Sie und ich im Fünfer
Ich sprach: „Ist’s gar so arg?“ Sie schwieg ein Weilchen. Sie trank in kleinen Schlücken schwarzen Tee. Nur zögerlich erhob sie ihre Stimme. Es war, als wög’ sie jedes Wort in Gold.
„Es ist vielleicht ein wenig wie mit Hühnern auf einer allzu produktiven Farm. Es sind so viele, doch nur Platz für wenig. So zwängst Du sie, beraubst sie ihrer Kraft. Sie schubbern aneinander, leiden Platzangst. Die Häute scheuern wund, das Federkleid ein’s jeden Huhns verliert bald seinen Schimmer, wird blass und schlapp, es krankt und leidet Harm. So strahlend jedes Deiner Einzelwörter auch glänzt und funkelt – es wird seltsam stumpf, lässt Du ihm nicht genügend Luft zum Atmen, für die Entfaltung keinen rechten Platz.“
Ich sprach: „Wünschst Du Dir wortgerechte Haltung?“ Sie sagte: „Ja, ich glaube, Du verstehst. Sowie ich nurmehr Bio-Eier kaufe – nicht nur aus Tierschutzgründen, sondern auch weil jedes Ei viel frischer wirkt und mundet, wünsch ich mir Texte sprudelnd vor Esprit. Wortschutz wie Tierschutz! Gegen Überfischung und Massenhaltung, leben soll das Wort! Lass Texte tanzen, Worte sich berühren. Doch zwäng sie nicht zu dicht! Begnüge Dich, und Du wirst sehen, es wird sich reichlich lohnen!“
Ich dankte schon, da sprach sie: „Noch etwas. Gönn’ den Figuren auch mehr eigene Worte. Beschreib’ nicht nur, lass’ freie Rede zu. Hilf den Figuren durch ihre eigene Stimme. Schärf’ ihr Profil durch Rede! Du wirst sehen, wie wohl dem Text die Schlankheitskuren tuen. Vergiss nicht, was Du kannst, doch geh voran und feile wohlbedacht an Deinen Worten und möglich scheint durchaus ein Quantensprung.“
Dann drehte sie sich um, bereit zu gehen. Ich rief bald: „Halt! So warte doch noch kurz! Verrate mir doch wenigstens den Namen. Wer bist Du? Woher kennst Du mich?“ Sie sagte: „Ich gehöre doch zu Dir! Ich lebe in Dir, seit Du denken kannst. Ich wirk’ in Dir bei Arbeit, Freizeit, Brunft. Ich glaub’, man nennt mich landläufig Vernunft.“
27 Wortmeldung(en):
Manchmal gut, sie zu kennen.
Manchmal nervt sie aber auch.
Aber dann kann man ja was trinken, damit sie geht.
11/8/06 14:12
Hohe Prozente sind nicht ihre Tasse Tee, stimmt. :)
11/8/06 14:13
Und gelegentlich muss man auch einfach mal unvernünftig sein!
11/8/06 14:23
Die kenn ich auch, leider ist sie manchmal nicht zu finden. Meistens dann, wenn man sie ganz dringend braucht.
11/8/06 14:30
Ich habe die Vernunft derzeit im Keller angekettet. Das widerspricht der Genfer Konvention, meinem sonstigen Verhalten und überhaupt. Aber bis Ende nächster Woche kann ich mir keine Vernunftabwesenheit und Ausflüchte der "Guten" leisten. :)
11/8/06 14:44
Das Dumme an der Vernunft ist, dass man sie im Keller anketten kann, so viel man will: Oft genug steht sie kurz danach schon wieder schräg hinter Dir und schaut Dir kopfschüttelnd über die Schulter.
Höchst amüsant, Herr Cordsen! :-)
11/8/06 15:06
@scheibster: Mein Nachname hat es Dir angetan, oder? :)
11/8/06 15:06
die vernunft ist hier doch fast schnurzpiep. der text ist es der mich begeistert. lustig und selbstironisch mit dem eigenen schreibstil abgerechnet. großeklasse.
11/8/06 15:13
Für eine Freihirnhaltung irrsinniger Ratio!
11/8/06 15:25
da es hier niemand anderes tut,
machst du es selbst.
applaus dafür.
jedes wort stimmt..
11/8/06 15:34
[offtopic]
"Mein Nachname hat es Dir angetan, oder? :)"
Äh. Ja. Ole sagen doch alle. :-)
[/offtopic]
11/8/06 17:14
Astschock!
11/8/06 18:14
Ja, ja, die Vernunft. Wenn ich sie nicht brauch, ist sie da und in den wirklich wichtigen Augenblicken schon wieder in Verborgenheit geraten, auch wenn ich sie noch so oft gebraucht hätte!
Klasse Text!!!
11/8/06 18:21
Wieder einmal ganz großes Tennis, was uns hier geboten wird.
Danke!
11/8/06 19:21
Hurra, gefunden! Hier treibt sie sich also rum, die Vernunft. Andernorts fehlt sie ziemlich dringend. Soll sich unbedingt mal melden.
11/8/06 21:54
ich finde, die vernunft kann sich äusserst glücklich schätzen, so hübsch beschrieben zu werden. aber das sie tee in kleinen schlücken trinkt, ist unvernünftig!
11/8/06 22:49
mister olé,
seien sie nicht so sicher. auch die vernunft hat ihren stolz und, wie kann das anders sein bei weibern, gefühle, welche nur zu einfach zu verletzen sind. und dann, ohne abschiedsbriefchen, tinte stellenweise mit salzigen wogen unkenntlich, verläßt sie dich, der gute geist und lässt dich ewig irren, wie eine einäugige ratte in einem venezianschen kanal.
11/8/06 23:46
Die alte Schachtel hat mich auch lang genug an der Nase rumgeführt. Lass dir bloß nix einreden. Das passt schon so hier.
12/8/06 00:29
Kein Grund, etwas zu verändern, wenn Du mich fragst, so flüchtig, wie Du die Dame kennst. Da könnte ja jeder kommen.
Aber wer bin ich schon.
12/8/06 03:07
Ganz breites Grinsen hier. Schön.
13/8/06 09:50
Und von wem hat sie gelernt, wie ein Text auszusehen hat? Strickt man ihn mit Frau Vernunft, wird er nie aus der Reihe tanzen. Woran sich orientieren, wenn nicht am impulsiven Selbst?
Man muss sich ihre Besserwisserei oft anhören. Aber umsetzen muss man sie deswegen noch lange nicht.
13/8/06 11:11
In meinem Kopf ist ein Fleckerl, wohin das Wort Vernunft noch nie gedrungen ist, auf diesem Fleckerl ist ein Radel, und wenn das einaml laufend wird-
13/8/06 13:45
Mach Schluss mit der egoistischen Schlampe!
14/8/06 12:35
Großer Text.
Warum auch immer, aber das erinnert mich von der Stimmung ein wenig an "Lady in black" von Uriah Heep. "She came to me one morning, one lonely sunday morning ... aaah-ah-ah-ahahaaah-ahahaaa".
15/8/06 16:18
Verblüffend. :)
16/8/06 11:36
das ist das Beste was ich je auf einem Blog gelesen habe! Chapeau!
31/8/06 19:08
Donnerknispel, Du tust was für meine Gesichtsdurchblutung! :)
31/8/06 19:16
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