Freitag, Oktober 19, 2007

Aufbruch zu neuen Ufern

Die Tasche ist bereits gepackt, der Schlafsack mit Gewalt noch hineingepresst worden. Vorfreudige Aufregung durchsprudelt meine Nervenbahnen, bis kurz vor Mitternacht werden letzte Arbeiten erledigt, um wenigstens noch drei Stunden Schlaf zu erhaschen. Um drei Uhr, die Nacht klebt noch wie pechschwarzes Baumharz vor den Fenstern, ist die kurze Ruhe schon wieder abgefrühstückt. Die Tür klappt, die Stimme meiner Mutter mischt sich in abstruse Traumfilme. Noch benommen und bar jeden klaren Gedankens taumele ich ins Bad, wasche mir mit eisklarem Wasser die Schlafkrümel aus den Augenwinkeln. Die Heizung wird erst in drei Stunden wieder rumpelnd anspringen. Frisch gekochter Tee dampft still aus den Tassen. Kaum ein Wort fällt. Das Hirn ist noch dunkel verhangen, im Sprachzentrum ist nur der Notdienst vor Ort. Eine Stunde später werden Reisetasche und Rucksack geschultert und im Kofferraum verstaut. Mein Vater klettert hinter das Steuer, lässt den Diesel losgrollen, und wir rauschen los, durchpflügen die Dunkelheit in Richtung des Bremer Flughafens.

Der Zeiger rückt auf fünf Uhr. Wie eine umfunktionierte Ikea-Lagerhalle wirkt der riesige Extra-Terminal von Ryanair, abgeschottet vom Rest des Flughafens, jenseits der anderen Abfertigungsschalter. Ich zerre die ausgedruckte Buchungsbestätigung aus dem Rucksack, lasse meine Reisetasche über Gummiförderbänder rattern, verabschiede mich und schlurfe zur Sicherheitskontrolle. Gesprächsfäden verheddern sich zu formlosen Lärmknäueln. Ansagen hallen aus den Lautsprechern und verirren sich im Hall der Halle, bleiben unverständlich. Ungemütlich ist es. In einer provisorisch anmutenden Stellwand-Ecke kann der Fluggast zollfrei einkaufen. Toblerone, Parfum, die neueste Bild. Eva Herman ist bei Kerner rausgeflogen. Will in China denn gar kein Sack Reis mehr umfallen?

Eine Menschentraube wächst, schiebt sich zusammen, tröpfelt durch die Glastür aufs Rollfeld. Richtung: Girona. Spanien. Sonne. Schlummrige Gesichter gähnen, schütteln sich, frieren. Schals werden enger geschlungen. Mäntelkragen hochgeschlagen. Fünfmal wird ein Name über die Lautsprecher aufgerufen. Keiner versteht ihn. Aber irgendwer fehlt scheinbar. Booking yet incomplete. Irgendwann wird Barcelona auf den Boden gelegt. Als silbriges Blechschild, gelb bedruckt. Keine Monitore. Rumpfausstattung.

Tampere kommt an den Haken. Mein Flug. Hinter mir in der Schlange reibt eine weißhaarige Dame ihre Schläfe. Träumt. Schaut auf. Sieht das Schild. Zuckt zusammen. Rennt los. Trommelt gegen die inzwischen verschlossene Tür zum Rollfeld. Gestikuliert hektisch. Sie ist die Gesuchte gewesen. Hat nicht mitbekommen, dass es schon losgegangen ist. Hat ihren Namen nicht verstanden. Hat geträumt. Zu lange. Zu tief. Im Stehen. Die Tür ist zu. Bleibt zu. Sie weint, hechelt panisch, fleht, bittet, winselt, fuchtelt mit den Armen, fällt auf die Knie, außer sich, redet auf das Personal ein. Kurze Rückfrage mit dem Bordstewart via Funk: Nein. Sie darf nicht mehr mitfliegen. Ein duckmäuseriger Trecker schiebt den Flieger schon in Richtung Startbahn. Sie heult, zittert. Vergeblich. Geld futsch, Flug weg. Bockmist.

