Dienstag, Dezember 12, 2006

Winternacht

Rund und buttergelb ging der Mond auf über dem schwarzen, gezackten Relief des Waldes am Horizont. Eine Frau blickte ihm mit gläsernen Augen nach. Still. Starr. Sie saß, in schwarze Tücher gehüllt, am Rande einer Feldwegkreuzung auf einer Bank unterhalb einer Zwillingseiche, deren eng verzweigte Baumkrone wie ein schwarzer, löchriger Vorhang immer wieder den ungetrübten Blick durchbrach.

Die Äcker ringsum lagen tief und festgefroren unter einer dicken Schneeschicht. Die Schwarze stand auf. Um einen freieren Blick nach oben zu haben, entfernte sie sich ein Stück von Bank und Baum, kletterte über vereisten Stacheldraht und wanderte mitten auf ein Feld. Eiskristalle überglitzerten eine Viehtränke zu ihren Füßen. Bei jedem Schritt knirschte der Schnee leise. Sie legte ihren Kopf in den Nacken, stumm, wortlos betrachtend. Inzwischen hatte der Mond die Waldwipfel weit hinter sich gelassen, erschien weiß glänzend am leeren Himmel und erhellte ihn. Endlich verlangsamte er seinen Lauf und warf einen großen Fleck auf den halbüberfrorenen Fluss, der eine Unzahl von Sternen bildete.

Dieser Silberglanz schien sich bis auf den Grund hinabzuwinden wie eine Schlange ohne Kopf, bedeckt mit leuchtenden Schuppen aus geschmolzenen Diamanttropfen. Die kalte Nacht breitete sich um sie aus. Die Schatten der Eiche lagen auf dem Schnee wie dunkle Tücher. Sie atmete mit halb geschlossenen Augen in vollen Zügen den frischen Wind ein, der sie umwehte. Alte Erinnerungen kletterten ihr ins Gedächtnis. Die Zärtlichkeit vergangener Tage durchfloss ihr Herz wie ein bittersüßer Strom. Sie schlich zurück. Zögernd legte sie sich unter der Zwillingseiche nieder. Sie seufzte, den Blick starr nach oben gerichtet. Ihre Kleidung, verschmolz mit den wehmütigen Schatten der Eiche. Sie selbst flog zu den Sternen.

26 Wortmeldung(en):

Anonymous Anonym meint...

Müdigkeit und Kälte, eine unheilvolle Verbindung von seltener Klarheit.

12/12/06 13:37

 
Anonymous Anonym meint...

wow, was für ein flippers-kontrastprogramm. ps: hör die bei mal die mondsilbertaufe vom traumzauberbaum an, hat mich ein bisschen daran erinnert.

12/12/06 16:26

 
Anonymous Anonym meint...

Die Welt in Trance. Da geschieht das Einssein mit ihr in Leichtigkeit. - Ich lege der Schwarzen behutsam eine warme weiße Decke über, aber ohne sie zu wecken.

***

Wunderbare Bilder, die sich "bis auf den Grund hinab (...) winden wie eine Schlange ohne Kopf". Fein!

12/12/06 17:47

 
Anonymous Anonym meint...

Du wirst das nicht glauben, aber ich kenne diese Frau.

13/12/06 02:07

 
Anonymous Anonym meint...

Ganz toll, sehr würdevoll. Ich bin beeindruckt.

Nur den einen Satz, den find ich furchtbar.
"Eine Frau - komplett in ein langes, schwarzes Gewand gehüllt - folgte minutenlang seinem Aufstieg"
Hat mir am Anfang ein bisschen die Lust zum Lesen verdorben. Zum Glück ist die schnell wieder zu mir zurück gekehrt. Wirklich schön.

13/12/06 02:13

 
Anonymous Anonym meint...

Hätte ebenfalls Potenzial als modifiziertes Intro zu 'Hijo de la Luna', einem spanischen Märchen.

13/12/06 03:03

 
Anonymous Anonym meint...

Ich kann jetzt einschlafen! Tipps dazu heute drüben bei mir.

13/12/06 09:59

 
Blogger viktorhaase meint...

ha! hier wird uns ein winter versprochen den es nicht mehr gibt. das macht mich trauriger als die geschichte als solche. aber trotzdem: chapeau.

13/12/06 11:07

 
Blogger Galen meint...

Ich hab dieses komische schwarze Ding von den Mumins im Kopf gehabt, auch wenn das wohl eher männlich ist. Erinnert mich aber irgendwie an ne Geschichte(?), die ich davon mal gelesen hab...

