen man zigfach begegnet ist, die man geografisch aber nicht im Geringsten einordnen kann. Vorsichtshalber einfach mal fragen, denkt er sich, als der Bus in die Haltebucht saust und mit quietschenden Bremsen zum Stillstand kommt.

Student (bemüht sich, höflich und freundlich zu sein):
"Verzeihen Sie die kurze Frage, aber könnten Sie mir kurz sagen, wo genau in der Stadt sich die Stubengasse ist? Ich überlege, ob ich lieber vom Hauptbahnhof in die Stadt laufe oder von der Endstation aus."

Busfahrer (antwortet in breitem westfälischem Dialekt):
"Stubengasse is die Endstation. Da müssense aussteigen."

Student:
"Das weiß ich. Ich frage mich nur, w o die Stubengasse sich innerhalb der Stadt denn befindet. In welchem Teil, in der Nähe wovon, weil ich mich hier zwar auskenne, aber den Straßennamen geografisch nicht zuordnen kann."

Busfahrer:
"Weiter als da könnense eh nicht fahrn."

Student:
"Dessen bin ich mir bewusst. Ist es aber näher in die Innenstadt vom Hauptbahnhof oder von der Stubengasse aus?"

Busfahrer:
"Sie können an beiden Haltestellen aussteigen. Wir halten an beiden."

Student (geht Haare raufend und grummelnd ab, setzt sich auf einen Sessel und wird sich überraschen lassen).

Donnerstag, Oktober 13, 2005

Sick of Sick

Um Zeit zu sparen, hatte Ada ihre zwei Scheiben Mehrkornbrot schon vor dem Gang ins Bad in den Toaster gesteckt, auf dass er die Beiden schnurrend knusprig röstete, während sie sich unter der Duschbrause erfrischte. Erst einmal in der milchverglasten Kabine mochte sie sich gar nicht mehr recht trennen vom wohligwarmen Tröpfchenregen, spielte an der Mischbatterie, drehte warmes Wasser nach. Fast eine halbe Stunde lang. Von Zeitersparnis konnte keine Rede mehr sein.

Jetzt befühlte sie die zwischenzeitlich knusprigen Brotscheiben. Schlapp wie kalte Pappe. Klack. Schnurr noch mal für mich, Toaster. Währenddessen zündete sie sich ihre Guten-Morgen-Zigarette an, sog daran, lehnte sich entspannt zurück und ließ ihre Rauchwolken im milden Herbstlicht tanzen, das schräg durch das Küchenfenster hereintropfte.

Zu viel Stress in der letzten Zeit. Allen alles recht machen zu wollen, war ein Himmelfahrtskommando. Bis übermorgen abend musste sie noch ihren Essay über „Die Fotografie im Lichte Walter Benjamins“ eingereicht haben. Doch die turbulenten letzten Wochen hatten sie ausgelaugt, Erschöpfung hatte sich wie eine dicke, schlafende Katze auf ihren Kopf gelegt und ihre sonstige Spritzigkeit in dumpfem Dämmer ertrinken lassen. Ihr Ideenfluss war ausgetrocknet wie ein Wadi in der Wüste.

Mehrfach hatte sie in den Tagen zuvor angesetzt zu schreiben, doch die Worte waren blass geblieben wie Bluterkranke, trübschlaff und lustlos reihten sich die Sätze aneinander. Der wahnsinnige Professor Doktor Stress hatte sie überfallen, in sein Labor gezerrt, sie zum Aderlass gebeten, ihre Fantasie zerrieben, bis sie in winzige Krümel zerbröselt war. Ihre Sprache war seitdem an den Nahtstellen abgeschabt, war bis auf das knöcherne Gerippe abgemagert. Sie holperte unbeholfen umher, beinahe leblos, mit trockenem Mund, leerem Blick, verwaschen und ausgeblichen.

