Omas altes Brotmesser
Die altersmüden Eisenfedern seines Ohrensessels quietschten, als Gregor sich hineinfallen ließ. „Wenn man so was nur schmieren könnte“, grummelte er. Dann breitete sich wieder die vorherige Stille aus. Schlaff und träge hing Gregor in den Polstern und starrte aus dem Fenster hinab. Minutenlang. Unten: die dunkle Ereignislosigkeit der Straße unterhalb seiner Wohnung. Straßenlaternen langweilten die regenfeuchten Pflastersteinen mit ihren kalten Lichtkegeln, dicht an dicht geparkt schlummerten abgestellte Kleinwagen am Fahrbahnrand. Kein Hauch, kein Laut.
Auch er selbst verharrte reglos, halb von einem Dämmertraum umfangen, unentschlossen. Keiner seiner Freunde hatte heute abend Zeit, geschweige denn Lust, etwas zu unternehmen - obwohl er endlich einmal früher Feierabend bekommen hatte. Wobei: er hatte es noch nicht bei Jörg versucht. Sich auf ein, zwei Guinness im „St. Patrick’s“ um die Ecke treffen, das wäre schon ne feine Sache. Gregor liebte das dunkle Gebräu mit seiner moorbrackigen Konsistenz. Seine Finger huschten über die Telefontastatur. Geduldig wartete Gregor ein ums andere Freizeichen ab. Dann endlich.
"Hallo? Oh hi, Stephan! Ist Jörg auch da? ... Bei wem ist der? ... Bei Janine? Janine, Janine... Wer zum Henker ist denn nochmal... achja... ach die... und mit der ist er, ich meine... die sind jetzt wirklich?... Ja, Mist, ich wollte ihn nur fragen, ob er... naja, ist auch egal... nee, war nichts Dringendes... gut, richte ihm nen lieben Gruß aus."
Die prickelnde Leidenschaft, die Jörg für sie empfand, verstand Gregor nicht. Allein wie beide zueinander gefunden hatten – ausgerechnet auf einer Vernissage für zeitgenössische Kunst. Kurzzeitig raschelte ein Lächeln in Gregors Mundwinken. Janine interessierte sich nicht für Kunst. Aber sie ging gern zu Ausstellungseröffnungen, weil es kostenlos Sekt zu trinken gab - ihr Lieblingsgetränk, das sie nicht zuletzt so liebte, weil es beim Trinken „so lustig in der Nase prickelt“. Auch dieses Mal hatte sie sich in die Galerie geschlichen und sich sofort in Richtung der schlanken Gläser orientiert, bei denen sie sich reichlich bediente, während der Galerist den Kunstinteressierten die Exponate näher brachte. Fluxus. Klang wie Luxus, fand Janine. Und Luxus war genau ihr Ding.
Was Janine nicht gut konnte, war Maß halten. Und so hatte sie binnen kürzester Zeit fast anderthalb Flaschen perlenden Schaumweins in ihr Glas und hinter ihre Binde gegossen, war mit ihren hochhackigen Stöckelschuhen, auf denen sie sich nur sehr ungelenk bewegte, sturzbetrunken wie sie war, gestolpert und in das kalte Büffet gestürzt. Direkt zwischen roter Grütze und der Matjesplatte. Es hatte ein markerschütterndes Geschepper gegeben, und ehe sie sich versah, hing Janine auf dem Fußboden, verkeilt in den Tapetentisch, auf den das Büffet drapiert war.
Aus ihren wallenden, dauergewellten Locken troff rote Grütze; auf ihrem knappen und tief ausgeschnittenen Kleid klebten gleichmäßig Remoulade, Garnelen und Ziergemüse. Aus ihrem Decolleté ragte der Schwanz einer Makrele. Vom eigenen Missgeschick berührt und vom Alkohol benebelt, begann Janine hysterisch zu lachen. Eher noch kreischte sie.
Die hochwohlgeborenen Besucher der Vernissage erstarrten entsetzt, warfen ihr vorwurfsvolle und verständnislose Blicke zu, rümpften pikiert ihre Nasen, wandten sich vom Geschehen ab und tuschelten mit erregten Gesichtern. Der Einzige, den das Ganze amüsiert hatte, war Jörg. Eigentlich auf dem Weg zur Post, war er nur zufällig an der Galerie vorbeigeschlurft. Spontan hatte er beim Blick durch die Schaufenster seine Pläne umgeworfen, und sich entschieden, als Kunstinteressierter doch zunächst einen Blick in die neu eröffnete Ausstellung zu werfen.
Er hatte ein kleines Päckchen unter dem Arm. Darin steckte ein altes Brotmesser, das er von seiner Großmutter geerbt hatte. Es besaß einen konkaven Silbergriff und fein ziseliert eingravierte Abbildungen alter englischer Rosen. Selten, wertvoll, antiquiert. Jörg hatte es von Beginn an nicht gemocht. Es hatte Jahre lang nur herum gelegen in seiner Wohnung. Unbenutzt. Und so hatte er es kurzerhand über das Internet versteigert.
