Dienstag, Januar 24, 2006

Der leise Zauber über dem Sommer unweit vom Nordstrand

Gemütlich lässt die Sonne ihre Strahlen durch den warmen Staub in der Luft auf den Helmholtzplatz gleiten. Wir betreten ein typisches Haus am Prenzlauer Berg. Die Eingangstür zum karg getünchten Hausflur ist mit Graffitis verschmiert, deren Gehalt wohl sogar die Sprüher selbst inzwischen wieder vergessen haben. Reinkommen und gleich rechts, da wohnen Kathrin und ihr liebenswerter Teenie-Sohn Max. Ab und zu malt sie gern. Die Häuser, die sie malt, sehen aus wie die Häuser, die sie malt. Zumindest fast. Dann kann man später vergleichen, wie anders sie ausgesehen haben, falls die Häuser irgendwann mal anders aussehen. Vielleicht könnte man sie auch verkaufen, aber bislang interessiert sich dafür niemand. Solange lehnen sie vorerst am zuckerkulörfarbenen Kohleofen. Auch, wenn Kathrin das Geld gut gebrauchen könnte.

Das kleine Paradies hoch über der Straße

Denn Max sehnt sich, endlich Jogging-Schuhe mit eingebauter Klima-Anlage, Stoßfederung und anderem Schnickschnack zu haben, mit denen er bei seinen Freunden und vor allem bei seiner sportlichen, heimlichen Liebe mithalten kann. Doch Arbeit hat Kathrin momentan keine. Und mit fast vierzig, nein! neununddreißigeinhalb, ist es für eine gelernte Schauwerbegestalterin gar nicht so leicht, einen neuen Job zu finden. Vor allem, wenn man schüchtern ist. Sie müht sich, besucht Assessment-Center-Kurse, der Erfolg versteckt sich aber weiter irgendwo in den Büschen der Nachbarschaft, an die Kapuzenträger heimlich pinkeln, wenn keiner hinguckt. Zeit hat sie vorerst genug. Doch so richtig klappt höchst wenig. Schlüpfer liegen trotzdem quer verstreut, eingekauft werden könnte mal wieder, außer Schoko-Flakes, Milch, Wein und Wodka ist fast nix im Haus. Wein und Wodka wandern bis spät in die Nacht mit nach oben ins Dachgeschoss. Dort hat Kathrins beste Freundin Nike ihr pastellgestrichenes Reich und einen kleinen Betonbalkon, auf dem sich trefflich die ganze laue Sommernacht durch quatschen, lachen, trinken und träumen lässt. Von herrlichen Berufen, dem faustgenau passenden Traummann, etwas mehr Leichtigkeit im Alltag. Mit geweiteten Blutbahnen und beschwingt-benebeltem Bewusstsein lassen sich darüber hinaus auch treffliche Telefonstreiche beim Ex-Mann oder dem Apotheker gegenüber aushecken.

Der Taumel durchs Leben

Mit zuviel Schnaps in der Blutbahn und heiser gelacht strumpelt Kathrin oft erst im Morgengrauen zurück in ihre verschluderte Butze. Oft mit so großem Gerumpel, dass Max verstört aus dem Schlaf schreckt. Am nächsten Tag sind die Flaschen so leer wie der Kopf dick. Träge schält sich Kathrin erst gegen Mittag aus den Laken, während die kecke Nike in ihren aufreizend schrillen und knatschengen Klamotten schon morgens ihre tägliche Tour beginnt, um ihrem Job nachzugehen, pflegebedürftige alte Menschen zu betreuen. Denn im Kopf des schrumpelfaltigen Kauzes Oskar herrscht mal wieder Achterbahn. Gerade eben war seine tote Frau zu Besuch, die Kaffeedose ist auf eigene Faust in den Kachelofen gekrabbelt und das Klo spült sich auf wundersame Weise immer noch nicht von selbst. Der greise Herr Neumann liegt unbeweglich mit seinem verhutzelten Alm-Öhi-Bart im Bett und wundert sich: Er muss doch in die Schule. Und die schelmische Helene ärgert sich wieder mit ihrer kuhblöden Tochter herum, die ihr das tägliche Akkordeonspiel und vor allem die heiß geliebten Groschenromanvorlesungen verbieten will. Kurz darauf wird Kathrin fast auf der Straße von einem Teppich-Laster übergebügelt, kommt mit dem Schrecken davon, aber plötzlich nimmt das Leben aller Beteiligten erstaunliche Wendungen...