Eine Viertelstunde später schleichen wir hinaus und an Bord. Rollen los. Heben ab. Immer kleiner werden Häuser und Straßen. Die Stadt wird zur leuchtenden Schaltplatine, rückt ab wie verglimmende Glut. Neben mich hat sich ein fuselfahniger Russe gequetscht. Blondiertes Gestrubbel auf dem Kopf. Reißt eine Plastiktüte auf, rupft eine Pulle Ballantines heraus, hebt an, schraubt sich mit einem Mal die halbe Flasche in den Rachen. Kleine Whiskeyrinnsale perlen aus den Mundwinkeln. Er schubst die Flasche zurück in die Tüte, rülpst donnernd. Schließt die Augen, sackt schnarchend in sich zusammen und wälzt seinen muskelschlaffen Körper allmählich auf meine Seite. Seine Strubbelspitzen streifen fast meine Nase. Ich halte dagegen. Süßmatschiger Fuselatmen umschlingt meine Nase, hüllt mich ein. Versuche zu lesen, schiebe den russischen Schnapsfleischklops zur anderen Seite. Kurzes Durchschnaufen, ich selbst nicke ein. Nur kurz. Alsbald kräht die erste von zig Werbeansagen aus den Lautsprechern. Alle Viertelstunde etwa. Ohne Gnade. Be a millionaire with Ryanair. Wir sollen Rubbellose kaufen, um direkt aus dem Flieger heraus ein Jetset-Leben zu beginnen.. Morgens kurz vor sieben, irgendwo in der Luft, vielleicht über Schleswig-Holstein. Kurz später sollen wir wieder Parfums kaufen. Zollfrei. Und Bustickets vom Flughafen Dublin stadteinwärts. Und Zugfahrkarten mit inbegriffener Stadtrundfahrt von London Stansted aus. Erstaunliche Angebote für einen Flug nach Finnland. Schlaf. Bitte.

Der Russe ist aufgewacht. Griff zur Tüte. Er stemmt die Buddel erneut. Gluckgluck. Flasche leer. Börp! Er grinst glasig. Entwickelt im Anschluss an seine Rumestat Gesprächsbedarf. Erzählt, er studiere in Stuttgart, verkaufe nebenberuflich Autos in Sankt Petersburg. „Abrr in Chauptberruff ich trrinke!“ Er lacht schnaufend. Sein Fettwanst bebt. Er hat noch eine Flasche Schnaps. Schraubt sie auf, reicht sie mir. „Druschba! Trrink! Iisst gchut fjurr Gähssundcheit!“ Danke nein. Ich trinke erst nach neun Uhr morgens. Er lacht wieder. Fettbeben. Flucht über „diese Scheißflugfirma“. Alles viel zu eng. Wampe passt kaum in den Spalt zum Vordersitz. Mist. Kurz vor der Landung klemmt er sich noch näher an mich. Will aus dem Fenster schauen. Die Fuselwolke schwillt.

Unter den Wattewolken tauchen zerfransende Seen auf, waldumrankt. Inselchen schwimmen darin wie Krümel im Tee, nachdem der eingestippte Keks abgebrochen ist. Wir landen. Mitten im Wald. Unser Flugzeug ist das einzige größere weit und breit. Wassillij, die russische Speckschnapsdrossel, bedankt sich für die angenehme Sitznachbarschaft und will mir noch einen Trick zeigen. Wie zielgenau er Fluggäste aus der Nase heraus mit Popeln beschießen kann, wenn er ein Nasenloch zuhält. Doch bekomme ich den Trick nicht mehr zu sehen. Gerade noch rechtzeitig sind die Türen geöffnet worden; wir können von Bord und betreten kurz darauf neuen Boden. Tervetuloa suomeen. Willkommen in Finnland. Ich schlörre meine vorüberrollende Tasche vom Gepäckband und schlurfe aus dem kleinen Terminal. Die erste Reise-Etappe ist genommen. Inmitten übermüdeter Erschöpfung wächst die Vorfreude.

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22 Wortmeldung(en):

Anonymous Anonym meint...

Erstmal herzlich willkommen zurück. Ich nehme an, daß alles noch dran ist?

