Freitag, April 22, 2005

Erinnerungen einer Zugfahrt

Der Triebwagen tuckert so langsam, dass man jeden verholzten Brombeerbusch am Rande der eingleisigen Strecke einzeln begrüßen kann. Eine Reise fast wie in eine andere Zeit. Verlassene Bahnhofsruinen, die früheren Fenster mit Presspappe und verwitterten Holzbrettern vernagelt, umwuchert von einem Wald aus meterhohen Brennnesseln und Birkensprossen. Bahnsteige wie Feldwege. Zertretene Stiefmütterchen in einem Betonkübel.

In der Sitzgruppe schräg vor mir sitzt ein Stiernacken mit aufgeplusterter Daunenjacke. Eine New York Yankees Baseballkappe sitzt schräg auf seinem kahlgeschorenen Kopf. Er blickt grimmig aus dem Fenster, schaufelt händevoll Chips in seinen Rachen. Als selbst der letzte Krümel in seinem Schlund versenkt worden ist, kratzt er sich kurz am Augenbrauenpiercing – dann friemelt er ein Feuerzeug aus seiner Jackentasche, hält die Flamme mit konzentriertem Gesichtsausdruck an den Plastikdeckel seiner Chipsrolle, wartet und sieht zu, wie das Plastik schmilzt.

Ich versuche zu lesen. Jedes Wort kommt einzeln an. Das Auge springt. Kein Zusammenhang will sich einstellen. Das Hirn taumelt müde, ziellos, ahnungslos. Überfordert von der Kürze der Nacht. Leises Auftauchen der Erinnerungen an die verschlafene Chance wenige Stunden zuvor. Die Augenlider senken sich. Ein milchtrüber Nebel hängt schwer vor der Wahrnehmung der Geschehnisse um mich. In der Krone eines Kirschbaums am Streckenrand flattert eine bunte Einkaufstüte im Wind. Das Licht ist seltsam herbstlich, viel zu weich und warm für die Jahreszeit.

Nächster Halt: Rinteln. Der Zug hält, der Motor wird ausgeschaltet. Zwanzig Minuten Fahrtpause. Der Daunenjackenstiernacken pustet gegen das geschmolzene Plastik. Es knackt, und eine kleine weiße Blase schießt aus dem Klumpen, fliegt hoch, fast bis zur Decke, landet dann sanft und klebrig auf dem marmorierten Plastik des Fußbodens.

Ein halbglatziger Mann betritt den Zug, legt neue Kleingeld-Rollen in den Fahrkartenautomaten ein. Klackernd. Der Automat nimmt keine Zwanzigcentstücke. Der Zugführer klettert schnaufend aus seiner Kabine. Mehrere Zentner schwer. Schweißperlen glitzern auf seiner Stirn. Er steigt aus dem Wagen aus, zündet sich auf dem Bahnsteig eine Zigarette an.

Ich steige auch aus, einmal in Rinteln auf dem Bahnsteig gestanden haben. Kann auch nicht jeder von sich behaupten. Der Zugführer hustet und spuckt eitrigen Auswurf auf den Schienenschotter unter dem Triebwagen. Art des Hustens: rasselnd, heiser. Ein Taximotor vor dem Bahnhof heult auf, es rast los. Das Motorengeräusch, das es zurücklässt, senkt sich sanft wie eine Staubwolke zu Boden. Drei solche Pausen macht der Zug. Man muss den Gegenverkehr vorbei lassen. Sagt der Zugführer. Die Zeit rollt langsam vorwärts. Der Zug bleibt noch ein wenig stehen. Es duftet nach gebratenem Fisch.

In einem Garten auf der anderen Seite der Gleise hängt eine Frau Wäsche auf, summt vor sich hin und blinzelt ins Licht. Sie bückt sich nach einer Handvoll Wäscheklammern und rückt den Schal über ihrem Haar zurecht. Leuchtend bunte, flatterige Stoffbahnen hängt sie auf. Oberteile, Hosen, endlose Unterwäschenvariationen. Als sie fertig ist und der Garten voll wippender Leinen mit nasser, schwerer Beflaggung hängt, richtet sie sich auf, drückt die Hand ins Kreuz, nickt wie zum Gruße herüber und blickt nach oben. Ein Lufthauch von der strahlenden Nässe sauberer Wäsche schwebt herüber.

Wieder einsteigen. Weiterfahrt. Am Horizont ein Fabrikschlot auf dessen Spitze eine einsame kleine Birke krumm im Wind tanzt. Woher sie wohl ihr Wasser bezieht? Die Gedanken rutschen unruhig hin und her, wie nervöse Hausfrauen, die erwartungsfroh im Konzertsaal irgendeiner Messehalle sitzen, vor einem Patrick Lindner-Konzert, für das sie die Eintrittskarten bei einem Preisausschreiben in der Kochzeitschrift gewonnen haben.