Es scheint, wie es ist

Ein faszinierend brüchiges Idyll zeichnet Andreas Dresen mit feinem Strich in seinem Film "Sommer vorm Balkon". Völlig ungeschminkt und mit liebevollem Blick für Details zeichnet er seine Figuren und begleitet sie mit warmherzigem Blick bei ihrem Stolpern durchs Leben - beim Straucheln und Scheitern, bei den zarten Glücksmomenten und bei den Stunden kurz vor dem Abgrund, bei ihrem sehnsuchtsvollen Schwelgen, bei den kleinen Sensationen und Katastrophen, beim luftigen Aufsteigen und herben Zerplatzen verträumter Seifenblasen. Trunksucht und Tod, Liebe und Leben, Sex und Frust, Kind und Kneipe. Die kodderschnäuzigen und oft verschmitzten Dialoge sind herrlich erfrischend und nirgends gestellt.

Mittendrin statt nur dabei

Auf wundersame Weise schafft Dresen, Sponaneität zu inszenieren und die punktgenaue Gratwanderung zwischen ungestelltem, Herz erfrischendem Witz und zerknirschender Melancholie. Nirgends kitschig, nirgends platt. Hier gibt es Aldi-Marmelade und Lidl-Cola zum Frühstück, das mit liebevoller Hingabe auf dem Billiggeschirr serviert wird, die Unterwäsche hängt noch windschief überm Stuhl. Alles wirkt stimmig in seiner Brüchigkeit, die das Leben ist - nichts gestellt. Es ist, als würde man einen direkten Blick in ein fremdes Leben geschenkt bekommen. Als wäre man der Dritte im Bunde, der inmitten sternüberfunkelter Sommernächte hinter den struppigen Blumen mit Nike und Kathrin auf dem Balkon albert, als säße man mit ihnen beim Feierabendbier am Tresen der Kneipe um die Ecke, mitten dabei in den lauten und leisen, lustigen und traurigen Momenten. Getragen wird der Film vom völlig unprätentiösen und echten Spiel der Darsteller, die ihren kauzigen und vielschichtigen Figuren Leben einhauchen, einfühlsam und verschmitzt mit ihren Rollen verschmelzen. Hinzu kommen die stimmungsvollen Bilder, die der Kamermann eingefangen hat.

Die Stadt in der Stadt und ihr Film

Ein wenig ist "Sommer vorm Balkon" für den Prenzlauer Berg das, was "Die fabelhafte Welt der Amélie" für Montmartre war: Eine atmosphärisch dichte Liebeserklärung an einen Stadtteil mit seinen Menschen und seinem Flair. Doch ist "Sommer vorm Balkon" weniger verspielt und märchenhaft, klammert die Brüche und Schieflagen in Leben und Stadt nicht aus und bezieht gerade daraus seine eigentümliche, einfangende, zarte Poesie. Für mich ist "Sommer vorm Balkon" fast ein kleines Kinowunder und der vielleicht schönste deutsche Film der letzten Jahre.

17 Wortmeldung(en):

Anonymous Anonym meint...

"Oft mit so großem Gerumpel, dass ihr niedlicher Teenie Am nächsten Tag sind die Flaschen so leer wie der Kopf dick."
Fehlt da was?

24/1/06 17:54

 
Anonymous Anonym meint...

Bin wohl mal wieder die Einzige, die den Film bekloppt findet?

24/1/06 18:05

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@dolce vita: Ich fürchte, ja. Hab im Textumbau ein wenig den Überblick verloren. Inzwischen rausgeschrubbt. :)

24/1/06 20:01

 
Anonymous Anonym meint...

