Wulnikowski im Gericht (I)
An einer Pinnwand hing ein Zettel. Darauf tummelten sich verwirrende Folgen von Buchstaben und Zahlen, Namen, die er nicht kannte, andere Namen, die er ebenso wenig kannte, die aber als Verteidiger der unbekannten Namenträger berufen waren. Auch war verzeichnet, um welche Uhrzeit und weswegen die namentlich genannten Unbekannten sich hier vorstellen sollten. Nur der Name des Richters, der zuoberst auf dem Zettel vermerkt war, ließ bei Wulnikowski Erinnerungen erwachen an irgendwelche Zeitungsartikel, in denen Menschen bestraft worden waren. „Saal 27“ stand in Frakturschrift über der schweren Eingangstür, woneben der Zettel mit den Angeklagten hing. Eine abgesessene Holzbank stand auf der anderen Seite des Ganges vor dem Treppengeländer. Wulnikowski setzte sich. Wie viele traurige und ängstliche Menschen hier schon ihre Stirn in Falten gelegt haben mochten, zwischen banger Angst und heimlichem Hoffen hin und her gerissen, nicht wissend, welche Fragen und Nachfragen ihnen blühen mochten. Welche Urteile mit welchen Folgen für ihr weiteres Leben ihnen bevorstehen würden. Wohl Tausende, vielleicht Abertausende. Das Gerichtsgebäude war alt, und seit Jahrzehnten würden wohl täglich zig Dutzend Männer und Frauen in diesen Saal oder andere geschlichen sein. Entrüstet oder schuldbewusst. Voll Reue oder spitzfindiger Verschlagenheit. Kafkas "Prozeß", Wulnikowski hatte ihn immer lesen wollen.
Heute würden elf Menschen wegen fünf Strafsachen gewandelt den Saal verlassen. Hinter dieser dunkel gebeizten Tür, auf die Wulnikowski gedankenverloren starrte, wendeten sich Schicksale, hier wurden in schneller Folge Urteile gemacht. Man brauchte dafür nur verschiedene Zutaten: Ein gutes Pfund nachweisbaren Vergehens als Grundlage, ein paar Tatverdächtige, eine Handvoll Zeugen und deren Aussagen als Triebmittel, ein paar Rechtsanwälte und einen Staatsanwalt, die die Tatverdächtigen und deren Aussagen durcheinander wirbelten, verquirlten, abschieden, neu vermengten, gegeneinander rieben, verfestigten und hochkochten. Und einen Richter, der sich die munter purzelnden Reaktionen ansah, selbst ein wenig mitrührte und dann am Ende versuchte, das verquirlte, kochende Kuddelmuddel herunter zu kühlen und eine Quintessenz herauszudestillieren – vielleicht mit Hilfe von ein paar Schöffen. Doch wie mochte das vonstatten gehen?
Wulnikowski kannte den Ablauf von Verhandlungen aus Büchern, aus Kriminalromanen und aus den Gerichts-Sendungen im Fernsehen, die Joost zuweilen ansah, wenn er Hemden bügelte. Ob es hier ähnlich verlaufen mochte? Hier, wo alles ernst und wirklich war, wo man nicht wegschalten oder weiterblättern konnte? Ein bedrohlicher Ernst flutete die Stille des Ganges. Und quälend langsam schlichen fünf junge Gestalten die Treppe hinauf, mit gesenkten Häuptern, bleich, nervösen Blickes, geduckt, mit zusammengekrampften Händen. Sie schlichen direkt zu der verwitterten Holzbank, auf der Wulnikowski saß, sahen ihn misstrauisch an, fast verächtlich und zugleich tot, wandten sich um und blieben unter einer Gaube einige Meter weiter stehen, wo sie leise tuschelten. Wulnikowski war unwohl zumute. Diese jungen Menschen kannten ihn doch gar nicht, und doch hatten diese bohrenden Blicke ihn zutiefst verunsichert. „Betäubungsmittel“ hatte Wulnikowski auf dem Zettel gelesen neben fünf von den Namen, die er nicht kannte. Womöglich gehörten diese Namen den fünf Schleichern, die ihm die schauerlichen Blicke entgegnet hatten. Ob sie etwas getan haben mochten? Drei Männer und zwei Frauen in schwarzen, flatternden Gewändern schritten treppaufwärts. Kamen näher zur Bank, auf der Wulnikowski saß – immer noch triefend, eine Pfütze zu seinen Füßen –, sahen ihn verwundert an und erblickten dann das seltsame Blick-Quintett. Dorthin begaben sie sich dann, schüttelten Hände, blickten prüfend, murmelten miteinander.
