Eindrücke einer Reise ins Elsass (I)
Überall herausgeputzte Farbenfreude. Sich selbst zur Freude, vor allem aber für die Gäste. In malerischen Flecken wie Riquewihr, Ribeauvillé oder Kayserberg – der Heimat von Dr. Albert Schweitzer – lebt man ein wenig wie im Zoo, die idyllischen Flecken gleichen eher in bewohnten Freilichtmuseen. Im Innern quillt dickfleischige Touristensuppe durch die engen Gassen. Wird busseweise herangekarrt, hineingepfropft, abgefüllt, vollgestopft, ausgenommen. Regenschirme ragen wie Zahnstocher der Orientierung aus der schwabbelnden Masse – die quasselt und folgt blind, drückt sich die breitflügligen Nasen platt, auch an Fensterscheiben zu bewohnten Zimmern. Mal schauen, wie wer wohnt, der hier wohnt. Kaum ein Winkel, der nicht schon auf Zelluloid oder Chip gebannt ist.
Hinter vorgehaltener Hand gähnen die Häuser von Riquewihr, setzen aber ihr routiniertes Lächeln auf, tragen tapfer ihr farbiges Trachtenkleid. Sie lassen sich begrabbeln und halten still für die sirrenden Fotoapparate. Sie kennen das Prozedere seit Jahrzehnten, die angekarrten Horden, das Schieben, das Wuseln, die staunenden Münder, die verzückten Augen, das volkstümliche Gebrabbel. Unter der Woche, erst recht am Wochenende. Sie machen sich nichts mehr draus. Die Gesichter, die sie begaffen, wechseln und ähneln sich doch frappierend. Gerundete Geronten, die reizüberflutet vor Begeisterung schnurren, Dauerwelle, sich lichtendes Deckhaar. Wenige Ausnahmen. Die Hälfte ihrer Blicke geht durch den Sucher der Kamera. Erika, Gisela… noch etwas näher zu Werner, und jetzt lä - cheln!
An den Fassaden klappern unzählige Holzschilder. „Plat du jour“, „menu du jour“, Baeckaouffa, tartes gratinées. Venez nombreuses ! Kommt, trinkt, schlemmt, lasst uns Euer Bestes. Und wenn Ihr satt seid: Wir haben auch noch kitschige Putten, quietschbunte Ansichtskarten, lieblos bedruckte Steingutbecher mit dem Rathaus, Anhänger, Wimpel und Plüschstörche, die auf Fingerdruck mit ihrem Bauchlautsprecher scheppern und Lieder krähen können.
Kleine Kinder aus dem Dorf in Trachten tanzen einen Ringelreigen auf dem Kopfsteinpflaster und trällern muntere Kinderlieder. Die Augen des flanierenden Publikums glänzen, die Kamerablitze zucken. Es gibt Kaffee und Kuchen, selbstgebacken. Unten am Rathaus bollert „le petit train“. Gleich ist wieder Abfahrt. Ein als Dampflok verkleideter kleiner Trecker deportiert zahlkräftige Touristenschafe quer durch das Gassengewusel, die schlängelnden Straßen hinauf in die rebenschwangeren Weinberge über dem Dorf. Wer mag, garniert seinen Kopf mit Kopfhörern und kann sich via Bandschleife Wissenswertes zu Ort und Geschichte ins Ohr blöken lassen.
Tresterreste gären in den Seitengassen und legen - zusammen mit den Krügen voll Federweißem – säuerlichsüße Schwaden zwischen die Giebel, die das Hirn in samtigen Dämmer tauchen, die Poren weiten und Fruchtfliegenschwärme anlocken. Rebensaft fließt hektoliterweise. Anakreons Jünger frönen in sanguinischer Heiterkeit ihren Leidenschaften: Wein, Weib und Gesang. Fettige Wurst mit Sauerkraut (Choucroute) und dick mit Käse, Sauerrahm und Speck überbackene Flammkuchen glänzen zentnerschwer in ihren Mägen. Hoch das Glas! Elsässischer Wein…schenk noch mal ein! Juhejuhe, der Wein ist da! Die Tonnen sind gefüllt; drum lasst uns fröhlich sein und juhejuhejuuu aus vollem Halse schrei’n!
