Mittwoch, Juni 06, 2007

Fietspad - Dus niet brommen (II)


Bonjour Tristesse. Und wie wichtig Wäscheaufhängen werden kann. Mit scharfem Blick und hellwachem Hirn.

Die bleigrauen, tief hängenden Wolkentürme verschieben sich zu immer schwereren und dunkleren Gebilden, schlagen leck und entladen sich in unermesslichen Regenmassen, die uns, vom Gegenwind in Schwung gebracht, unablässig ins Gesicht klatschen. Schnecken kriechen aus dem nassen Gras auf Wege und Straßen. Eine der ersten von ihnen wird versehentlich von meinem Vorderrad erwischt, zermatscht und halbiert. Schlecht für’s Karma. In spiegelflachen Serpentinen schlängelt sich der Weg durch die kleinen Overledinger Bauerndörfer, mit ihren saftigen Wiesen, verschlafenen Höfen, kleinen Tümpeln, reglosen Sieltiefs und idyllischen Häuschen. Kopfsteinpflaster ziert die innerdörflichen Wege, die die Örtchen hübscher und die Fahrt hubbeliger machen.

Inzwischen schon neun Schnecken umkurvt. Das Karma hellt sich auf, das Wetter nicht. Regen peitscht immer noch windbeschleunigt. Wir queren die Ems in Richtung Weener über die uralte Eisenbahnbrücke. Machtvoll demonstriert sie ihr Klappbrückendasein, reißt ihren Schlund auf, reckt ihren gigantischen Klapparm gen Himmel. Mitten über den sandgrauen Fluten müssen wir auf dem hauchengen Überweg vor einer kleinen Schranke bremsen, werden vorerst gestoppt; getragen von verwittertem Stahl und schmalen Holzbohlen, zwischen denen der Blick in die Tiefe rutscht. Über Wasser, unter Wasser, denn der Regen lässt sich auf keine Beschwichtigungen ein. Zwanzig Minuten verharren wir in der Enge des Raumes vor der geschlossenen Schranke. Ein Frachter nach dem nächsten schiebt sich durch die Fluten, und die Flut schwemmt so hoch, dass eine Unterfahrt bei geschlossener Fahrt unmöglich ist.

Mein Telefon klingelt plötzlich. Der Empfang ist schlecht, doch inmitten des Knarzens erkenne ich die Stimme meines Vaters. Er habe just Wäsche aufgehängt und im Keller eine Entdeckung gemacht, die uns interessieren könne. Wie wir denn zu nächtigen gedächten? Na, im Zelt. Flach auf dem Boden liegend? Ja, schon, nicht stehend, nicht sitzend, ohne Hochbett. Ob wir sicherheitshalber aber nicht doch noch Zeltstangen und Häringe mitnehmen wollten, damit es nicht ganz so flach werden muss? Potz Strahl! Haben wir denn etwa…?

Die habe er jedenfalls im Keller gefunden, in der Ecke, wo zuvor das Zelt gehangen hatte, unterhalb liegend. Etwas blass um die Nase wird mir bewusst, dass wir müdigkeitstrunken nicht mehr alle Unterpunkte „Zelt“ auf der Liste abgehakt haben und bewusstseinsschlaff tatsächlich das Zelt ohne Stangen eingerollt und auch nicht den Häringsbeutel im großen, wasserdichten Sack verstaut haben. Alle Gesichtsfarbe rutscht mir aus dem Gesicht, zerläuft auf der Regenjacke, mischt sich mit Regen und tropft in die Ems.

Dem Super-GAU nur knapp entronnen. Mein Vater macht sich auf den Weg, wir warten unruhig und aufgewühlt vor dem tiefen Wasserloch, von dem wir uns sehnlichst wünschen, es möge sich endlich wieder schließen, sodass wir Weener wenigstens vor meinem Vater erreichen. Es glückt. Die befürchtete Standpauke bleibt aus, zur Stärkung unserer nassgeregneten Leiber geht es gemeinsam in ein kleines chinesisches Restaurant. Dort erfahren, dass Buddha möglicherweise Raucher ist. Zumindest sind ihm neben Räucherkerzen auch Zigaretten geopfert worden. Ob er selbst sie geraucht hat oder seine Verehrer, lässt sich nicht ermitteln. Zumindest klebt kein Lippenstift an den Filtern. Von Dankbarkeit beseelt und wieder innerlich erwärmt, verabschieden wir uns ein zweites Mal voneinander. Er braust mit dem Land Rover heim, wir kurbeln uns unter finsteren Wolken hindurch gegen Wind und Wetter in Richtung holländischer Grenze. Zwölf weitere Schnecken umkurvt und leben gelassen. Karma klettert in den grünen Bereich, Himmel nicht.

