Freitag, November 04, 2005

Bei Wulnikowski fehlt was

"Undank ist der Welten Lohn, alsbald verdreht sich Dank zum Hohn", grummelt Wulnikowski durch seine trockenen Lippen, während er seinen verbitterten Blick durch die verwaschene Gardine aus dem Küchenfenster bohrt. Für einen Moment amüsiert ihn seine eigene Fortdichtung der Binsenweisheit. Und fast zuckt ein Lächeln spielerisch über seine Mundwinkel. Doch es scheitert, stürzt ab, gerät zur grässlichen Fratze. Vergiftetes Schweigen zieht sich wieder durch seine beengte Küche wie ein riesiges Fischernetz, das nur seine brummelnden Flüche kurzzeitig aufreißen. Draußen fällt das Tageslicht schräg und scharf ein wie eine Rasierklinge und schneidet die Häuser entzwei. Auf dem Bordstein zerrt und pickt eine Taube lustlos an einer Sardinenbrotrinde herum, die die streunenden Katzen liegen gelassen haben.

"Überhaupt, Katzen! Verdammte Mistviecher! Säuselschnurrende Verräterbande! Undankbares Kackbratzenpack!" Wulnikowskis Blut wallt, brodelt, köchelt, kocht, siedet, lässt seine Schläfen vor Wut puckern. Emotionale Feuersbrunst bricht in ihm aus, prasselt, verkohlt ihn von innen, hinterlässt beißenden Gestank, zähklebrig verkohlte, bitterschmeckende Gefühls-Asche.

Doch kein Feuerlöscher ist greifbar.

"Wenn ich dieses verfluchte Scheißgeschöpf noch einmal erwische, diese spitzohrige Bratpfannennase, ich reiß ihr die schillernden Augen raus, zerquetsche sie und spring mit meinen Gummistiefeln auf ihrem triefenden Matsch herum, zerfetze ihr die Eingeweide, rupfe ihr jede Kralle einzeln aus, verbrenne ihr Fell in lodernden Flammen, sprenge ihr die Beine kaputt, breche ihr jeden Knochen einzeln und ramme sie unangespitzt in Marmorsteinboden!"

Er blickt an der Tischkante vorbei auf seinen verbunden Fuß und beginnt zu schluchzen. Tief vergräbt er sein Gesicht in Händen. Tränen kullern in Bächen seine Wangen hinab.

Hätte er "Lulu" doch nur nie zu sich gelassen. Als er vom Einkaufen wiederkam, hatte sie ihn am Zebrastreifen umschnurrt. Er wartete auf ein bremsendes Auto. Mit ihren schneeschmelzenden Augen hatte sie ihn voll aufrichtiger Trauer angeblinzelt, herzzereißend süß gemaunzt und ihr struppiges Fell an seiner Hose geschubbert. Sofort hatte er sie ins Herz geschlossen. Völlig ausgemergelt war sie. Aufpäppeln wollte er sie. Und das hatte er auch getan. Er hatte sie mit zu sich nach Hause genommen, für sie gesorgt, sie gestreichelt, gefüttert, beschmust.

Und dann kam der verhängnisvolle Morgen. Er hatte ihnen beiden Frühstück bereitet im Garten. Zu schön und zu sonnig war der Tag, als dass sie in der schnöden Küche frühstücken sollten. Dies sollte ein Festtag werden. Und Frau Poes, die Vermieterin, überließ ihm den Garten großzügig. Barfuß hatte er duftenden Kaffee, knusprige Brötchen, Marmelade, Käse, Wurst nach unten geschleppt. Für "Lulu" sogar extra ein Stück Räuchermakrele vom Fischhändler um die Ecke geholt. So saßen und genossen sie im tanzenden Herbstmorgenlicht. "Lulu" verschlang begeistert ihre Makrele, während Wulnikowski mit mangelnder Schnittfestigkeit seines Camemberts kämpfte.

Als sich Lulu nun das Fell und die Hinterpfoten mit der rauhen Zunge leckte, passierte es.

Wulnikowski entglitt das scharfe Käsemesser! Es sauste abwärts und - zack! - durchschnitt es seinen bloßen rechten Fuß, trennte eine Zehe ab. Vor Schock und Schmerz schrie Wulnikowski auf, vom spritzenden Blut wurde ihm dämmrig. Und im Nebel seines Unbewusstseins sah er Lulu nur noch, wie sie davonstob. Mit etwas Länglichrundem im Maul.

