Das Lied der Stadt. In meiner vorherigen Wohnung stand ich eher am hinteren Ende der Publikumsmenge, und der Wind wehte nur sachte die verhallten Klänge des Geräuschgewühls an meine Fenster. Jetzt, mit dem Umzug, bin ich mitten in den Pulk vor der Bühne gesprungen, lebe mit dem Ohr an den Boxen. Noch traue ich mich nicht, mit offenen Fenstern zu schlafen. Denn gerade an der stark befahrenen Kreuzung, an der ich wohne, grollen und brüllen die anfahrenden Sattenschlepper wie eine Horde Löwen, Mofas krähen durch meine Bude, notbremsende Reifen quietschen mich aus dem Schlaf. Hupen beschweren lautstark. Unter mir zerhackt der orientalische Schlachter Schweinehälften, über mir versucht ein Punkrocker auf seinem Stratocasternachbau neue Riffs zu schreiben. Martinshörner im Viervierteltakt jaulen sich in Mark und Bein. Pressluftbohrer rattern, wuppern, lassen das Betonpflaster zersplittern. Hundert Meter weiter klappert ein Güterzug mit hartem, klopfendem Geschepper über die Stahlbrücke, rast ganz erregt heran, darüber fort, fort über alles.
Nachts überschleudert die Gehörnte ihren Peiniger mit einem wüsten Wust verbitterter Schimpftiraden. Vielleicht bin ich erst jetzt in der Stadt angekommen. Im blinkenden Lichtermeer, in dickflüssigem, geliergezuckertem Verkehr, der zäh durch die Straßen quillt und dröhnt. Doch hier pulst das Leben, hier vibriert die Stadt. Nur wenige Meter springe ich weiter, und schon bin ich im Raketencafé, um mit Gleichgesinnten in nostalgisch krudem Flair Tatort zu gucken, ein paar Meter vorher die Watusi Bar - schummrige, hippe Cocktaillounge. Auch zum Kreativkai mit seinen rostigen Kränen und neureichen Designerschuppen zu spucken ist jetzt ein Leichtes. Willkommen im urbanen Leben sage ich zu mir selbst, öffne das Fenster, spähe ins bronzene Herbstmorgenlicht, das den Himmel milde durchschwirrt, schließe das Fenster wieder und lege mich noch eine Runde schlafen.
8 Wortmeldung(en):
Fast wie im richtigen Leben, sagt der Polt(er)geist.
Lass knacken, alte Knackwurscht und genieß deine neue Großstadtidylle bis auch dich der Schmelztiegel Berlin hinunterzieht in seine heißen und ätzenden Eingeweide.Yeah, baby, yeah!
10/10/05 15:01
Vielleicht komm ich Ende November. Am 21.11. spielen dEUS, was - neben den sowieso schon unzähligen Gründen, endlich mal wieder nach BigBerlin zu düsen, noch ein weiterer exzellenter Grund ist...
10/10/05 15:04
Und bis dahin versuch dich halt damit zu trösten:
Neil Diamond - beautiful noise
11/10/05 02:29
Der November, Herr Ole, ist ja einer der besten Monate, um Berlin in seiner ganzen glamoureuxen Schäbigkeit und Brutalität zu erleben. Melden Sie sich auf jeden Fall.
11/10/05 12:08
Ach, und im Kreativkai ist ja Dienstag und Donnerstag immer Markt in einer der Hallen und ich mochte die Atmosphäre so, dort am Wasser langezugehen, vorbei an den Verbotsschildern (weil dort kein öffentliches Gelände ist) nur um ein phantastisches Stück Kuchen (Pflaume-Zimt!) und einen guten Capuccino zu trinken.
11/10/05 16:41
Willkommen in der Stadt, Ole! Diese Geräuschbeschreibung hat mir sehr geheimelt, und ich kann Dir versichern, dass Du Dich auch an die 40-Tönner gewöhnen wirst, die bei der Ampel unterm Fenster vibrierend anfahren. Und irgendwann geht man dann zu Muttern aufs Land zurück und vermag nicht mehr einzuschlafen, weil die Stille einen die Kehle zuschnürt. Nur eines: Hast Du den orientalischen Schweinemetzger schon mal gefragt, wie er es mit dem Koran halte?
12/10/05 13:30
Bisher habe ich ihm noch keine Aufwartung gemacht und mich an den meterhohen Gläserbergen mit eingelegten Gurken vorbeigedrängelt - in der Hoffnung, bloß nix umzuwerfen. Aber beizeiten werd ich das sicher mal machen.
12/10/05 14:27
und urpl: danke für den Tipp! Das werde ich doch glatt mal ausprobieren in den nächsten Wochen! :) Pflaume-Zimt klingt super!
12/10/05 14:28
Kommentar veröffentlichen
<< Home