Dienstag, Oktober 04, 2005

Ompa bis zum Umfallen!

Auf der Hinfahrt hat sich der Wortspielgott in den Kofferraum unseres OP-Kittel grünen Polos gekauert. Mit sanftem Ansteigen drückt er auf Julianes Blase, so dass ihr ausgerechnet in Müssingen einfällt, dringend zu müssen - woraufhin unser Polo sich kurz später auf einen Feldweg zwischen zwei vollreife Maisfelder verkrümelt. Das Ziel sind die rußverdunkelten Backsteinhallen des Bielefelder Ringlokschuppens, um eine scheppernde Ladung norwegischer Endorphinschübe zu tanken: Kaizers Orchestra live. Leichte Nebelschwaden kriechen die Felder hinauf, aus goldgelben Kastanienkronen plumpsen vereinzelt die reifen Früchte und zerplatzen auf der Windschutzscheibe, überall scheint Erntefest zu sein. Doch irgendwann sind die ostwestfälischen Landstraßen durchkurvt und der Zielparkplatz erreicht. Bei weitem nicht so spektakulär wie der vereiste Gletscher in Norwegen, hoch überm Fjord, auf dem sie vor einiger Zeit gespielt haben, aber doch zünftiges Ambiente. Eigentlich hätte ich auch tags zuvor schon hier sein wollen - Kettcar - aber alles geht nicht, und nachdem ich die Hamburger schon mehrfach gesehen habe, waren Kaizers Orchestra die weitaus spannendere Wahl.

Grummeln über die pfandfreien Bierpreise von 3 € wabert zäh in der kargen Konzerthalle und durchklettert gleich ein ganzes Netz von Diskussionen. Doch als diese langsam verebben, senkt sich das Licht. In den fahlblauen Lichtkegel schlendert ein einzelnes beglatztes Männchen mit Akkordeon: Der kanadische Schalk Geoff Berner. Fünf Stücke lang wiegt er sich zur Quetschkommode wie eine junge Ulme im Herbstwind, singt kehlige Lieder über Fliegen, die ins Whiskeyglas stürzen oder in den vierziger Jahren aktive europäische Despoten, zaubert mit seinem selbstironischen Holzfällerhemdhumor Schmunzelfalten in die Mundwinkel des Publikums, ehe er die Bühnentreppe hinunterklettert, denn die eigentlichen Helden verstecken sich noch.

Licht aus. Vorfreude im Dunkel.

Nur unter einem vergilbten Lampenschirm auf der Pumporgel schimmert schummriges Licht hervor. Erst zögerlich zerflossene zehn Minuten später hopst Rune, der strubbelbärtige Schlagzeuger auf die Bühne und beginnt mit Schmiss und Schmackes, geschmeidig loszupoltern, dängelt auf seiner blechernen Mülltonne, drischt in die Felle. Eins seiner Becken ist geborsten, sodass sich eine krumme Messinglocke davon abgespalten hat, die windschief in die Höhe ragt. Etwas später kugelt Jon, der bullige Bär am Bass dazu und lässt schwungvoll die tiefen Töne grooven, ehe der schrullige Tastentiger Helge mit seiner legendären Gasmaske auf dem schnurrbärtigen Glatzkopf hinterherstolpert. Schwungvoll sausen ihm die Gitarristen hinterher, ehe Janove, der strubbelköpfige Frontmann mit Koteletten, groß wie Rahsegel an einem Windjammer, auf die Bühne schlendert. Rund um ihn herum fliegen die Funken, lärmt, groovt und kracht es. Er selbst gießt sich jedoch zunächst etwas Merlot in sein Glas und grinst verschmitzt in die wogende Masse.
Noch wickelt er nur das Mikrokabel um seinen Finger, doch er weiß, die Menge wird folgen. Ein paar kurze Scherze über den rotkrawattigen Schwarzhemd- partnerlook des Fronttrios noch und dann geht die Post ab. Ein anderthalbstündiger Parforce-Ritt, noch liegt er vor dem Publikum.