Es war sein Zeh. Lulu hatte ihn verschleppt.


Das Blut perlte in dunklen Strömen auf die gepflasterte Terasse. Er humpelte benommen hinterher. Er holte sie nicht ein. Sie huschte ins Dickicht von Stechginster, Rhododendron und Fliederbüschen und verschwand in die verblätterte Unsichtbarkeit. Er fand sie nicht. Alles Rufen half nicht. Man hätte den Zeh wieder annähen können. Doch "Lulu" ist fortgeblieben. Und einen Zeh, dessen Aufenthaltsort unbekannt ist, kann man nicht annähen. Inzwischen ist es zu spät, die Hoffnung aufgegeben, die Enttäuschung doppelt bitter. Der Fuß zuckt und puckert vor Pein. Vor allem der Zeh, der nicht mehr da ist. Elende Phantomschmerzen.

"Auf den Mond mit Dir! Und mit dem verdammten Käsemesser gleich mit", flucht Wulnikowski und liest gedankenverloren mit seinem Zeigefinger einige Krümel neben der Keksschale auf.

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11 Wortmeldung(en):

Blogger kein einzelfall meint...

"'Wir sind nicht sicher, ob das Diebstahl oder nur Mundraub ist", sagte ein Polizeisprecher am Freitag der dpa".

"Wir sind ganz sicher, dass es ein deliziöses Frühstück war", sagte kein Einzelfall am Freitag dem ole.

4/11/05 17:39

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Noch Kaffee? Es sind auch noch Brötchen da. Und die Eier sollten gleich fertig sein, nach Gefühl viereinhalb Minuten gekocht. :)

4/11/05 17:47

 
Anonymous Anonym meint...

Gott, welcher Wahnsinnn! Herrlich, mir rollen die Augen vor Begeisterung

4/11/05 21:53

 
Anonymous Anonym meint...

DIE Geschichte! (Die stand bei uns letztens in der Zeitung.) Aber herrlich gut gemacht :) Aus dem Blickwinkel hab ich das noch gar nicht betrachtet.

5/11/05 09:38

 
Blogger kein einzelfall meint...

Genau. In der Presse war schnöde von Deutschlands undankbarster Katze die Rede. Aber hier erfährt man die ganze Geschichte: Menschen, Tiere, Emotionen. Und lecker Frühstück.

5/11/05 13:18

 
Anonymous Anonym meint...

... mindestens ein Detail ist nicht stimmig:
es braüchte schon ein frischgeschliffenes Fleischerbeil, um aus Tischhöhe im freien Fall so ein Glied abzutrennen. Wurde dort tatsächlich so gefrühstückt? Hat die Schwerkraft wirklich so genial gewirkt, daß mit chirurgischer Präzision genau die eine Zehe das Weite suchte und die Nachbarn tapfer widerstanden? Nein nein, wir haben es hier eher mit einer jener Stories zu tun, die dem Pferd und nicht der Katze gewidmet sind.

5/11/05 16:54

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Vielleicht sollten wir den orientalischen Schlachter unter mir fragen? Generell überlasse ich die Beschaffenheit der Hackeklinge einfach der Leserfantasie. :)

6/11/05 18:38

 
Anonymous Anonym meint...

Wenn Frau Poes etwas mit Edgar Allan zu tun haben sollte und außer dem Garten auch Gruben, Pendel und Käsemesser zur Verfügung stellt, würde ich mich über die Schärfe der Klinge nicht mehr wundern.

6/11/05 22:40

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Sie heißt Adele, wird von ihren Freunden Adi genannt. Allerdings heißt ihre Tochter Ellen und ihr Hund heißt Edgar. Genau klären können wird man's aber nimmermehr. :)

6/11/05 22:49

 
Anonymous Anonym meint...

ich finde, wulnikowsky könnte auch mal besser auf seinen zeh aufpassen. immer sind andere schuld!

grossartig - ole!

11/11/05 11:58

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Wie passt man denn gut auf seinen Zeh auf, Bitts? :)Und... vielen Dank für die Blumen!

11/11/05 12:03

 

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