Klack. Der Toaster warf die Brotscheiben hoch, die nun zwar bretthart, aber immerhin knusprig waren. Ada quetschte ihre Zigarette im überfüllten Ascher aus. Einige Ascheflocken lösten sich von der Glut, segelten noch einige Momente im Gegenlicht und legten sich dann auf der Tischplatte schlafen. Sie warf das Brot auf den flachen Frühstücksteller, schnitt mit dem Messer durch die Butter, rührte in der Marmelade, schmierte beides darauf und biss kräftig hinein.

Nebenbei blätterte sie gedankenverloren im Kulturspiegel. Irgendwo aus der Mitte des Heftes drang Genörgel. Ein oberlehrerhafter Zeigefinger wedelte zwischen den Heftseiten hervor. Verächtliche Überheblichkeit quoll hinterher. Sie blätterte schneller, um den Ursprung dieses seltsamen Treibens aufzudecken. Als sie ihr Ziel erreicht hatte, gähnte Ada laut. Der neueste „Zwiebelfisch“. Bastian Sick, der Sprachpolizist, hatte sich neue Opfer gesucht und verteilte hektisch Strafzettel wegen Verstößen gegen das strikte Regelwerk der deutschen Sprache.

„Wie öde wäre die Sprache wohl, wenn alle so sprächen wie Sick? Keine Ecken, keine Kanten. Angetreten in Reih’ und Glied! Bei Sick ist die deutsche Sprache wie ein Stadtpark, in dem das Betreten der Grünflächen verboten ist“, wuselte es durch Adas Kopf. Blitzsaubere, blütenrein gewaschene Sätze wie schüchterne Kinder, die sich mit akkurat gekämmtem Seitenscheitel, sauber manikürten Fingernägeln und geschniegelten Bügelfaltenhosen kerzengerade an den Tisch setzen, denen es verboten ist, zu spielen oder selbst zu denken, und die erst sprechen dürfen, nach denen Papa ihnen das Wort erteilt hat. Eiskalt und sentenziös. So lebendig und munter wie der Linoleumfußboden im Katasteramt. Vive la bureaucratie!

Alles hat seine Ordnung, die gilt jetzt und immerdar, hat eingehalten zu werden, und wer gegen die Hausregeln verstößt, wird mit dem Lineal auf den Handrücken in die Büßer-Ecke gestellt oder mit Zimmerarrest weggeschlossen, bis er reumütig winselt und mit Tränen in den Augen gelobt, nie wieder dem Dativ statt des Genitivs zu benutzen, nur weil er grad schneller zur Hand war.

Wir haben ja nichts gegen originelle Ideen, aber bitte nur dann, wenn sie nicht gegen unsere strikten Vorgaben verstoßen. Vorher die Schuhe ausziehen, nur die Spiele aus dem linken Regal benutzen, alle Teile danach wieder einordnen und den Karton zurückräumen, und nach Feierabend ist spielen generell verboten. Fantasie ist nicht dringend notwendig, wichtig ist Kenntnis und ausnahmsloses Befolgen des deontologisch festliegenden Grammatik-Katalogs. Lieber eine Sprache, die so dürr und staubig ist wie ein Trockenfurz, als dass wir uns von bunten, lauten, krähenden Wörtern auf der Nase rumtanzen lassen, wir sind doch nicht im Kindergarten! Anarchie ist etwas für den Pöbel. Wir sind zivilisiert. Wir bevorzugen tonlose, schlichte, fade Farben, aufgeräumte und entschlackte Sätze mit der Sterilität eines Notizzettels, antiseptisch, klinisch rein, unbeweglich, starr und herzlos. Ansonsten könnte man sich ja noch anstecken, und man weiß ja, wohin das führt, man selbst und die Sprache wird krank.

Die heimtückischen Viren beißen sich fest in der Sprache, verseuchen sie mit ungebührlichen Wortverwendungen, werfen im Wohnzimmer der Worte die Schränke um, reißen Schubladen auseinander, lassen die stinkenden Socken mitten auf dem Teppich liegen, räumen ihr Geschirr nicht weg, kleckern beim Trinken und waschen sich nicht. Und nach kurzem ist das Haus der Sprache ein Saustall, verwüstet, unordentlich, ein Chaos, indem man sich nicht mehr zurecht findet, ein lärmender Moloch voller unziemlicher Banausen. Das ist es, worauf wir zusteuern, Meine Damen und Herren, und deswegen habe ich auch mein zweites Buch auf den Markt gebracht, das sie bitte allesamt kaufen und dessen Weisungen Sie bitte alle Folge leisten, sonst setzt es was.