13/12/06 11:25

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@galen: Ich hab nie ne Mumins-Geschichte(?) gelesen und hätte womöglich auch Probleme, aus dem Nichts das Geschlecht eines Mumins zu bestimmen. :)

13/12/06 13:07

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@ichbinerkältet: Den einen Satz fand ich selbst blöde, ich war aber zu müde, um noch ewig zu feilen. Ich habe jetzt ein wenig umgestellt. Bezaubert bin ich davon immer noch nivht völlig, aber die Karriereleiter ist aus dem Bild gesägt. :)

13/12/06 13:08

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@viktor: Ich lass mich überraschen. Unverhofft kommt ja öfter als man denkt und immer genau dann, wenn man nicht damit rechnet. Auch beim Winter. Denke ich. Schätze ich. Sollte ich sagen: Fürchte ich?! ;)

13/12/06 13:09

 
Anonymous Anonym meint...

Ich hätte gern ein Foto von dem Mond!

13/12/06 13:19

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@rulla: Erzählt hast Du davon ja schon mehrfach. Nur: Wo kann ich mir die/den anhören? Bei Amazon gibt es keine Einzeltitel-Anspielmöglichkeit dafür. :)

13/12/06 13:20

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@dolce vita: Ich fürchte, das wirst Du Dir denken müssen. (oder in fotocommunities ergoogeln) :))

13/12/06 13:20

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@ratze: Wer war sie doch gleich?

13/12/06 13:20

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@mkh: Das schützt sie sicher vor dem sicheren Kälteverscheiden. Höchst löblich!

13/12/06 13:21

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@MC: Konntest Du das vorher nicht? :) Danke für die Tipps!

13/12/06 13:22

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@frollein: Ich muss gestehen, bislang war mir der "Sohn des Mondes" nur als Lied bekannt. In Versionen von Montserrat Caballé und den fragwürdigen "Loona", damals. Dass es ein Märchen ist, ist mir neu. Vielleicht sollte ich das unmodifizierte Intro mal lesen? ;)

13/12/06 13:24

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@Minusgradopa: Fatal, ja.

13/12/06 13:25

 
Anonymous Anonym meint...

Schade. Der erste Absatz hat verloren. Gerade das Nachsteigen verstörte.

Aber ich habe eine ganz konkrete Assoziation zu einem Suizid hier im Hamburger Volkspark bei minus 16.

13/12/06 17:13

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Völlig verlustfrei sind Textänderungen ja nie. Vielleicht hätte ich's so lassen sollen, vielleicht nicht. Keine Ahnung. Ich werde es mir morgen nochmal in Ruhe ansehen und dann schauen, ob ich nochmal schraube, falls es mir so auch wieder nicht gefällt. Der digitale Text als wandelbares Chamäleon. :)

13/12/06 17:18

 
Anonymous Anonym meint...

Ja, Basis dieser ganzen Versionen ist ein tatsächlich ein bekanntes Märchen. Der Ursprungssong von der span. Formation 'Mecano', aus 1988. Jene Version mit der zerbrechlichen Porzellanstimme, die mir defin. am besten gefällt. Loona hat es in 2000 gecovert.

Eine Zigeunerin beschwor vor Urzeiten den Mond (im span. weiblich, la luna), ihr einen dunkelhäutigen Andalusier zum Mann zu gebebn. Frau Mond versprach es ihr, allerdings um den Preis des erstgeborene Kindes aus dieser Beziehung. Das Kind des dunkelhäutigen Andalusiers kam aber mit hermelinweißer Haut und grauen statt olivfarbenen Augen zur Welt, als Albino also. Ganz eindeutig: Ein Sohn des Mondes. Der Ehemann fühlte sich betrogen, bedrohte seine Frau mit dem Messer und verletzte sie schließlich tödlich. Das Kind aber setzte er aus.

"Und wenn in den Nächten der Vollmond scheint, wird es sein, weil es dem Kind gut geht.
Und wenn das Kind weint, wird der abnehmende Mond zur Sichel, um ihm eine Wiege zu sein."

Das Lied berührt mich immer noch jedes Mal, wenn es über die Jahre hinweg durch den Äther kommt.

14/12/06 00:05

 
Anonymous Anonym meint...

Schööön. :)

14/12/06 01:17

 
Anonymous Anonym meint...

Ja, gell, seufz..?

14/12/06 13:56

 
Anonymous Anonym meint...

vielleicht rutscht ja mal eine sicherheitskopie versehentlich in deinen briefkasten. aber die zeit zum sicherheitskopieren... woher?

14/12/06 19:40

 

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