Dienstag, Mai 30, 2006

Onkels Worttrostpflaster

Von der Kuppe aus hat man einen herrlichen Blick ins sanft geschwungene Tal. Doch heute irrt der Blick unruhig, mag sich nicht freuen. Nicht, dass der Anblick nicht erfreulich wäre. Er ist köstlich wie immer. Das Tal sonnt sich entspannt, die kleinen Dörfer recken und strecken sich hügelan. Doch ich merke es gar nicht wirklich. In meinem Bauch klumpen Sorgen in flauem Unterdruck. Fast schmerzhaft kitzeln die Eingeweide, als durchsausten ängstliche Hummeln die Bauchhöhle. Das irre Geflirre dehnt sich aus, quetscht die Kehle zu. Ich liege am östlichen Rand der Kuppe im schrägen Frühsommerlicht unter einer sattgrünen Eiche, ganz für mich, als Onkel Jiří nähergeschlurft kommt.

Eine Pfeife wippt in den Mundwinkeln unter seinem silbernen Zwirbelschnurrbart. Stoßweise hüpfen Wölkchen aus dem Pfeifenkopf. In seinem Nacken schläft Tannenzapfen, sein zahmes Eichhörnchen, dessen buschiger Schwanz sich um Jiřís Hals geschwungen hat. Sein kugelrunder Bauch schaukelt im Takt der Schritte und spannt unter seinem senfgelb-braunen Holzfällerhemd. Während er mir entgegenschlurft, ploppt plötzlich einer der Hemdleistenknöpfe ab. Er bückt sich, durchwuschelt Grashalme und pult den Knopf aus dem Rasengeflecht zu seinen Füßen. „Oh, da habe ich wohl zu kräftig eingeatmet“, krächzt er heiser, als er schon fast bei mir angekommen ist. Seine Augen funkeln vergnügt, doch als er mich länger anblickt, wird sein Blick seltsam blass und ernst. Er kniet sich neben mich, nimmt Tannenzapfen von seinen Schultern, das sich erst schläfrig mit den Pfoten die Augen reibt und dann die Eiche über uns hinaufhüpft.

„Zapatka, was ist los?“ „Ich weiß nicht, meine Ohren hängen heute ein wenig.“ „Ei. Wieso bist Du traurig? Wer hat Dir was getan?“ „So richtig eigentlich niemand, aber der Emil stand heute in der Schule bei der Evá und hat sie in der Pause heiß umschwänzelt. Und dann hat er ihr ins Ohr geflüstert, und dann hat sie mit dem Finger auf mich gezeigt, gekichert, und gequietscht: ‚Zapatka ist eine Mottenkugel! Kugelrund und stinkt!’“ „Der Emil, diese Frettchenschnauze! Den habe ich letzte Woche erwischt, wie er mit der Rosenschere einfach den Weidezaundraht, unten am Bach, kaputtgeknipst hat. Und die Evá, wer ist die?“ „Sie ist in der Nachbarklasse, ich mag sie eigentlich sehr gern.“ „Ist das die kleine mit den Rotweinlocken?“ „Ja.“ Eine Krokodilsträne kullert in Schlangenlinien meine Wange hinab. „Sie hat so ein klingelndes Lachen und ein lustiges Kleid mit Delfinen drauf.“

Onkel Jiří zupft an seinen Schnurrborsten, seine Stirn kräuselt sich zu kleinen Bergen und Tälern. „Dann tut es besonders weh, wenn sie so etwas Blödes zu Dir sagt.“ „Ja“, seufze ich und erschrecke wie sich meine Stimme, halb erstickt, überschlägt. „Und dabei bist Du doch kein bisschen dick und rund und stinken tust Du schon gar nicht. Da ist der Emil doch viel schlimmer. Der lässt doch sogar Papierschiffchen in der Jauchegrube schwimmen.“ „Ich weiß“, schluchze ich, während mir Onkel Jiří durch die Haare streichelt. Und dann brummt er „Wer lacht und mit dem Finger auf andere zeigt, ist in Wirklichkeit mit sich im Unreinen und will nur von sich ablenken. So wahr ich Jiří Kolář heiße, wenn jemand dick ist, dann vielleicht ich. Sollen sie doch über mich lachen. Mir macht das nichts. Ich habe Gurken gegessen, groß wie Bahnschranken und Äpfel, auf denen die Wartburg stehen könnte. Es hat mir geschmeckt und gut getan!“

Ich musste lachen. Er lachte zurück und klopfte seine Pfeife auf einem Stein neben uns aus, ehe er etwas sagte, was ich nicht ganz begriff. „Hör keinesfalls zu wachsen auf, bevor Du nicht mit einem Bein auf der Erde stehst und mit dem anderen auf dem Mond, damit Du die Sterne abwischen kannst, die matt geworden sind und nicht mehr funkeln, weil sie der Kosmosstaub zwei Finger dick bedeckt. Vor allem aber, lass Dir nicht einmal im Träume einfallen, den Großen Bären zu necken, den Kleinen Bären mit Erdnüssen zu füttern oder gar den Polarstern abzulutschen wie ein Eskimoeis, Du fielest sonst wie eine reife Birne aus der Höhe und nur ein Fettfleck bliebe von Dir übrig.“

10 Wortmeldung(en):

Blogger Lundi meint...

Eine sehr schön geschriebene Geschichte. Und ich nehme für mich den Rat von Onkel Jiri mit: Nach den Sternen greifen ist nur zum Putzen empfohlen, ansonsten können die Sternbilder ziemlich unangenehm werden.

30/5/06 16:01

 
Anonymous Anonym meint...

Den Sternen den verlorenen Glanz zurückgeben, das ist ein wunderbaren Bild und Stunden gibt es, da geht das sogar....

30/5/06 16:51

 
Anonymous Anonym meint...

Ein guter Onkel, der mit dem Bauch fühlt und mit dem Herzen sieht. Nur eine andere Atemtechnik sollte er sich vielleicht angewöhnen :-)

30/5/06 18:12

 
Anonymous Anonym meint...

So ein Onkel Jiří ist Gold wert. Eine sehr anrührende Geschichte, Ole. Hat mir gut gefallen.

30/5/06 21:33

 
Anonymous Anonym meint...

du bist ein herzöffner, meins kriegste mit den schönen geschichten ganz weit auf :)

30/5/06 22:50

 
Blogger eins60 meint...

wunderschöne geschichte. besonders der letzte absatz gefällt mir sehr. schöne bilder, die du da schreibst.

31/5/06 09:42

 
Blogger samoafex meint...

*verstohlen Träne abwisch* Maaaa. Das war aber schön!

31/5/06 13:18

 
Anonymous Anonym meint...

Die Geschichte ist wirklich sehr schön! Jeet annet Hezz, wie die Kölsche sagt. (Geht ans Herz für alle Nichtkölschen)

Liebe Grüsse

die Hausmeisterin

31/5/06 21:27

 
Anonymous Anonym meint...

Andere Bundesländer in Kleinbloggersdorf, andere Sitten...
Damit ich nicht "anonym" bleibe also das Gleiche noch mal: Die Geschichte ist wirklich sehr schön! Jeet annet Hezz, wie die Kölsche sagt. (Geht ans Herz für alle Nichtkölschen)

Liebe Grüsse

die Hausmeisterin

31/5/06 21:29

 
Anonymous Anonym meint...

Sterne abwischen... das sind Zeilen wie aus dem "kleinen Prinzen" gut ehrlich und mit vielem wahren dran und drin...

21/6/06 19:57

 

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