Ihr wisst nicht, was eine Harke ist? Dann passt mal auf. Gleich zu Beginn fliegen die Gitarren kurzzeitig an die Seite und Geir und Terje, die Gitarreros schnappen sich Eishockeyschläger, um mit präziser Wucht ein rhythmisches Feuerwerk aus Ölfässern und Autofelgen zu prügeln, als sei ihnen ein neckischer Zwergtroll ins Ohr gehüpft. Und wie in einem Ölfass auf höchster Flamme lassen sie auch ihr musikalisches Gemisch brodeln. Was schon auf Platte mitreißt, begeistert hier vollends. Messerscharfer Rock und wüste Ompa (die norwegische Polka) fliegen in einen Topf, Surfgitarren, zartschmelzende Akkordeonschleifen, gemütlich wippende Basslinien, ohrwurmende Melodien. Dynamisch ist hier Achterbahn. Herbstmelancholisch weiche Chansons mit tief hängenden Akkorden wie das zarte Geäst von Trauerweiden werden gefolgt von locker flockig tanzenden Gute-Laune-Fegern, ehe sie den Tempomaten kurzzeitig auf Vollgas stellen und durch wirlbelwindig wuselnde Hochgeschwindigkeitspolkas jagen, als seien die Götter verrückt geworden und sie davor auf der Flucht. Schweißperlen glitzern auf der Stirn, das Tanzbein zuckt, entrückte Ekstase im Publikum, auch Rune hinter der Schießbude hat sich inzwischen das Jackett vom Leib gerissen und hämmert im Hemd weiter. Die Feiern zum Tag der innerdeutschen Einheit mögen morgen folgen, heute wird die norwegisch-deutsche Einheit zelebriert. Der Saal kocht, johlt, jubelt. Wer sie kennt, singt die Melodien mit. Bei den Texten erinnert es aber ein wenig an die Zeit, als meine Klassenkameraden in der Grundschule David Hasselhoffs "I've been lookin' for freedom" mitsingen wollten und daraus, weil sie bislang kein Englisch konnten, originelle Nachdichtungen wie "Luckefuckefiedem" machten. Auch hier nur verlegenes Silbenraten. Wer spricht schon norwegisch? Doch: Na und! Schietegal. Das wichtigste ist doch die Musik, und die ist großartig. Mitgerissen in einen skurril-abseitigen Strudel, nassgetanzt und schweißgebadet taucht man ein in der Musik der norwegischen Querköpfe.
Selbstironisch verhehlen die Jungs auch kaum ihre kommerziellen Absichten, fordern das Publikum unentwegt und augenzwinkernd auf, nach dem Konzert auch ja alle Platten zu kaufen. Im Gegenzug zeigt Janove sich großzügig und schenkt dem Publikum seine halbvolle Merlot-Flasche. Geben und nehmen. Viel zu schnell saust die Zeit vorbei, ehe plötzlich auch die Zugaben wie vom Winde verweht sind. Was bleibt? Ein Konzert, bei dem Genie und Wahnsinn gemeinsam ihr Lieblingslied gesungen haben, Dich an der Hand gepackt und durch die Luft geworfen haben, ein bauchkribbelnd begeisternder, restlos begeisternder Abend. Und da grad keiner der Kaizers hier ist, wiederhole ich die Botschaft: Wer noch keine Platte von Kaizers Orchestra im Regal hat - flitzt in den nächsten Laden Eures Vertrauens und ändert das! Und dann sehen wir uns auf dem nächsten Konzert, wenn es wieder heißt: Ompa til du dør.

3 Wortmeldung(en):

Blogger Oles wirre Welt meint...

Bevor ich es vergesse: Dank an meinen Kumpel Jörg, der die wildschöne Sause mit mir erlebt hat und auf mein Bitten hin mit seinem Handy für die schicken Fotos gesorgt hat.

4/10/05 15:49

 
Anonymous Anonym meint...

Man merkt: das war ein wichtiges Konzert für dich.

4/10/05 17:41

 
Anonymous Anonym meint...

Habe an Dich gedacht als ich noch mal die Ankündigung sah. Cool Ole, freut mich!

4/10/05 18:40

 

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