Hameln. Kein Rattenfänger in Sicht, aber zwanzig Minuten Pause. Vor der Weiterfahrt steigt eine Frau ein, fragt, ob sie sich mit in meine Sitzgruppe setzen darf. Natürlich. Mitte dreißig, schätzungsweise. Mild geschwungene Lippen, sehr eng anliegende Lederjacke, die eine vage Ahnung ihrer kurvenreich geschwungenen weiblichen Geometrie geben. Sie holt eine Postkarte aus dem Revers ihrer Jacke. Ein ganzer Haufen Affen darauf. Sie liest. Sie schmunzelt, steckt die Karte zurück und fragt: „Würde es Dich stören, wenn ich mich Dir direkt gegenüber setze? Die Sonne scheint so schön und ich würde gern ein paar der Strahlen einfangen“ „Absolut nicht.“ Die staubige Luft knistert. Sie lächelt, schließt die Augen, reckt ihren Hals den Sonnenstrahlen entgegen. Fast wie beiläufig fährt sie mit dem Zeigefinger über ihr Décolleté.

Dann schlägt sie die Augen blitzartig auf, blickt mich mit funkelnd durchdringendem Blick an und sagt: „Findest Du es nicht auch schade, dass man sich im Zug nicht einfach entkleiden kann, um während der Fahrt mit bloßem Oberkörper Sonne zu tanken?“ Meine Gesichtsdurchblutung steigt, die Nervenströme im Hirn verfahren sich unablässig beim Versuch, in der Nähe einer besonders schlagfertigen Antwort zu parken. Die Versuche erschöpfen sich beinahe in dem Gedanken „Sei jetzt schlagfertig“. Sie grinst genüsslich, als zerginge ihr der Nachklang ihrer Worte auf der Zunge wie eine leicht gezuckerte Erdbeere. Am nächsten Bahnhof steigt sie aus, wirft mir ein laszives Lächeln zu und wünscht mir einen schönen Tag noch Kleiner. Ebenfalls. Hessisch-Oldendorf. Provinzkaff as Provinzkaff can. Heimat des wohl hässlichsten Schrebergartens der Welt. Ein gammeliger Hort windschief vernagelter Bretterverschläge und schäbiger Schuppen. Verbeulte Autoreifen, angeschimmelte Plastikfolie, rostige Harken, haufenweise Müll. Irgendwann steige ich um. Neuer Zug. Ich komme dem Zuhause näher. Meter um Meter. Seltsamer Tag, seltsame Fahrt. Bald ist sie zu Ende.

Labels:

9 Wortmeldung(en):

Blogger viktorhaase meint...

ich brech zusammen. ich honk hab eben aus versehen meinen kompletten blog gelöscht.

22/4/05 11:30

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Du hast waaaaaaaaaaaaaaas???

Oh Heimat! Lesen kann man Deine Texte noch, aber sobald man auf die kommentarfunktion geht, sind sie tatsächlich weg... futsch, nada, not found. Das kann doch nicht sein?!!!

Wiesu denn bluß? Geht das so schnell? Einfach aus Versehen?

22/4/05 11:58

 
Anonymous Anonym meint...

lol wie macht man den sowas? also das blog löschen?

schöner roadmovietext.

22/4/05 12:22

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Viktor wird's Dir wahrscheinlich fluchend und zähneknirschend erzählen können. Sowas Blödes...

und: danke. :)

22/4/05 12:29

 
Blogger viktorhaase meint...

ich hab keinen blassen schimmer. wohld en falschen button erwisscht und blind bestätigt. wahnsinn!

22/4/05 17:26

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Ich wünschte, es gäbe diesen Button nicht. Ich wünschte, es hätte ihn nie gegeben... nicht, dass demnächst noch mehr so tolle Blogs einfach futsch verschwinden!!!

22/4/05 19:22

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Viktor: Ich hab grad Folgende Neuigkeit bei Blogger.com gelesen. Kann Dir das nicht helfen???

"April 14, 2005
Recover Post, Recovered
Remember how we announced the launch of a cool new feature and then, (pysche!) we took it down for a bit? Well it's back up now and it's strong like bull. Here's a refresher on that feature: Can I recover a lost post? The short answer is yes. We save your post to a browser cookie as you're typing so if your browser quits, crashes, closes, etc., then you just click "recover post" when you get back to the new post screen. In a blink, the post is back.

Note: Eric thought I should point out that we auto-save the first 3k of your post. If you're writing a long essay or book chapter, you can use the "Save as Draft" button."

23/4/05 19:21

 
Blogger viktorhaase meint...

ich hab alles versucht. es ist fort. für immer.

26/4/05 13:48

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

und jetzt? Wirst auch Du für immer fortbleiben? Wenn ja, bastele ich Dir einen Gedächtnisschrein oder sowas.

26/4/05 14:42

 

Kommentar veröffentlichen

<< Home