Jörg beugte sich über die immer noch hilflos zwischen den herabgefallenen Schüsseln und Tellern im Tapeziertisch eingeklemmte, schallend lachende Janine und half ihr wieder auf die Beine. Plötzlich riss er kurzentschlossen sein Päckchen wieder auf. Er verwarf spontan die Idee, das Päckchen mit dem Messer jetzt gleich zur Post zu bringen, nahm es vielmehr hinaus, begann, damit ein paar Garnelen von Janines Kleid zu schaben und schob ihr danach die Messerspitze mit den feinen Meeresfrüchten in den halboffenen, verdutzten Mund. „Lass uns die Köstlichkeiten auf Deinem Kleid und dann einander vernaschen“, hatte er ihr ins Ohr geflüstert. Seine Worte verhallten nicht ungehört, er nahm sie an der Hand und beide verließen unter den entrüsteten Blicken der anderen Besucher, Janine immer noch unsicheren Schrittes, die Galerie. „Ich bin eine Makrele!“, hatte sie beim Hinausstolpern den Verbliebenen hinterhergegrölt. Blieb unverstanden. Sie torkelte, sie kicherte, sie schmiegte sich in seine Arme.
Fortsetzung folgt...
17 Wortmeldung(en):
Durch Burnsters großartigen Verschwörungsmehrteiler angeregt, ist aus den Untiefen meines Gedächtnisses mein altes Kurzgeschichten-Projekt "Omas altes Brotmesser" wieder hochgespült worden. Ziel war und ist es, verschiedenste Schreiberlinge zu motivieren, Kurzgeschichten zu schreiben, deren einziger Zusammenhang darin bestehen soll, dass an irgendeinem Punkt "Omas altes Brotmesser" vorkommt. Egal wie oft, egal wie wichtig - ob als zentrales Moment der Handlung oder einfach nur in einen Nebensatz der Geschichtenperipherie gequetscht. Das Projekt hatte ein kleines, kurzes Hoch und schlief alsbald wieder ein. Und so erscheint hier zumindest spontan - mit anderthalb Jahren Verspätung - der erste Teil der bislang einzig fertigen Projektgeschichte von mir - als Mehrteiler.
19/1/06 17:02
hm hm hm...also ich sehe beim besten Willen nicht wie Matjes und Rote Grütze zu Sekt passen....
Gut, Kaviareier hätten nicht so gut wie der Matjesschwanz in den Ausschnitt gepasst *g* aber wieso Rote Grütze *grübel grübel*
19/1/06 17:28
faszinierend. ganz ehrlich. find ich toll.
19/1/06 22:10
Da bin ich mal auf die Fortsetzung gespannt.
Diese Janine, die mag ich, wegen dem Makrelen-Sager.
19/1/06 23:17
Jawoll, da haben wir es wieder. Jetzt sitze ich hier inmitten der Geschichte fest und muss warten, wie es weiter geht. Spannender Anfang und Hintergrund, ich hoffe, die Fortsetzung lässt nicht zu lange auf sich warten.
19/1/06 23:30
menschensen, ole. dit is ja. also wirklich. und die makrelen-dekolleté-szene ... ;)
vier von drei movie-sternchen!
20/1/06 00:08
Du bist Brotmesser. Ich bin Mitesser. Äh, Mitleser, äh besoffen. Is ja auch schon spät. Aber nie zu spät für ein raschelndes Lächeln, das sagen will: du kannst was, Kollege!
20/1/06 02:23
ziergemüse.
prust!
20/1/06 08:48
schoen!
das keiner der umstehenden naseruempfer die live-performance von j&j verstanden hat, versteh ich nicht.
20/1/06 10:09
"und Luxus war genau ihr Ding"
Ach Ole, wenn bei Dir ein kurzer Text steht, bin ich immer enttäuscht. In der Länge tobst Du Dich so richtig schön aus. Toll, mehr davon!
20/1/06 10:24
Spannend! In echt!
20/1/06 11:36
Juchu - endlich hat das schon seit etlicher Zeit (länger als die angesprochenen anderthalb Jahre - auf jeden Fall!) geplante Konzept einen Anfang gefunden! Wobei - Asche auf mein Haupt, gehörte ich doch zu den Gefragten und hab bisher doch nichts gemacht... Vielleicht, vielleicht, vielleicht kann ich mich ja doch noch mal daran setzen, wenn ich mit meinen derzeitigen Projekten fertig bin.
20/1/06 11:56
Wunderbar erzählt ! Ich warte auf die Fortsetzung...
Eine Vernissage mit moderner Kunst aufmischen, das erinnert mich an das Franz Ferdinand Video "Do you want to".
20/1/06 11:58
ich bin auch eine makrele! eine deutsche makrele! aber ich mag nichts trinken, was gelb ist!!!
20/1/06 12:16
Ich möchte die Fortsetzung! Sofort!
20/1/06 13:46
@galen: Was bei Deinem scheinbaren derzeitigen Projektwahn ja noch dauern kann. :)
Wie gesagt: Die Geschichte ist ja schon anderthalb Jahre alt (und minimal aufpoliert), einige weitere Projektsskizzen liegen noch unvollendet auf dem Berg vorläufiger Ideen. Danke allseits auch, baldigst geht's weiter.
20/1/06 14:45
Und nochmals an alle: Die Projekt-Idee besteht noch. Wer Lust hat, sich daran zu beteiligen (vielleicht würde das Prjekt ja sogar publikationsreif), einfach Bescheid sagen! Die Bedingungen stehen ja oben im ersten Kommentar. Egal welches Thema, egal ob humorvoll oder traurig, ob bissig oder handzahm, Geschichten aller Couleur sollen durch den einen und einzigen Faden, "Omas altes Brotmesser" zusammengehalten werden, um dann zu gucken, welch völlig unterschiedliche Geschichten aus dieser einen Maßgabe entstehen können.:)
20/1/06 14:49
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