Montag, Juli 03, 2006

Was kennt Jubel?

Nur noch das Notstromaggregat des Nervensystems tuckerte, dies aber mit rasender Betriebsamkeit. Das Hauptnetz war zuvor wegen Überhitzung durchgeschmort, unzählige Leitungen zerrissen oder auf Grund von Kurzschlüssen wegen mördervoltischer Hochspannung abgeraucht. Am Ende des herzinfarktträchtigen Viertelfinals gegen Argentinien barst die glühend heiße Begeisterung und ungläubige Freude wie kochend spritzende Lava aus zerklüfteten Vulkanen. Ein dumpfer, taubtrüber, ja, beinahe benommener Glücksrausch, noch halb unter Schock. Heisere Schreihälse benetzten noch kurz ihre freudetrunkenen Kehlen mit lauwarmem Pils, tanzten, schwangen ihre Fahnen und grölten „Ihr seid nur ein Rindfleischlieferant, Rindfleischlieferant, Rindfleischlieferant!“ und unermüdlich die Endlosschleife „Ooleeee, Super Deutschland, Ooleee, Ooleee!“ Wildfremde Menschen fielen sich um den Hals, Freudentränen und der Schweiß der Ekstase ließen die selbstgeschminkten Flaggen in hunderten Gesichtern in joviales Matschbraun zerlaufen. Und was war es für ein Spiel.

Der Anpfiff wirkte zunächst ein „Halali“ zur Treibjagd. Ein druckvolles, wuseliges Hickhack. Ein vielbeiniges Gegrätsche, Geschubse, mehr Spielunterbrechungen als Spielzüge. Die Argentinier kämpften mit offenem Visier, von irrwitziger Leidenschaft befeuert. Ständig einen Schritt schneller, mit unbändiger Energie umsausten sie die noch leicht verschlafenen Jungs von Klinsi, spielten sich selbst schwindelig, knatterten am Ende aber doch nur gegen die deutsche Abwehrwand. Vor allem Arne Friedrich, der noch zu Beginn des Turniers auf fast verblüffende Weise bewies, dass der Ball ihm die Freundschaft gekündigt hatte und er selbst ohne die Pille nicht mehr ganz so genau wusste, was man am Besten auf dem Platz anstellt, er schwang die Spachtelmasse und dichtete die rechte Abwehrseite komplett ab. Auch der Rest verteidigte mit Feuereifer und ließ die Wucht des argentinischen Passgewusels weitgehend verpuffen. Und doch. Gerade im Mittelfeld trabten die Jungs, vor allem Ballack, hinter den wieselflinken Gauchos hinterher, setzten selten energisch nach, ließen sich von der Gegenseite zeigen, was sie selbst eigentlich hätten tun wollen: Den Gegner schon bei der Ballannahme stören, ihm auf die Füße treten, ihn entnerven und zu Fehlern zwingen. Die Flügel lahmten vorn. Die zwei besten Chancen waren trotzdem auf unserer Seite. Ballack wuchtete einem Kopfball nach flauschigweicher Flanke von Schneider hauchknapp am rechten Torwinkel vorbei und Mertesacker einen Drehschuss in die Maschen über und hinter dem Tor.

Die Hoffnung auf Besserung in der zweiten Halbzeit erstarb nur wenige Minuten nach Wiederanpfiff. Der winzige Verteidigerfloh Ayala hüpfte aus dem Windschatten von seinem Bewacher Klose und wuchtete die Kugel ins rechte Eck. Schock! Sämtliches Blut wich aus den Gesichtern und gerann zu zähflüssigem Entsetzen. Grausame dreißig Minuten musste man ein ums andere Mal fürchten, dass die überlegenen Argentinier gar noch die vielbesprochene Schnittstelle der Viererkette knackten und ein zweites Mal einnetzen. Der schmissige Elan, gerade nach den erstaunlichen argentinischen Auswechslungen, war bei Argentinien flöten gegangen, Klinsis Kerle kämpften mit wachsendem Feuereifer, doch so recht gelang noch nichts außer dass Klose in Abbondanzieri, den als Elfmeterkiller gefürchteten Keeper der Gauchos hineinrumpelte und ihn am Ende unabsichtlich aus dem Turnier kegelte. Und wie fluchten sie um mich herum, als Klinsi tatsächlich wagte, Strubbelsträhnenbernd Schneider, den passgenialen aber diesmal etwas phlegmatischen weißen Brasilianer gegen den ungestümen Grünschnabel Odonkor auszutauschen. Und doch. Der wirbelte über die Flügel und umschlenkerte selbst die Weltklasseverteidiger der argentinischen Deckung, dass ihnen nur die Schweißperlen der Verblüffung auf der Stirn glitzerten. Und plötzlich dann Ballacks Flanke, die in den Strafraum segelte, von Borowskis Mittelscheitel weitertitschte und von der Stirn des tieffliegenden Klose in den Winkel klatschte. Fast ungläubig, blind vor Begeisterung, aufgeputscht, irre, peitschte ein Jubelgebrüll los. Die fast schon Ausgeknockten waren zurück. Die Nervenbahnen ächzten unter Hochdruckspannung, Feuchtigkeitscreme war für die Handinnenflächen wahrlich nicht mehr nötig. Quälende Minuten mit wachsender Zuversicht, aber ständig in Gefahr, durch einen Geistesblitz der ‚Seleccion’ doch noch das Rumpsteakmesser in die Brust gesetzt zu bekommen. Und dann Elfmeterschießen. Manche schlossen sich sogar auf dem Klo ein und hielten sich die Ohren zu. Die Spannung. Kaum noch zum Aushalten. Doch hier passierte es: Der kantige Titanenschatten, Jens Lehmann ist ihm enthechtet. Und selbst der Olli, dem doch der Titanenschatten gehört, umarmte den Jens, lächelte und sprach ihm Mut zu. Mit zerknittertem Spickzettel im Stutzen schmiss der Jens sich den Elfmetern entgegen und ließ Ayalas Hoffnung ebenso zerbröseln, ihn mit einem schlapp geschobenen Kullerball narren zu können, wie er Cambiassos knackigen Schuss nicht an sich vorbeifliegen lassen wollte. „A Woahnsinn!“ Die Argentinier fanden diese Art des Spielendes vergleichsweise verzichtbar und sorgten mit ein paar munteren Kampfsporteinlagen für heißgekochte Rudel. Doch das interessierte keinen großen Geist mehr, Münster ertrank in Landesfahnen und lautem Jubelgesang, der selbst einen startenten Düsenjäger noch in Verlegenheit hätte bringen können. Und das Münsterland trank Bier.Viel Bier, sodass ein einzelner Student, der in der Nacht nach dem Spiel noch mit Medikamenten an Bord durch Dörfer und Kleinstädte kurvte, in schwer einsichtigen Kurven beinahe ein paar Voll- und Freudentrunkene vor die Stoßstange getorkelt wären. Doch nur beinahe. Beidseitiges Geschick half, dass am Ende nur die Freude überwog.