„Meine Herren, geh’ kacken, Du besserwisserischer Breitmaulfrosch, Du ewiggleicher bürokratischer Schablonenscheißer, Du Johann Joseph Fux der Alltagssprache, Deine Sprache ist wie ungewürztes Essen“, erzürnte sich Ada, als sie die Zwiebelfischkolumne mit ihrem Blick weiter durchschnitt. Und plötzlich spürte sie, wie ihre abgeschabte Sprache sich aufbäumte, das Leben in ihr schon aus sträubendem Widerwillen gegen den sick’schen Regelkatalog wieder zu sprudeln begann

Versalzene Wespen

Einer meiner besten Freunde hat mir gestern gebeichtet, dass er als Kindergartenkind geleimt wurde. Man hatte ihm glaubhaft gemacht, dass man eine um ihn herum schwirrende Wespe vor allem dadurch davon abhält zu stechen, indem man unentwegt und mantraesk „salzigsalzigsalzigsalzigsalzigsalzigsalzig
salzigsalzigsalzigsalzigsalzigsalzigsalzigsalzigsalzigsalzigsalzig“ sagt. Für einen Moment dachte ich: „Das hätte auch von Ralph Wiggum kommen können.“

Dienstag, Oktober 11, 2005

Ein sicheres Zeichen, dass das neue Semester naht, ist, wenn man mal wieder beinahe von einem Erstsemester mit dem Fahrrad gerammt wird, dem während der Fahrt gerade der Stadtplan ins Gesicht geweht ist.
A: "Von welchem Regisseur war denn auch noch mal der letzte Film mit Bill Murray - 'Die Tiefseetaucher'? Der hat doch auch die "Royal Tenenbaums" gemacht."

B: "Ist das der, wo die plötzlich wieder über Wasser sind und dann ist plötzlich das Schiff weg?"

Montag, Oktober 10, 2005

Wo rohe Kräfte...

Schön, dass ich mich immer noch wieder selbst überraschen kann. Am Samstag abend habe ich meine beinahe vergessenen Supermankräfte wiederentdeckt und kurzzeitig die Kontrolle darüber verloren, als ich spontan beim Versuch, das Wasserhahnkrahnschwenk-Nupsi ein kleines Stück herauszuziehen, gleich das gesamte Stahlrohr abgebrochen und durchgerissen habe.

Willkommen in der Stadt

Das Lied der Stadt. In meiner vorherigen Wohnung stand ich eher am hinteren Ende der Publikumsmenge, und der Wind wehte nur sachte die verhallten Klänge des Geräuschgewühls an meine Fenster. Jetzt, mit dem Umzug, bin ich mitten in den Pulk vor der Bühne gesprungen, lebe mit dem Ohr an den Boxen. Noch traue ich mich nicht, mit offenen Fenstern zu schlafen. Denn gerade an der stark befahrenen Kreuzung, an der ich wohne, grollen und brüllen die anfahrenden Sattenschlepper wie eine Horde Löwen, Mofas krähen durch meine Bude, notbremsende Reifen quietschen mich aus dem Schlaf. Hupen beschweren lautstark. Unter mir zerhackt der orientalische Schlachter Schweinehälften, über mir versucht ein Punkrocker auf seinem Stratocasternachbau neue Riffs zu schreiben. Martinshörner im Viervierteltakt jaulen sich in Mark und Bein. Pressluftbohrer rattern, wuppern, lassen das Betonpflaster zersplittern. Hundert Meter weiter klappert ein Güterzug mit hartem, klopfendem Geschepper über die Stahlbrücke, rast ganz erregt heran, darüber fort, fort über alles.