Vor der großen Schänke am Wehrtor bewegt sich die Masse und aus der amorphen Menge formiert sich ein volkstümelnder Männergesangverein, baut sich auf und beginnt unter weinseligem Schwanken urdeutsche Weisen zu grölen. Wenn zu mei’m Schätzel kommscht, sag I lass grüßen… O Täler weit, o Höhen, o schöner grüner Wald… Thüringische Mädchen… Heißa Kathreinerle, schnür Dir die Schuh… Vom Weingeist beseelt und befeuert überschlagen sich ihre Stimmen. Das dauergewellte, halbbeglatzte Publikum johlt Beifall in einem krummschiefen Halbkreis um die Sängerhorde herum. Die schwarzen und silbernen Kameras tanzen vor den bebenden Bäuchen, während ihre Träger ihre fettglitzernden Hände mit Schmackes zum Klatschen ineinander schmettern. Wir sind nicht in Rüdesheim in der (Schnaps-)Drosselgasse, doch der (Wein)Geist ist hier ein fast identischer.
Und doch: Ein paar Winkel abseits der Hauptgassen lassen sich erschleichen, in denen man die zarte Schönheit der Dörfer auf sich wirken lassen kann und einem kein anderer Tourist auf die Füße tritt, um sich danach in breitem Pfälzisch zu beschweren, wieso man denn im Weg steht. Alsace, die malerische Schöne, die Zartwangige, Farbenfrohe mit üppigen Rundungen. Die Fremden liegen ihr zu Füßen. Ihre versteckteren Ecken, die unerforschteren Winkel haben auch mich verzaubert.
28 Wortmeldung(en):
Danke. Wie haben wir dich vermisst.
24/10/05 10:34
Ich Euch auch. :)
24/10/05 10:36
das war ein ganz wunderbares zwiebelkuchenposting, monsieur :)
24/10/05 10:40
Mjammmjamm...*knabber*... danke.
Hab mir auch noch Tiefkühlflammkuchen mitgenommen, so kann ich noch ein paar Abende den Geschmack des Urlaubs wiederaufflammen lassen.
24/10/05 10:42
Du liest "Liebe" von Toni Morrison?? Das habe ich Ende 04 gelesen- ein tolles Buch! Nun bin ich aber auch ein großer Toni Morrison Fan:)
Wünsche dir viel Vergnügen
24/10/05 12:15
Riquewihr...da war ich mal mit dem Rad. Und habe fotografiert, was alle fotografierten. Und mein Haar im Brunnen gewaschen. Und Justus geküsst. Schön, Ole. und Schön dass Du wieder da bist.
24/10/05 14:42
Justus geküsst habe ich nicht, mein Haar hatte ich schon auf dem Campingplatz in Ribeauvillé gewaschen, fotografiert habe ich aber auch. Wenn auch nicht mehr alles, weil ich schon in Riquewihr dachte: Es ist alles enorm schön, aber more of the same, noch viel mehr malerische Fachwerkhäuser brauche ich dann auch nicht. :)
24/10/05 14:44
@nora: Noch hab ich es nicht gelesen, es liegt noch auf meinem Nachttisch, wo ganz oben noch Flauberts "Salammbô" liegt, das ich gerade durchwühle, nachdem ich im Urlaub Huysmans "Gegen den Strich" und Vians "Der Schaum der Tage" (ein enormst seltsames Buch) durchgelesen habe.
24/10/05 14:46
du, ole, ist deine neue wohnung eigentlich so eingerichtet wie die des herrn des esseintes?