16 Wortmeldung(en):

Blogger F meint...

Viva Italia!

3/7/06 13:33

 
Blogger Galen meint...

Da schließ ich mich an, war ohnehin meine erste Prognose, damals im Dezember...

Italia, Italia...

3/7/06 14:43

 
Blogger viktorhaase meint...

auf einmal erscheint mir das spiel besser als es war. vor allem dramatischer.

3/7/06 14:44

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@kleines f und galen: Ich hab ja nichts gegen Italien an sich, aber in Anbetracht der pomadigen Leistung v.a. gegen die USA und Australien und dem auch vergleichsweise unmotivierten Sieg gegen die Ukraine wünsche ich mir schon, dass die engagiertere und spielfreudigere Mannschaft weiterkommt. Und das im Verlauf dieses Turniers in meinen Augen doch eher nicht Italien.

3/7/06 14:53

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@viktor: Manchmal wird's auch erst spannend, wenn schon alles vorbei ist. :)

3/7/06 14:54

 
Blogger dieLinda meint...

@ kleines f:
weiter so und sie leben gefährlich!^^
@ allgemein:
haach, sogar ich als frau bin fußballbegeistert mit blumenkette und deutschlandshirt durchs bar-celona getanzt, u das will schon was heißen^^ morgen gehts nach dortmund, den spielern persönlich die daumen drücken :)

3/7/06 20:52

 
Anonymous Anonym meint...

Habe Verlängerung und Elfmeterschießen auf dem Weg zur Bushaltestelle resp. im Bus und dann in der U-Bahn verbracht und habe mich dort ob der beängstigenden Leere gefühlt wie die einzige Überlebende nach dem Atomkrieg. Danke für die Zusammenfassung!

3/7/06 21:52

 
Anonymous Anonym meint...

wieder eine glatte eins für die spielberichterstattung.

mal ehrlich: ich finde ballack blöd. ich weiss nicht, warum die kommentatoren den immer so toll finden.

3/7/06 22:27

 
Anonymous Anonym meint...

Na, die zwei nächtelangen Hup- und Grölkonzerte halte ich jetzt auch noch aus.

Allerdings wünsche ich mir Fado als Trostgesang für das Finale. Die Azzuri können meinetwegen mit der gesamtafikanischen Auswahl um den dritten Platz ein wenig foul herumschlägern.

3/7/06 22:28

 
Anonymous Anonym meint...

Du schreibst so klasse, dass ich das Spiel grad nochmal erlebt hab :-))

3/7/06 23:12

 
Anonymous Anonym meint...

sie erinnern sich, bester mister olé, wie vor einiger zeit ich bedauerte ihre seite nicht geniessen zu können, da sie typografisch etwas heikel war, weil negativ. nun, bedauere ich zunächst, dass das tolle psychogram verschwunden ist. ein bild, welches ich stundenlang anstarren konnte und angestarrt hatte, kleinigkeiten immer wieder entdeckte, geschichen ausdachte. naja, wie die unauschöpflichen bilder des h. bosch. und nu?

ein requiem auf die psychogram.

4/7/06 00:26

 
Blogger undundund meint...

@bsc: meine rede. finde auch nicht, dass er irjenswie was wirklich herausragendes auf dem platz bringt, der ballack. und was gar nicht geht: dieses herumgesuse, wenn er mal vom gegenspieler berührt worden ist.

4/7/06 12:36

 
Blogger Mephistascripts meint...

Alte Scheiße...die erste Spielkommentation, bei der ich ein zweites Mal in ekstatische Tränen wahrer Volksfreude ausbrechen durfte. Vielen Dank dafür und jetzt schnell ne Zigarette....

4/7/06 13:09

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@mephistascripts: Lass es Dir schmecken! :)

4/7/06 16:29

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@k.v.k.: Hochverehrtester, dies ist noch lange kein psychografisches Ende. Beizeiten kommt das Titelbild wieder, hat sich vorerst nur in den Sommerurlaub nach Irland verabschiedet, wo es Schafe betrachtet und sich vom Rampenlicht erholt. :)

4/7/06 16:44

 
Anonymous Anonym meint...

ah, nun kann ich wieder bunt träumen.
thank you and good night.
king v. k.

5/7/06 00:51

 

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