Nachts überschleudert die Gehörnte ihren Peiniger mit einem wüsten Wust verbitterter Schimpftiraden. Vielleicht bin ich erst jetzt in der Stadt angekommen. Im blinkenden Lichtermeer, in dickflüssigem, geliergezuckertem Verkehr, der zäh durch die Straßen quillt und dröhnt. Doch hier pulst das Leben, hier vibriert die Stadt. Nur wenige Meter springe ich weiter, und schon bin ich im Raketencafé, um mit Gleichgesinnten in nostalgisch krudem Flair Tatort zu gucken, ein paar Meter vorher die Watusi Bar - schummrige, hippe Cocktaillounge. Auch zum Kreativkai mit seinen rostigen Kränen und neureichen Designerschuppen zu spucken ist jetzt ein Leichtes. Willkommen im urbanen Leben sage ich zu mir selbst, öffne das Fenster, spähe ins bronzene Herbstmorgenlicht, das den Himmel milde durchschwirrt, schließe das Fenster wieder und lege mich noch eine Runde schlafen.

Samstag, Oktober 08, 2005

„Lasterhaftigkeit ist ein Mythos, den gute Leute erfunden haben, um die merkwürdige Anziehungskraft anderer zu erklären.“ (Oscar Wilde)

Freitag, Oktober 07, 2005

Mein Wort der Woche: Plüschaugen
Vor kurzem habe ich erfahren, dass Schellackplatten genau so leicht entzündlich sind wie ein Eimer Diesel. Einen hilfreichen Ersatz für spritpreisverdrossene Lastwagenfahrer stellen sie wohl trotzdem nicht dar.

Donnerstag, Oktober 06, 2005

Zata czysz?

Ich selbst war bisher noch nie in einer polnischen Universitätsstadt. Aber ich könnte eine dortige Bekanntschaft mit den Worten "Napijesz si czego? Czy pójdziesz ze mn na imprez dla studentów pierwszego roku?" fragen: "Willst Du was trinken? Kommst Du mit mir auf eine Erstsemesterparty?". Der Rest des Abends bliebe - bis auf wenige weitere Sätze, die man der aktuellen "Unicum" entnehmen kann - auf nonverbale Kommunikation beschränkt. Auch nicht unbedingt schlecht. Der einzig kleine Haken an dem eigentlich großartigen Service des Studentenblattes bleibt, dass keine erwartbaren Entgegnungen übersetzt werden, sodass ich zwar einladen und fragen kann, aber zum Raten verdammt wäre, wenn ich die Antwort bekomme.

Mittwoch, Oktober 05, 2005

Wurst Case Scenario


In meinem Umfeld nimmt die Tendenz zu, dass eine Party nicht mehr nur einfach eine Party sein darf. Gute Musik, klasse Leute, fröhliche Feuchte mit richtigen Getränken und hervorragende Laune, vielleicht angereichert um Chips, Flips, Salate und Kräuterbaguette reichen einigen nicht mehr. Nicht selten durchaus originell und pfiffig, manchmal aber auch enorm verkrampft wird der Party ein programmatisches Motto übergestülpt. Sei es Bad Taste, Rausch und Tausch, Porno oder Zu viel von irgendwas. Man erscheint - dem Anlass und Motto entsprechend gekleidet -, bringt angemessene Mitbringsel mit, wandelt in einer dem Motto angemessen dekorierten Partyatmosphäre und fühlt sich irgendwann unter Umständen gar dem Motto entsprechend. Die Privatparty als Event mit corporate identity und design. Wem nun die Idee ins Genick hpringt, dass er gern eine Wurst-Origami-Party veranstalten möchte, oder wer die mitessenden Augen der hungrigen Gäste mit besonders ausgefeilten Fleischwarendekorationen umschmeicheln möchte, darf hier einen Blick riskieren. Denn - wenn auch auf japanisch - bekommt man sehr ausführlich demonstriert, wie man schnellstmöglich aus einer schnöden Wurst einen Hai, ein Kaninchen, apokalyptische Reiter, Drachen, Tulpen, Elefanten oder Bienen schnitzen kann. Bisher haben die Kreationen bei eigenen Parties von mir noch keine Anwendung gefunden, aber so habe ich ja immer noch einen Trumpf in der Hinterhand. Inwiefern solcherart zurechtgeschnitzte Würstchen aber überhaupt die Gäste in Verzückung versetzen, bleibt nachwievor nebulöser Ort heikelster Spekulationen. Der entsprechende Sonderforschungsbereich an der Universität Harsewinkel wurde vor Kurzem eingestellt.
Vermutlich führt die Hand von allen menschlichen Gliedmaßen das eigenständigste Leben.