Also, nach Oles Beschreibung wär das was für mich. Mal schaun, wie der so ist. War einer in "Der König von Narnia"? Soll gut sein, obwohl das ja eigentlich eine Kinderbuchverfilmung ist.

24/1/06 20:44

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Über "Narnia" habe ich nur äußerst mäßige und enttäuschte Kritiken gelesen. Das hat mich nicht zum Selbstsehen gereizt und nicht zum Kinogang gereicht.

24/1/06 21:05

 
Anonymous Anonym meint...

Das nenn ich Überzeugungsarbeit, min Jong. Aber so schön es am Helmy sein mag, der Nordstrand ist das nicht. Denn der liegt ein paar hundert Meter weiter in Richtung Mitte.

24/1/06 21:23

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Da ich dachte, dass Du... naja, ich hab's Dir ja erklärt... schlussfolgerte ich... na, Du weißt schon.

24/1/06 21:25

 
Anonymous Anonym meint...

Wo ich grade dabei war, das Kunstwerk von einem Header zu bewundern, warf ich außerdem einen Blick in dein Profil; sag doch bitte mal, ob "The man who wasn't there" "Der 3. Mann" auf Deutsch ist. Kommt der ("Der 3. Mann") nicht aus Wien? (Zumindest ist er da gedreht worden.)
Wie toll, dass du "Ritter der Kokosnuss" kennst.

24/1/06 23:30

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

"The man who wasn't there" heißt auch auf deutsch so und ist ein schwarzweißes Glanzstück der Coen-Brothers (Big Lebowski, O Brother where art thou, Fargo, Blood Simple...). Mit dem dritten Mann hat's vergleichsweise gar nix zu tun. Mit Monty Python auch nicht, die liebe ich aber ebenfalls heiß und innig.

24/1/06 23:37

 
Blogger kein einzelfall meint...

Als Ehernichtfilmguckerin kann ich keinen qualifizierten Kommentar liefern, höchstens zum Thema Filmriss: Einen solchen scheint es in Absurdistans Profil zu geben - das Blog heißt da "nbsp;". Könnte freilich auch künstlerisch gewollt sein, das Freizeichen. :)

25/1/06 10:03

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Der Filmriss war notwendig. Wäre an die Stelle des Blognamens kein " "-Leerzeichen getreten, hätten große, fette Maschinenschriftbuchstaben sich unter das neue Titelbild gelegt. Und dagegen war ich spontan. " " ist zwar ein doofer Name, aber ein notwendiges Übel. Sonst ändert sich hier ja nix. :)

25/1/06 10:13

 
Anonymous Anonym meint...

Du könntest ja trotzdem was zwischen die Leerzeichen setzen und Deiner Schrift das attribut font size="0" verpassen, dann wüsste ich wieder wer das Leerzeichen in meinem Sage ist ...

25/1/06 10:47

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Das wäre eine Idee, deren Praxis in Kürze mal getestet wird. Danke für den Tipp. :)

25/1/06 10:51

 
Blogger undundund meint...

film is juti. punkt.

25/1/06 12:45

 
Blogger kerstin13 meint...

oh ja, gestern abend habe ich mich auch verzaubern lassen. ich kann es nicht so schön wie du in worte fassen und so richtig begründen kann ich es auch nicht, warum mich der film so beschwingt hat. den ganzen nachhauseweg habe ich jedenfalls marianne rosenberg gesummt und ferngesehen habe ich auch nicht mehr "können".:)

25/1/06 17:12

 
Anonymous Anonym meint...

Ole, Mann! Ich habe das Filmplakat nur flüchtig gestreift und erst im dritten Absatz gemerkt, daß das eine Filmbesprechung ist. Besonders freut mich natürlich, daß undundund das genau so sieht wie du. Ich denk mal, da wird Opa mal drei Tage nicht rauchen (Husten) und sich dafür mit dem Film belohnen. Muß sein,

25/1/06 17:19

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Viel Spaß, Opa. Und wenn Du dann auch noch einer Meinung mit und³ und mir bist, sind wir sogar schon vier (Kerstin mit eingerechnet). :)

25/1/06 18:20

 

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