Sonntag, August 03, 2014

Die Poesie leerer Coladosen

Spät, irgendwann nach Mitternacht, stand er plötzlich vor der Tür. Hatte an der Wohnung geklingelt, irgendeiner der Partygäste hatte ihm geöffnet. Er sagte Hallo. Mehr nicht. Doch wie selbstverständlich kam er herein, ging in die Küche, griff sich eine Weißbrotscheibe, tunkte sie in die Schale mit Hummus und goss sich ein Mango-Lassi ein.  Dann irrte er mit seinen Blicken durch den Raum, blieb kurz am Chat-Noir-Poster hängen, schlängelte seine Blicke darüber. Wir kannten uns nicht; er begann, unvermittelt zu erzählen, übersprang das Kennenlernprozedere, kein wieheißtduwasmachstduwokommstduherstudierstduauchundwasliestdugerne. Er erzählte. Seine Stimme war dünn wie zu kurz gezogener Tee, erinnere ich mich. Er sammle leidenschaftlich, sagte er. Herumliegende Dinge, die er auf der Straße fände. Oder in Gebüschen am Gehsteigrand. Kassenbons und Studiennotizen und abgebrochene Stöckelschuhabsätze. Einmal habe er Glasscherben aus einem zerplitterten Autofenster gebrochen und eine Kette daraus gemacht, sagte er. Fast hätte er sich dabei geschnitten, erinnere ich mich, sagte er.

Er meinte, das seien Großstadtdiamanten und fügte an, selbst in einer leeren Cola-Dose stecke Poesie. Er habe eine große Vitrine gebastelt, sagte er, erinnere ich mich, und darin habe er eine Reihe benutzter Spritzen aufgestellt, die direkt Gitterzaun hinter dem Spielplatz am Kösliner Ring gelegen hätten. Daneben hätten Kinder gespielt. Und eins habe gesagt: "Guck mal, wir haben ein riesiges Loch gebuddelt." Und da habe er gestaunt, denn es sei ein sehr großes Loch gewesen. Gerne hätte er es mitgenommen. Aber es sei kein Platz in seiner Wohnung für ein Sandkastenloch gewesen.

Und wenn er etwas nicht mit nach Hause nehmen konnte, habe er sich davorgekniet, es fotografiert und die Aufnahmen liebevoll in Fotoalben geklebt. Eine Wasserwaage benutze er dafür sogar, sagte er, erinnere ich mich. Man solle Fotos nie schief einkleben.

Er trank sein Lassi leer, blassgelbe Tropfen aus seinem fusseligen Bart leckend. Er erzählte, er sei ein Archäologe der Gegenwart, lachte darüber und schnippte Asche in den nun leeren Plastikbecher.  "Findest Du das seltsam?", fragte er. Fast flüsternd.

"Ich mag so etwas", entgegnete ich und dann lächelte ich. "Das ist selten", sagte er und erhob seine Hand wie zum Gruße, erinnere ich mich, ehe er sich umdrehte und verschwand, ohne sich von mir und den restlichen Gästen zu verabschieden. Still. Fast unhörbar schloss er die Tür. Erst als er fort war, fiel mir ein, dass er mir seinen Namen gar nicht verraten hatte, erinnere ich mich. Und staunend musste ich feststellen, dass auch kein anderer der Gäste ihn wusste. Niemand hatte ihn zuvor gesehen. Doch womöglich ist auch dieser Abend nun Teil seiner Sammlung.

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