24/10/05 15:03
Ich lebe weitaus lieber unter Menschen und genieße den Kontakt zu ihnen, habe keine nennenswerten Neurosen, wenig Hang zu arabeskem Pomp, Gloria und neobarocker und fremdländischer Exzentrik, aber neben der fehlenden Neigung zu dekanter Stilkoketterie fehlt mir vor allem auch das Schloss und überhaupt das Geld für sowas. :) Die Ähnlichkeiten zwischen Jean Floressas Des Esseintes und mir schleichen auf ziemlich schmalem Grund.
24/10/05 15:08
Hallo Ole,
Dein Weblog bietet doch immer schillernde, kuriose Schmuckstücke. :-) DANKE! Vor allem aber für den Beitrag übers Elsass. Nicht ganz meine Heimat, aber so nah dran, dass ich mich zu Hause fühle. Schön, so ein Gruß von Zuhause aus dem Blickwinkel eines anderen ! ... et bon courage beim Lesen von l'écume des jours. Tatsächlich eines der seltsamsten, aber auch seltsam eindringlichsten Bücher, die ich kenne.
24/10/05 15:11
Ich hatte die Courage ja schon und hab das opbskure Werl des großen 'Pataphysikers, Monsieur Vian, im Urlaub durchgelesen. Sehr eindringlich und enormst surreal. Ziemlich gaga, aber grandios, irgendwie. :) Grüße zurück.
24/10/05 15:16
Du weißt schon, daß man obskur ohne "p" schreibt, oder?
24/10/05 15:17
Herr/Frau Schlauschnacker, ich glaub' schon. Verbuchen wir es unter "zu enthusiastisch" auf die Tastatur gehämmert. :)
24/10/05 15:24
Wenn sie fragt ob ich krank,
Sag: ich sei g'storben! Wenn sie fragt ob ich krank, Sag: ich sei g'storben!
Wenn's an zu weinen fangt, klagen fangt, weinen fangt...
Sag: ich komm morgen. Heidideriderallala! Sag: ich komm morgen. Heidideridera!
Herrje, Deinetwegen hab ich jetzt einen Ohrwurm! :) Aber toller Text!
24/10/05 15:48
dachte ich´s mir doch. elsass und die vogesen hat mir übrigens auch gut gefallen.
24/10/05 15:50
Was genau dachtest Du Dir, und³?
24/10/05 16:16
fan tas tisch!
24/10/05 16:31
na dit watte jesaacht hast: datte keen schlösken hast unso.
24/10/05 16:51
Living next door to Alsace... Alsace... Alsace... who the fuck is Alsace?
24/10/05 17:09
kiek an. haste ja schlau jeschlussfoljert! :) keine ahnung, ob ich nochmal ein schloss kriege, aber vorerst ist keins in aussicht. und auch wenig bedarf da. :)
24/10/05 17:09
Oha... jetzt ist die Frage, wird hier das Elsass oder werden hier Smokie mehr verballhornt. Naja... mir ist das Elsass schon lieber als die alten Zottelhaarrocker um Chris Norman... spätestens seit ihrer Jahrmarktbrüllneuaufnahme des alten "Next door to..."-Hits...
24/10/05 17:11
Was kannst du, machst du, denkst du, tust du nicht??
Just enter the world of Glasperlenspiel..
thanks a lot
24/10/05 23:46
Ich glaub, es gibt doch so einiges, was ich nicht kann (Stricken, Synchronschwimmen), will (auf Stöckelschuhen gehen, tote Ratten sammeln), denke (keine Ahnung was, ich denke grad nicht dran) und tue (siehe "können" und "wollen"). :)
Fragt sich nur noch, was Hesse damit zu tun hat. :)
25/10/05 09:40
ein paar Winkel
Ole, es kann nur einen geben :-)
25/10/05 10:36
Klar erklärlich: Aufgrund von federweißen Dämpfen und so hab ich doppelt gesehen! :)
25/10/05 13:10
Wer spielt schon mit Glasperlen?
25/10/05 13:26
Ich dachte, es heißt "spiel nicht mit den Schmuddelkindern". von Glasperlen hieß es da nicht, oder?
25/10/05 17:45
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