Mittwoch, Oktober 24, 2007

Der Blick auf's Land


Eisige Windböen fegen über den Bahnsteig in Tampere, als der Zug gen Turku einrollt. Noch zwei Stunden Fahrt bis zum eigentlichen Ziel. Zwei Stunden Zeit, einen intensiven Eindruck der Landschaft zu erhaschen, die mir bislang nur in Bildern, Filmen und Vorstellungen erschienen war. Neugierig und von den drecksprenkeltrüben Fensterscheiben nur leicht gebremst, schwirren meine Blicke an verwaschenen Gardinen vorbei nach draußen, saugen neue Eindrücke auf. Die vagen Ahnungen weichen den konkreten Wahrnehmungen.

Beileibe nicht so felsig hatte ich das Land erwartet. Die weiten Wälder wimmeln von schroffen Felsbrocken, meterhohen Gesteinsformationen. Geröllgewimmel wie darniederliegende Meteoritenfelder. Imposante Überbleibsel der Eiszeit.Flechten und Moose haben sich darüber gelegt. Kleine Sträucher haben in den dünnen Schichten Mutterboden gewurzelt. Satte Gelb-, Grün-, Braun- und Grau-Töne mischen sich immer wieder neu. Die Birken haben das Gros ihres Laubes schon gelassen und stehen dicht gedrängt wie zebragemusterte, zerfranste Zahnstocherhorden. Krumme Kiefern kauern sich dazwischen, umzingelt von dunklen Tannen. Sägewerke verraten nur kurzzeitig ihr Waldversteck. Von Spanstaub bedeckt wie von Mehltau. Krumme Baumstammpyramiden türmen sich daneben.

Vielarmige Seen glitzern im Gegenlicht. Winzige Gestalten sind auf einer Nuss-Schale hinausgerudert, um zu angeln oder die Seele baumeln zu lassen. Die Spitzgiebel von rotgetünchten Sommerhäuschen, den „Mökis“, lugen über die von Schilf umwucherten Ufer aus dem Baumdickicht. Von Tampere über Toijala, Humppila und Loimaa rauscht der Zug gen Turku, lässt die finnische Seenplatte allmählich hinter sich. Bald wechselt der Wald mit abgeernteten Getreidefeldern. Äcker liegen brach. Karg wirkt der Boden. Reiche Frucht wird er nicht getragen haben. Heuballen, in Silofolie eingewickelt, kuscheln sich zu meterlangen Perlenketten aneinander, die unter der warmen Herbstsonne glänzen. Gedrungene Blech- und Holzschuppen stehen einsam und verlassen inmitten der Felder, schimmern matt, zuweilen rostzerfressen, trotzen dem kalten Wind. Vereinzelt staunen Kühe den vorbeiratternden Express an.

Holzhäuser sausen durch das Blickfeld. Oft im warmdunklen Kupfer-Rot gestrichen, das für Skandinavien so typisch scheint. Mindestens ebenso oft indes in mattgrau, blassgelb, hellbau oder lindgrün. Auch sie stehen oft eher wie aus einem Salzstreuer in die Landschaft gepurzelt da, fast wie zufällig. Nachbar heißt schon, wer eine Viertelstunde Fußmarsch oder länger entfernt wohnt. Nur selten streifen wir kompaktere Ortschaften. Wo sie sich finden, ballen sich vermehrt die gesichtslosen Beton-Wohnblöcke, moderne Lagerhallen. Die Idylle bleibt innerorts weitgehend außen vor, bricht auf. Immer wieder knattern Landesfahnen im Wind. Es ist Flaggentag (Lippupäivä), genauer gesagt der Aleksis Kivi-Tag, Tag der finnischen Literatur.