Der ungemütliche Beginn ist normalerweise ein gutes Zeichen - wir werden ja sehen. Nächster größerer Ort, oder muß ich googlen?

19/10/07 18:44

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Reiselinie: Münster - Leer - Bremen - Tampere - Turku - Naantali - Turku - Stockholm - Turku - Tampere - Bremen - Leer - Münster. Wenn Du googeln möchtest. :)

19/10/07 18:51

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Und alles noch dran, ja. Wirklich ungemütlich fand ich auch nur die Wartehalle bei Ryanair. Sonst war der Flug halb nervig/halb lustig, die Müdigkeit sicherlich umfassend (aber ich bin ja noch jung, ich halte das aus) und der Urlaub selbst wundertoll. Aber das wird ja noch näher beleuchtet, zumindest einige Aspekte. :)

19/10/07 18:56

 
Blogger Lars meint...

Gut erzählt werter Herr Ole. Warum werden nue einige Aspekte näher beleuchtet? (Zwink)

19/10/07 19:49

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

das hat gründe. zumal eine umfassende erzählung aller einzelerlebnisse a) ewig dauern würde, b) bestimmte ereignisse dokumentieren würde, die in nichtöffentliche bereiche gehören, c) eben so lang wie weilig werden würde und damit dann vor allem die Leserschaft ermüden dürfte.

19/10/07 19:57

 
Blogger Etosha meint...

Kann mir, ganz ehrlich, nach dieser Lektüre nicht vorstellen, deiner Erzählungen je müde zu werden.

19/10/07 21:17

 
Anonymous Anonym meint...

stimmt es, dass man vor ort "leckere, fettlose milch" trinkt und es bereits schneit?

20/10/07 22:30

 
Blogger zoee meint...

ryanair lübeck. flug nach pisa. bis auf den russen und die flugverpasserin deckt sich alles! herzlichen dank für diese düster-heitere zusammenfassung.

21/10/07 09:08

 
Blogger amadea's world meint...

Schön, einfach schön.

21/10/07 13:21

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@etosha: Schön, wenn jemand wach bleibt. :)

21/10/07 14:14

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@rulla: ein klein wenig in geduld üben. dann wirst du beide fragen beantwortet finden. :)

21/10/07 14:14

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@zoee: es gibt also noch konstanten. ;) was ich indes in tampere mit einem busticket in die dubliner innenstadt oder einer zugfahrkarte london stansted - london zentrum mit stadtrundfahrt anfangen können sollte, gehört dabei noch immer zu den amüsantesten rätseln meiner jüngeren vergangenheit. :)

21/10/07 14:16

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@amadea: freut mich

21/10/07 14:17

 
Anonymous Anonym meint...

Viel Vergnügen und beste Tage da!

21/10/07 15:01

 
Blogger Etosha meint...

'Wach bleibt', ts :) Du liebst das Understatement, was?

21/10/07 18:07

 
Blogger zoee meint...

och, ryanair ist doch so flexibel - vielleicht sagt sich der pilot einfach ganz spontan "hmm ... das wetter in london ist besser als in tampere, fliegen wir doch einfach lieber dort hin!" dann würdest du ganz schön alt aussehen, ohne zugfahrkarte und ohne stadtrundfahrt! oder stell dir mal vor, er möchte doch lieber nach dublin! möchtest du dann alles dort zu fuss gehen? nein? siehst du! :)

22/10/07 07:03

 
Anonymous Anonym meint...

Och, auch ich werde sicher nicht müde, von dir ausgedachte oder erlebte Geschichten zu lesen. :)

22/10/07 21:32

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@michael: Beste Tage waren es. Leider im Präteritum. Aber immerhin. :)

22/10/07 21:37

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@zoee: Okay. Überredet. :)

22/10/07 21:48

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@etosha: Prahlhans war nie meine liebste Rolle. :)

22/10/07 21:59

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@sillerin: Nichtnarkotische Texte haben ja auch was für sich. :)

22/10/07 22:00

 
Blogger stilhäschen meint...

Sehr fein, ach. Und auf Rumestaten stehe ich sowieso. Hihi.

23/10/07 11:46

 

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