Mittwoch, Januar 19, 2005

Ich seh' im Text, was Du nicht siehst

Alles neu macht der Mai, einiges neu machen zuweilen die Übersetzer von Büchern. Lustig zu beobachten im "Raben" 47 (Mai 1996): Wohl über zwanzig Übersetzungen ins Deutsche gibt’s inzwischen von Flauberts "Madame Bovary". Die Raben-Redakteure haben sich nun den Spaß gemacht, und sämtliche Übersetzungen zu vergleichen anhand der ersten zwei Sätze. Flaubert selbst hat es so formuliert:


"Nous étions À l’étude, quand le proviseur entra, suivi d’un nouveau habillé en bourgeois et un garçon de classe qui portait un grand pupitre. Ceux qui dormaient se réveillèrent, et chacun se leva comme surpris dans son travail."


Doch was wird daraus im Deutschen ?


Caroline Vollmann (2003)hat eine der neuesten Übersetzungen geliefert, die von diversen Flaubert-Philologen und dem deutschen Feuilleton allerhöchst gelobt wurde wegen ihrer Textnähe. Diese Übersetzung steht nicht im "Raben", aber sie schlägt trotzdem vor:


"Wir waren im Arbeitssaal, als der Direktor eintrat, ihm folgten ein Neuer in ziviler Kleidung und ein Schuldiener, der ein großes Pult trug. Wer schlief, wachte auf, und jeder erhob sich, als sei er in seiner Arbeit gestört worden:"


A.Winterstein sieht’s so:


"Wir waren eben noch im Lehrerzimmer bei unseren Aufgaben, als der Vizedirektor des Instituts brüsk eintrat und einen neuen Zögling hineingeleitete, der noch nicht die passende Uniform des Instituts, sondern einen gewöhnlichen Anzug trug; ein Schuldiener, ein großes Pult auf dem Rücken schleppend, folgte ihnen auf dem Fuße nach. Die Knaben, welche während des Unterrichts eingenickt waren, fuhren aus ihrem Halbschlummer empor und taten, als wenn sie durch die neue Erscheinung in ihrer Arbeit gestört worden wären."


Spannend ist vor allem, mit welcher Präzision Ernst Sander auch die kleinsten Details in Flauberts Vorlage entdeckt hat, die dem Auge eines Durchschnittslesers möglicherweise entgehen, da sich die Kunst des Zwischendenzeilenlesens bei ihm nicht zu voller Blüte entfaltet hat:


"Es war kurz nach halb zwei; der Studienaufseher wartete auf den kleinen Dreiviertelschlag und schickte sich an, die Arbeiten vorlesen zu lassen, als der Direktor in der Unterrichtsraum der 'Mittleren' trat; ihm folgten ein etwa fünfzehnjähriger Junge und ein Pedell, der ein großes Pult trug. Die geschlafen hatten, fuhren hoch. Geräuschvoll wurden Wörterbücher aufgeschlagen und die zugeklappten Hefte zu sich gezogen. Wer Männchen gezeichnet hatte, versteckte sie unter seinem Atlas; mehr als einer, der mit feuerroten Backen einen Schundroman verschlang, hatte nur noch Zeit, ihn zwischen seinem Rücken und der Wand zu Boden gleiten zu lassen. Wer sich mit nichts beschäftigte, tat, als schnitzele er sich eine Feder zurecht. Dann sprangen alle auf, als seien sie bei der Arbeit überrascht worden."


Gerade die letzte Übersetzung hat wiederum mich überrascht.

6 Wortmeldung(en):

Blogger nora meint...

Verständlich

20/1/05 10:52

 
Blogger Stefan meint...

Offenbar werden verhinderte Schriftsteller nicht bloß Kritiker, die dann andere Bücher verreißen, sondern auch Übersetzer, die ein fremdes Werk bearbeiten und sich darin selbst verwirklichen. Spannend!

20/1/05 11:00

 
Anonymous Anonym meint...

Ich finde ja Winterstein schon reichlich gewagt, aber Sander treibt's dann wirklich zu bunt. Man müsste natürlich mal nachgucken, ob all diese Informationen, die er da liefert, vielleicht noch in den nächsten paar Sätzen bei Flaubert stehen - denn es kann ja, wenn es zum Gesamtduktus des Texts passt, durchaus legitim sein, einige Sätze zusammenzufassen (Stichwort: Man übersetzt ja nicht Wörter oder Sätze, sondern Texte).
Dieser eine Satz von Caroline Vollmann reißt mich jetzt zwar nicht gerade vom Hocker, aber sie ist eine der ersten Übersetzerinnen, die mich, als ich mit dem Übersetzen anfing, maßlos beeindruckt haben. Ich kann nur wenig Französisch - aber ob ein Text gelungen ist, merkt man ja einer Übersetzung trotzdem an. Als ich Maupassants "Stark wie der Tod" in ihrer Übersetzung las, musste ich dauernd denken: "So möchte ich das auch mal können."

15/3/05 22:21

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Ich hab den Roman gelesen. In den Sätzen danach steht nirgends was von dem, was Sander übersetzt hat. Hinten ist ein kritischer Anhang mit allen gestrichenen Passagen, die beziehen sich aber nicht auf den ersten Satz.

16/3/05 09:27

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Vielleicht wurde Herr Sander ja nach Worten bezahlt?! :)

16/3/05 09:37

 
Anonymous Anonym meint...

Sozusagen ja, normalerweise wird nach Seiten abgerechnet. Und was eine Seite ist, ist genau definiert (unter Normseite, kann ich nicht direkt verlinken).
Von wann ist die Übersetzung denn?

16/3/05 19:09

 

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