Dienstag, Oktober 04, 2005

Heute ist Tag des Kruges. Später werde ich mein Pint erheben und gen Irland prosten (und Dortmund).

Ompa bis zum Umfallen!

Auf der Hinfahrt hat sich der Wortspielgott in den Kofferraum unseres OP-Kittel grünen Polos gekauert. Mit sanftem Ansteigen drückt er auf Julianes Blase, so dass ihr ausgerechnet in Müssingen einfällt, dringend zu müssen - woraufhin unser Polo sich kurz später auf einen Feldweg zwischen zwei vollreife Maisfelder verkrümelt. Das Ziel sind die rußverdunkelten Backsteinhallen des Bielefelder Ringlokschuppens, um eine scheppernde Ladung norwegischer Endorphinschübe zu tanken: Kaizers Orchestra live. Leichte Nebelschwaden kriechen die Felder hinauf, aus goldgelben Kastanienkronen plumpsen vereinzelt die reifen Früchte und zerplatzen auf der Windschutzscheibe, überall scheint Erntefest zu sein. Doch irgendwann sind die ostwestfälischen Landstraßen durchkurvt und der Zielparkplatz erreicht. Bei weitem nicht so spektakulär wie der vereiste Gletscher in Norwegen, hoch überm Fjord, auf dem sie vor einiger Zeit gespielt haben, aber doch zünftiges Ambiente. Eigentlich hätte ich auch tags zuvor schon hier sein wollen - Kettcar - aber alles geht nicht, und nachdem ich die Hamburger schon mehrfach gesehen habe, waren Kaizers Orchestra die weitaus spannendere Wahl.

Grummeln über die pfandfreien Bierpreise von 3 € wabert zäh in der kargen Konzerthalle und durchklettert gleich ein ganzes Netz von Diskussionen. Doch als diese langsam verebben, senkt sich das Licht. In den fahlblauen Lichtkegel schlendert ein einzelnes beglatztes Männchen mit Akkordeon: Der kanadische Schalk Geoff Berner. Fünf Stücke lang wiegt er sich zur Quetschkommode wie eine junge Ulme im Herbstwind, singt kehlige Lieder über Fliegen, die ins Whiskeyglas stürzen oder in den vierziger Jahren aktive europäische Despoten, zaubert mit seinem selbstironischen Holzfällerhemdhumor Schmunzelfalten in die Mundwinkel des Publikums, ehe er die Bühnentreppe hinunterklettert, denn die eigentlichen Helden verstecken sich noch.

Licht aus. Vorfreude im Dunkel.

Nur unter einem vergilbten Lampenschirm auf der Pumporgel schimmert schummriges Licht hervor. Erst zögerlich zerflossene zehn Minuten später hopst Rune, der strubbelbärtige Schlagzeuger auf die Bühne und beginnt mit Schmiss und Schmackes, geschmeidig loszupoltern, dängelt auf seiner blechernen Mülltonne, drischt in die Felle. Eins seiner Becken ist geborsten, sodass sich eine krumme Messinglocke davon abgespalten hat, die windschief in die Höhe ragt. Etwas später kugelt Jon, der bullige Bär am Bass dazu und lässt schwungvoll die tiefen Töne grooven, ehe der schrullige Tastentiger Helge mit seiner legendären Gasmaske auf dem schnurrbärtigen Glatzkopf hinterherstolpert. Schwungvoll sausen ihm die Gitarristen hinterher, ehe Janove, der strubbelköpfige Frontmann mit Koteletten, groß wie Rahsegel an einem Windjammer, auf die Bühne schlendert. Rund um ihn herum fliegen die Funken, lärmt, groovt und kracht es. Er selbst gießt sich jedoch zunächst etwas Merlot in sein Glas und grinst verschmitzt in die wogende Masse.
Noch wickelt er nur das Mikrokabel um seinen Finger, doch er weiß, die Menge wird folgen. Ein paar kurze Scherze über den rotkrawattigen Schwarzhemd- partnerlook des Fronttrios noch und dann geht die Post ab. Ein anderthalbstündiger Parforce-Ritt, noch liegt er vor dem Publikum.