Ein Herr mit Umhängetasche und Dreitagebart kam laut klappernd die Treppe hinaufgerannt, spurtete direkt zum Zettel neben der Tür, sah auf seine Uhr, schnaufte durch, erblickte die ungleichen Zehn, die unter der Gaube im Kreis standen, hechelte „grad noch geschafft“ und setzte sich neben Wulnikowski. „Na? Schon nervös?" "Sollte ich?" "Na, so kurz vor Ihrer Verhandlung..." "Ich wüsste nicht, dass ich hier gleich verhandeln werde." "Sind Sie nicht der Angeklagte?" "Nein." "Achso. Dann.... ah... auch schon den Stift gespitzt?“ „Äh?“ „Pardon, Backerschmidt, Neue Zeitung, wir kennen uns noch nicht.“ „Nein.“ „Und Sie sind?“ „Wer ich bin?“ "Genau. Schreiben Sie für die Allgemeine?“ „Nein. Ich…“ „Aber das Abendblatt hat doch schon seit Monaten keinen mehr auf einen Gerichtstermin geschickt. Sagen Sie nicht, sie kommen vom Abendblatt!“ „Nein.“ „Wusst’ ich’s doch.“ „Ach.“ „Ja! Selbst Schuld, die Kollegen. Hahaha. Einer von den Touris sind Sie aber doch auch nicht?! Dann würd’ ich Sie doch längst kennen. Bin doch der Gerichtshofbestatter, nein, -erstatter. Hahaha. Ich bringe niemanden unter die Erde. Aber ich bringe diejenigen, die andere unter die Erde gebracht haben, ins Blatt. Ich hänge sie an die große Glocke. Ich bringe sie an die Öffentlichkeit. Brauchen Sie ein Taschentuch?“ „Neinnein, das wird schon bald trocknen. Und ich sitze hier auch nur. Ich bin hier hineingekommen, weil es draußen so gießt und ich dachte, dass es in ein Gericht wohl nicht hineinregnet. Und bin ich die Treppe hinauf gegangen, sah diese Bank, und hier sitze ich nun.“ „Sie wollen den Fall hier gar nicht sehen?“ „Ich weißt nicht.“ „Das dürfen Sie sich nicht entgehen lassen! Das ist ein ganz heißes Eisen! Ein ganz heißes Eisen!“
Labels: Wulnikowski
7 Wortmeldung(en):
* MiM sich mal setzt und gespannt ist, wie es weiter geht
13/2/08 11:38
Ole goes Gerhard Mauz und Gisela Friedrichsen. Hervorragend!
13/2/08 11:52
@MiM: Ich glaube ja in Teilen, dass die Nutzer der Chatsprache bei Yoda abgekupfert haben, als sie die Wortfolgen durchgeschüttelt und die grammatischen Verschlammbaselierungen erfunden haben sowie das seltsame Reden von sich in der dritten Person. :) Aber jetzt hab ich völlig das Thema verfehlt. Will schauen, dass es bald weitergeht. Aber zurzeit sind Großkampftage, bei denen kaum eine Minute Freizeit rausspringt. Kurz Geduld zu haben, könnte helfen. :)
14/2/08 08:03
@opa: Ich gehe in Richtung von Autoren, die mir zum ersten Mal begegnen. Erstaunlich. :)
14/2/08 08:04
In dubio pro spectator.
18/2/08 21:04
Endlich hatte ich mal Zeit, die Geschichte bis zum Ende zu lesen. Und nun bin auch ich gespannt auf die Fortsetzung.
24/2/08 22:07
Wie ich Wulnikowski kenne, wird er sich noch wünschen, er wäre in diesem Moment gegangen. ;)
3/3/08 19:22
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