Ich klaube ein weiteres Proviantbrötchen aus dem Rucksack, lasse das Papier in einer der dünnen Mülltütchen verschwinden, die neben jedem Sitzplatz hängen. Krümel purzeln über meinen Pullover. Ein wulstiger Greis, der mit mir eingestiegen ist, hustet sich in der kleinen Raucherkabine neben meinem Abteil die Lunge aus dem Leib. Rasselnd, schleimig. Seine Tasche lässt er unbeobachtet liegen, fast die gesamte Fahrt lang. Große Sorge scheint ihn nicht zu treiben. Sie selbst unternimmt keine Fluchtversuche. Und außer ihm bin ich der einzige Fahrgast im Waggon. Ein wahrscheinlich überschaubares Risiko. Neben seiner Räucherkammer gibt es noch eine kleine, leere Telefonzelle für Handybenutzer. Ein Abteil weiter wuseln gar Dreikäsehochs über eine eigene Kinderspielwiese mit Bilderbüchern, Bauklötzen und einer kleinen Rutsche. Auf der Toilette überdies einen Flaschenwärmer für Babymilch. Monitore an der Waggondecke bieten Reise-Infos: Mit 115 Kilometern pro Stunde sause ich dem Ziel entgegen. Die Minuten schrumpfen. Bald ist es soweit. Die älteste und angeblich schönste Stadt Finnlands rückt näher. Was immer das heißen mag.

Hier gibt es die gesammelten Urlaubsfotos

Labels:

10 Wortmeldung(en):

Anonymous Anonym meint...

Ach, was ist das schön, dass man hier entspannt auf dem Sofa eine Bilder- und Wortreise durch den hohen Norden machen kann. :)

24/10/07 15:07

 
Anonymous Anonym meint...

Schöne Reiseerzählungen aus einer Ecke Europas, die man kaum kennt. Auch allerliebst: Alliterationen à la "zebragemusterte, zerfranste Zahnstocherhorden".

24/10/07 17:08

 
Anonymous Anonym meint...

*Klopf, klopf, klopf... :-)
Ole, bei Ihrer wortgewaltigen Schilderung verwandelt man sich automatisch in einen kleinen, finnischen Troll und schlüpft wie von Zauberhand in Ihr schön gezeichnetes Bild..
Anna :-)

24/10/07 18:15

 
Anonymous Anonym meint...

Ach, werter Herr Ole, hier bei Ihnen sitze ich auch am liebsten und hole meine Proviantbrötchen raus. Wissen Sie eigentlich - mampfmpf - wie man Laptoptastaturen wieder sauber bekommt?

Herzlich und mit klemmndn Tstn
Ihre FrauvonWelt

24/10/07 21:53

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Ein Staubsauger könnte helfen, oder? Potenziell. Und beim nächsten Mal vor dem Mampfen ein finnisches Zugmüllbeutelchen aus der Halterung rupfen und über die Tasten legen. Dnn klmmt ch nx mer

24/10/07 22:02

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@sillerin: Sofas haben definitv was für sich!

24/10/07 22:03

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Alliterationen finde ich an sich in Prosatexten auch schonmal albern. Das Beispiel ist zunächst sogar rein zufällig und intuitiv entstanden. Hab erst später geguckt und gedacht: Huch. :) Und: Freut mich.

24/10/07 22:04

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@anna: "kommt so ein kleiner troll von dem fjäll, streichelt dich leis', hat in der hand hexenkraut, was niemand weiß..." herrje, jetzt habe ich einen ohrwurm von einer alten pfadfinderlagerfeuerballade. aber eigentlich auch schön. und danke.

24/10/07 22:05

 
Anonymous Anonym meint...

Ich kenne leider nur die Häfen, schön, dass ich jetzt einiges nachholen darf. :-)

Nur bei den Fotos regt mich das Geflackere rechts auf. Genau wie neuerdings bei meinen eigenen sevenload Filmen und der Werbung für was weiß ich alles, die sie vor jedem Film kleistern. Saubande.

26/10/07 11:31

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@opa: Ich empfehle die "Slideshow". Dann sollte beim Betrachten nicht mehr viel blinken und flackern. Für derlei kann ich ja leider nix. Und bei kostenlosen Diensten bin ich da auch gern einen Tick nachsichtiger.

26/10/07 18:21

 

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