Ihr wisst nicht, was eine Harke ist? Dann passt mal auf. Gleich zu Beginn fliegen die Gitarren kurzzeitig an die Seite und Geir und Terje, die Gitarreros schnappen sich Eishockeyschläger, um mit präziser Wucht ein rhythmisches Feuerwerk aus Ölfässern und Autofelgen zu prügeln, als sei ihnen ein neckischer Zwergtroll ins Ohr gehüpft. Und wie in einem Ölfass auf höchster Flamme lassen sie auch ihr musikalisches Gemisch brodeln. Was schon auf Platte mitreißt, begeistert hier vollends. Messerscharfer Rock und wüste Ompa (die norwegische Polka) fliegen in einen Topf, Surfgitarren, zartschmelzende Akkordeonschleifen, gemütlich wippende Basslinien, ohrwurmende Melodien. Dynamisch ist hier Achterbahn. Herbstmelancholisch weiche Chansons mit tief hängenden Akkorden wie das zarte Geäst von Trauerweiden werden gefolgt von locker flockig tanzenden Gute-Laune-Fegern, ehe sie den Tempomaten kurzzeitig auf Vollgas stellen und durch wirlbelwindig wuselnde Hochgeschwindigkeitspolkas jagen, als seien die Götter verrückt geworden und sie davor auf der Flucht. Schweißperlen glitzern auf der Stirn, das Tanzbein zuckt, entrückte Ekstase im Publikum, auch Rune hinter der Schießbude hat sich inzwischen das Jackett vom Leib gerissen und hämmert im Hemd weiter. Die Feiern zum Tag der innerdeutschen Einheit mögen morgen folgen, heute wird die norwegisch-deutsche Einheit zelebriert. Der Saal kocht, johlt, jubelt. Wer sie kennt, singt die Melodien mit. Bei den Texten erinnert es aber ein wenig an die Zeit, als meine Klassenkameraden in der Grundschule David Hasselhoffs "I've been lookin' for freedom" mitsingen wollten und daraus, weil sie bislang kein Englisch konnten, originelle Nachdichtungen wie "Luckefuckefiedem" machten. Auch hier nur verlegenes Silbenraten. Wer spricht schon norwegisch? Doch: Na und! Schietegal. Das wichtigste ist doch die Musik, und die ist großartig. Mitgerissen in einen skurril-abseitigen Strudel, nassgetanzt und schweißgebadet taucht man ein in der Musik der norwegischen Querköpfe.
Selbstironisch verhehlen die Jungs auch kaum ihre kommerziellen Absichten, fordern das Publikum unentwegt und augenzwinkernd auf, nach dem Konzert auch ja alle Platten zu kaufen. Im Gegenzug zeigt Janove sich großzügig und schenkt dem Publikum seine halbvolle Merlot-Flasche. Geben und nehmen. Viel zu schnell saust die Zeit vorbei, ehe plötzlich auch die Zugaben wie vom Winde verweht sind. Was bleibt? Ein Konzert, bei dem Genie und Wahnsinn gemeinsam ihr Lieblingslied gesungen haben, Dich an der Hand gepackt und durch die Luft geworfen haben, ein bauchkribbelnd begeisternder, restlos begeisternder Abend. Und da grad keiner der Kaizers hier ist, wiederhole ich die Botschaft: Wer noch keine Platte von Kaizers Orchestra im Regal hat - flitzt in den nächsten Laden Eures Vertrauens und ändert das! Und dann sehen wir uns auf dem nächsten Konzert, wenn es wieder heißt: Ompa til du dør.

Montag, Oktober 03, 2005

Leuchtkugel.