Dienstag, Februar 12, 2008

Wulnikowski im Gericht (I)

Trockener, rechtschaffener Staub lag schwer in der Luft und drückte auf die Atmung, als Wulnikowski die massive Holztür aufgedrückt hatte und ins Foyer trat. Wasser rann aus seiner Hose, tropfte auf die Schuhe und auf das marmorne Parkett. Um Wulnikowski herum wuchs eine kleine Pfütze. Einige Meter über seinem Kopf wölbte sich die Decke des Treppenhauses, Dunkelrot gefliest. Verblichene Zettel mit ausgedruckten Richtungs-Pfeilen wiesen auf Verhandlungssäle im Obergeschoss hin. Sie waren auf Hinweistafeln an verschnörkelten Gusseisen-Ständern getackert. Irgendwer trug einen weißen Schlips über weißem Hemd und durchhuschte den Flur. Türen klappten. Es war, als beträte Wulnikowski eine neue Welt. Es roch nach Angst und Schuld, nach längst getrockneten Tränen, nach Schweiß und scharfem Scheuermittel. Ganz langsam, Schritt für Schritt, folgte Wulnikowski einem der Pfeile und stieg hinauf in den ersten Stock.

An einer Pinnwand hing ein Zettel. Darauf tummelten sich verwirrende Folgen von Buchstaben und Zahlen, Namen, die er nicht kannte, andere Namen, die er ebenso wenig kannte, die aber als Verteidiger der unbekannten Namenträger berufen waren. Auch war verzeichnet, um welche Uhrzeit und weswegen die namentlich genannten Unbekannten sich hier vorstellen sollten. Nur der Name des Richters, der zuoberst auf dem Zettel vermerkt war, ließ bei Wulnikowski Erinnerungen erwachen an irgendwelche Zeitungsartikel, in denen Menschen bestraft worden waren. „Saal 27“ stand in Frakturschrift über der schweren Eingangstür, woneben der Zettel mit den Angeklagten hing. Eine abgesessene Holzbank stand auf der anderen Seite des Ganges vor dem Treppengeländer. Wulnikowski setzte sich. Wie viele traurige und ängstliche Menschen hier schon ihre Stirn in Falten gelegt haben mochten, zwischen banger Angst und heimlichem Hoffen hin und her gerissen, nicht wissend, welche Fragen und Nachfragen ihnen blühen mochten. Welche Urteile mit welchen Folgen für ihr weiteres Leben ihnen bevorstehen würden. Wohl Tausende, vielleicht Abertausende. Das Gerichtsgebäude war alt, und seit Jahrzehnten würden wohl täglich zig Dutzend Männer und Frauen in diesen Saal oder andere geschlichen sein. Entrüstet oder schuldbewusst. Voll Reue oder spitzfindiger Verschlagenheit. Kafkas "Prozeß", Wulnikowski hatte ihn immer lesen wollen.

Heute würden elf Menschen wegen fünf Strafsachen gewandelt den Saal verlassen. Hinter dieser dunkel gebeizten Tür, auf die Wulnikowski gedankenverloren starrte, wendeten sich Schicksale, hier wurden in schneller Folge Urteile gemacht. Man brauchte dafür nur verschiedene Zutaten: Ein gutes Pfund nachweisbaren Vergehens als Grundlage, ein paar Tatverdächtige, eine Handvoll Zeugen und deren Aussagen als Triebmittel, ein paar Rechtsanwälte und einen Staatsanwalt, die die Tatverdächtigen und deren Aussagen durcheinander wirbelten, verquirlten, abschieden, neu vermengten, gegeneinander rieben, verfestigten und hochkochten. Und einen Richter, der sich die munter purzelnden Reaktionen ansah, selbst ein wenig mitrührte und dann am Ende versuchte, das verquirlte, kochende Kuddelmuddel herunter zu kühlen und eine Quintessenz herauszudestillieren – vielleicht mit Hilfe von ein paar Schöffen. Doch wie mochte das vonstatten gehen?

Wulnikowski kannte den Ablauf von Verhandlungen aus Büchern, aus Kriminalromanen und aus den Gerichts-Sendungen im Fernsehen, die Joost zuweilen ansah, wenn er Hemden bügelte. Ob es hier ähnlich verlaufen mochte? Hier, wo alles ernst und wirklich war, wo man nicht wegschalten oder weiterblättern konnte? Ein bedrohlicher Ernst flutete die Stille des Ganges. Und quälend langsam schlichen fünf junge Gestalten die Treppe hinauf, mit gesenkten Häuptern, bleich, nervösen Blickes, geduckt, mit zusammengekrampften Händen. Sie schlichen direkt zu der verwitterten Holzbank, auf der Wulnikowski saß, sahen ihn misstrauisch an, fast verächtlich und zugleich tot, wandten sich um und blieben unter einer Gaube einige Meter weiter stehen, wo sie leise tuschelten. Wulnikowski war unwohl zumute. Diese jungen Menschen kannten ihn doch gar nicht, und doch hatten diese bohrenden Blicke ihn zutiefst verunsichert. „Betäubungsmittel“ hatte Wulnikowski auf dem Zettel gelesen neben fünf von den Namen, die er nicht kannte. Womöglich gehörten diese Namen den fünf Schleichern, die ihm die schauerlichen Blicke entgegnet hatten. Ob sie etwas getan haben mochten? Drei Männer und zwei Frauen in schwarzen, flatternden Gewändern schritten treppaufwärts. Kamen näher zur Bank, auf der Wulnikowski saß – immer noch triefend, eine Pfütze zu seinen Füßen –, sahen ihn verwundert an und erblickten dann das seltsame Blick-Quintett. Dorthin begaben sie sich dann, schüttelten Hände, blickten prüfend, murmelten miteinander.

