Freitag, Juli 04, 2008

Der stille König der Fußgängerzone

An Samstagen trug er eine zerknitterte Krone aus Zeitungspapier. Windschief gefaltet, zuweilen vom Regen durchnässt. Josef war der stille König der Fußgängerzone, seine Zepter klaubte er aus Plastiktüten. Grün, aus Glas, mit silberglänzender Krempe und einem Kronkorken zuoberst. Niemand wusste genau, wo sein Schlafpalais lag, niemand traute sich, ihm zu folgen. Man kannte ihn nur in seinem weitläufigen Thronsaal, durch den die Leute zum Einkaufen flanierten. Seit sein Schäferhund Rudi gestorben war, zog Josef aus liebevollem Respekt vor jedem Hund den Filzhut. Unter der Woche. Am Samstag nahm er sogar seine Krone vom Haupt und entblößte die wenigen wirren Strähnen darunter. Dann zog er zuweilen auch einen kleinen Hundekuchen aus einer der zerbeulten Manteltaschen und lächelte zwischen den verbliebenen Zahnstumpen hindurch, während er den Tieren den Kopf streichelte und sie schwanzwedelnd mit ihren Herrchen und Frauchen von dannen zogen. Man sagt, Josef habe früher das Herz auf der Zunge getragen, weil’s auf der Zunge lag, doch dann habe er sich schwer das Herz erkältet und sei verstummt. Wer ihn ansprach, erntete ein Kopfnicken, einen wortlosen, freundlichen Blick, doch kein Wort. Nicht über das Wetter, nicht über die steigenden Preise oder das Wohlbefinden. Tag für Tag saß er vor dem Rhododendronbusch auf der kleinen Bank unweit der Sparkasse, und sein rasselndes Husten war alles, was man von ihm hörte außer dem Klirren und Klimpern und dem Rascheln der Plastiktüte, wenn er sein Zepter wechselte. Doch selbst das bleibt neuerdings aus, und seit einigen Wochen sieht man ihn nicht einmal mehr. Womöglich ist der stille König der Fußgängerzone geschrumpft. Vielleicht ist er auch fort.

14 Wortmeldung(en):

Anonymous Anonym meint...

Der König sieht als junger Mann die Vision des Grals in einem Lagerfeuer. Besessen von dem Gedanken an Macht, Ruhm und Schönheit greift er danach und verbrennt sich die Hand. Mit den Jahren wird diese Wunde immer schwerer und der König alt und krank. Eines Tages kommt ein Narr in das Schloss, sieht den kranken Mann, erkennt ihn aber nicht als König und fragt: "Was fehlt dir, mein Freund?" Der Alte antwortet, er habe Durst und brauche dringend Wasser. Der Narr nimmt einen Becher, der neben dem Bett steht, füllt ihn mit Wasser und reicht ihn dem König. Als der König daraus trinkt, heilt seine Wunde und seine Kräfte kehren zurück. Verwundert fragt er den Narren: "Wie konntest du etwas finden, das meine Tapfersten und Weisesten nicht fanden?" Darauf antwortet ihm der Narr: "Ich weiß nicht. Ich wusste nur, dass ihr Durst hattet."

4/7/08 14:36

 
Anonymous Anonym meint...

Geschrumpft? Wie wäre das weil warum?

Ein Komma vor 'und sie schwanzwedelnd...' würde mir helfen, mir nicht dauernd den König schwanzwedelnd vorstellen zu müssen. *gg*

Thx für den Link, btw... Ich hab mich sehr gefreut!

4/7/08 22:12

 
Blogger DanielSubreal meint...

Und wenn er das Herz nun verschluckt hat und es ihm schwer im Magen liegt und man nur mal einen Kaiserschnitt beim König machn müsste? Dann, dann sollte sich hier mal schleunigst ein Arzt melden...

5/7/08 17:23

 
Blogger Lenny_und_Karl meint...

Och Ole, da das RSS-Feed für Netvibes irgendwie mit deiner Seite nich kompatibel ist lese ich hier viel zu selten. Aber wenn ich es tue - wie heute - merke ich doch, dass mir genau solche Texte in meiner täglichen Lektüre fehlen. Wie schön, ich brauche mehr davon.

7/7/08 11:45

 
Anonymous Anonym meint...

@LuK Nutze seinen von Feedburner, der klappt. Mache ich auch.

7/7/08 12:13

 
Anonymous Anonym meint...

wenn Kronen scho/ön knittern, nagt das Königreich bald am Spliss?

9/7/08 14:23

 
Anonymous Anonym meint...

Eine traurig-schöne Geschichte, mein lieber Ole.

Bleibt zu hoffen, dass der König vielleicht wenigstens seinen Hund wiedergefunden hat.

9/7/08 14:45

 
Blogger viktorhaase meint...

vielleicht sucht er auch nur den heiligen gral. kann ja sein. könige sind zumeist etwas schrullig.

10/7/08 10:40

 
Anonymous Anonym meint...

Schwer zu ertragen, diese Traurigkeit .

10/7/08 11:36

 
Anonymous Anonym meint...

In "Metal Gear Solid 4 - Guns of the Patriots" heißt es: "War has changed." In "Fallout 3" heißt es dagegen: "War never changes." Bleibt die Frage: Welche Aussage ist wahr?

Gruß

Dirk

10/7/08 14:31

 
Blogger Unknown meint...

Wie schön beobachtet. Und diese Blog muss ich fortan täglich lesen

11/7/08 13:51

 
Blogger Frau H. meint...

Ich kann es leider mal wieder nicht anders sagen: Einfach wunderschön geschrieben, lieber Ole! Besonders das unprätenziöse Ende...

11/7/08 15:51

 
Blogger mq meint...

Vielleicht hat er einen Staatsbesuch bei einem anderen Fußgängerzonenzaren angetreten?

14/7/08 18:47

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@fisherman: Terry Gilliam for president!

21/7/08 09:29

 

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