Ein Herr mit Umhängetasche und Dreitagebart kam laut klappernd die Treppe hinaufgerannt, spurtete direkt zum Zettel neben der Tür, sah auf seine Uhr, schnaufte durch, erblickte die ungleichen Zehn, die unter der Gaube im Kreis standen, hechelte „grad noch geschafft“ und setzte sich neben Wulnikowski. „Na? Schon nervös?" "Sollte ich?" "Na, so kurz vor Ihrer Verhandlung..." "Ich wüsste nicht, dass ich hier gleich verhandeln werde." "Sind Sie nicht der Angeklagte?" "Nein." "Achso. Dann.... ah... auch schon den Stift gespitzt?“ „Äh?“ „Pardon, Backerschmidt, Neue Zeitung, wir kennen uns noch nicht.“ „Nein.“ „Und Sie sind?“ „Wer ich bin?“ "Genau. Schreiben Sie für die Allgemeine?“ „Nein. Ich…“ „Aber das Abendblatt hat doch schon seit Monaten keinen mehr auf einen Gerichtstermin geschickt. Sagen Sie nicht, sie kommen vom Abendblatt!“ „Nein.“ „Wusst’ ich’s doch.“ „Ach.“ „Ja! Selbst Schuld, die Kollegen. Hahaha. Einer von den Touris sind Sie aber doch auch nicht?! Dann würd’ ich Sie doch längst kennen. Bin doch der Gerichtshofbestatter, nein, -erstatter. Hahaha. Ich bringe niemanden unter die Erde. Aber ich bringe diejenigen, die andere unter die Erde gebracht haben, ins Blatt. Ich hänge sie an die große Glocke. Ich bringe sie an die Öffentlichkeit. Brauchen Sie ein Taschentuch?“ „Neinnein, das wird schon bald trocknen. Und ich sitze hier auch nur. Ich bin hier hineingekommen, weil es draußen so gießt und ich dachte, dass es in ein Gericht wohl nicht hineinregnet. Und bin ich die Treppe hinauf gegangen, sah diese Bank, und hier sitze ich nun.“ „Sie wollen den Fall hier gar nicht sehen?“ „Ich weißt nicht.“ „Das dürfen Sie sich nicht entgehen lassen! Das ist ein ganz heißes Eisen! Ein ganz heißes Eisen!“

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Samstag, Februar 02, 2008

Unter finstren Wolken

Sturm peitschte Wellen gegen die Kaimauern am Hafen. Regenkaskaden stürzten abwärts, prasselten auf das Pflaster. Die Menschen duckten sich in ihre Kapuzen, so sie welche besaßen, und vergruben selbst ihre Nasen unter den hochgezogenen Jackenkragen. Das alte Feuerschiff schaukelte leicht, in Blumenrabatten reckten die ersten Schneeglöckchen ihre Knospen aus der Erde. „Man müsste Euch umbenennen“, murmelte Wulnikowski, als er sie erblickte und mit dem Zeigefinger an den kleinen Blättern entlangwischte. „Es schneit ja kaum mehr.“ Fast schienen sie zu nicken, und doch war es nur eine Böe, die an ihren gebogenen Hälsen zog, zerrte und drückte.

Wulnikowski buddelte nach einer Plastiktüte in den Innentaschen seines Mantels, um seinen Pappkoffer darin einzuwickeln. Der drohte, aufzuweichen. Gedankenverloren schlurfte Wulnikowski den Kai entlang, unterhalb der reglos thronenden Löschkräne, denen der Sturm zwischen den rostigen Stahlbeinen hindurchpfiff. Eine Entenfamilie bummelte zwischen den wogenden Wellen umher. „Ist das ein Scheißwetter, finden Sie nicht?“, krähte ihm eine hutzelige Alte aus dem Kopfloch ihres Gummi-Ponchos entgegen. Wulnikowski zuckte mit den Schultern, lupfte seinen Hut zum Gruße ohne ein Gespräch zu beginnen und bog ab in die Ritterstraße. Führwahr: Gemütliches Spazierwetter ging anders. Am Frühstückstisch zu sitzen, Brötchenkrümel mit dem Finger aufzulesen und sich einen erfrischenden Fußmarsch vorzustellen, hatte mehr Spaß gemacht. Zumal die rechte Fußspitze, wo einst sein großer Zeh gelebt hatte, sich als sehr kälte-empfindlich zeigte.

Ohne konkretes Ziel schlenderte Wulnikowski über das Trottoir. Ein Hund zitterte im eisigen Wind, als er sein Geschäft unter einem Briefkasten verrichtete. Ein Herr im Trenchcoat wurde beinah von einem Wäscherei-Lieferwagen überfahren, als ein Windstoß ihm das Haarteil vom Kopfe riss und munter durch die Luft schleuderte. Sonst passierte nicht viel, doch brachen die Wolken völlig auseinander und es begann derart wild zu schütten, dass auch Wulnikowski seine Spazierlust allmählich beargwöhnte. Zu seiner rechten erhoben sich die düsteren Gemäuer des Amtsgerichts mit dem Säulenportal und den schweren Holztüren. „Ob es drinnen ähnlich grimmig aussehen mag?“, fragte Wulnikowski sich. Noch nie hatte er ein Gericht betreten. „Zumindest dürfte es nicht hineinregnen.“ Und so schlurfte er die steinernen Treppen hinauf. In Vorfreude darauf, kurzzeitig den Regenmassen zu entfliehen und gespannt darauf, was ihn erwarten mochte.

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