In Bellingwolde wollen wir Kaffee trinken, uns stärken und M. hat sich von mir überreden lassen, nun doch trotz optischem Zähneknirschen die inzwischen triefnasse Jeans auszuziehen und stattdessen die lange, leichte und eng anlielegende Radhose aus Lycra anzuziehen, so deppert diese auch aussehen mag. Gute Kühlung mag bei schmerzendem Knie helfen, aber nasse Kälte, die in Poren und Glieder kriecht, die bei jeder Bewegung kalt klebt, knautscht und den Körper von innen auskühlt, nicht.

Die Kilometer schleichen dahin, vom Kampfgeist niedergerungen, jeder einzelne. Erst am Ende des kilometerlangen Dorfes finden wir ein kleines uriges Hotel, das nicht geschlossen ist. Warmer Tee und Karamellkekse werden zur größten Köstlichkeit seit Langem. „De Telegraaf“ liegt am Rand unseres runden Tisches. Ich durchblättere die Zeitung auf der Suche nach der Wettervorhersage, bleibe zunächst einmal aber beim Horoskop hängen. Für mein Sternzeichen empfiehlt es. „Sie sollten heute keine Reisen unternehmen.“ Die Warnung erreicht uns spät. Beim Aufsitzen für die Weiterfahrt fällt auf, dass M.s Lenker sich ein wenig gelockert hat. Meinem Werkzeug mangelt es leider ausgerechnet an dieser Inbusschlüsselgröße. Doch der Hôtelier ist höchst freundlich und leiht uns das Inbusschlüsselset des Hauses.

Am Ende des Ortes biegen wir auf einen schmalen Radweg quer durch die Felder. Mehr Schnecken als Spalten zwischen den Steinen haben sich hier auf die Fahrbahn geklebt. Umkurvte Schnecken: Siebenundvierzig. Überfahrene Schnecken: Keine weiteren. Diskussionswürdig bleibt, ob schwarze Schnecken mehr, weniger oder genau so viele Karmapunkte zählen wie braune. Und ob Schnecken mit Haus Bonus- oder Minuspunkte geben. Abseits des Karmagedankens freut jede umfahrene Schnecke schon allein, weil sie ein kleines Stück weiteren Vorankommens in Richtung Ziel bedeutet.

Ein wenig werden die Hände taub, von Kälte, Muskelspannung, Druck und Gewicht. Im nächsten Dorf finden wir zum Glück einen kleinen Fahrradladen. Der Besitzer lächelt schief, fast verschlagen und sieht aus wie Kurt Beckstein. Er hat noch zwei Paar Radhandschuhe in unserer Größe, die sogar optisch noch halbwegs passabel erscheinen. Die Preise lassen mich zusammen zucken, doch etwas atme ich auf, als er mir in breitestem Holländisch erklärt, dass es sich beim ausgewiesenen Betrag nicht um Euro sondern Gulden handelt. Sechs Jahre scheint das Handschuhpärchen in diesem ereignisarmen Laden zugebracht zu haben. Nun dürfen sie mit auf Reise, hinaus in Kälte, Regen, Wind.

Durch die unfreiwilligen Pausen, Tee-Erholung und die vergleichsweise gemächliche Reisegeschwindigkeit (auch, um M.s Knie zu schonen), zerrinnen die Stunden weit schneller als uns das Vorankommen glauben macht. Und so rücken die Abendstunden allmählich heran, was leichten Zeitdruck zeitigt, schließlich wollen wir ja noch vor Rezeptionsschluss das Ziel erreichen.

Labels:

30 Wortmeldung(en):

Anonymous Anonym meint...

ich merke, es war wohl doch nass von oben und windig von vorn. also ich muss zu meiner schande gestehen, dass ich zwar anfangs noch tief durchgeatmet, aber spätestens bei der häringgeschichte ausgerastet wäre. aber zum lesen isses natürlich köstlich.

6/6/07 21:14

 
Blogger Frau H. meint...

Also lieber Ole: es ist kein Wunder, dass Sie so profane Dinge wie Account Namen vergessen, wenn sich in Ihrem Kopf so viele bezaubernde Worte tummeln... Vor allem der Anfang: WUNDERBAR!

6/6/07 22:03

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@FrauH: Ich habe zuvor ja noch nie einen Accountnamen vergessen. Das ist Premiere. Aber auch das passiert irgendwann mal. :)

6/6/07 23:18

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Und: Freut mich.

6/6/07 23:18

 
Anonymous Anonym meint...

Arme Schnecke ...

7/6/07 10:28

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@rulla: Gerade im Nachhinein betrachtet sind solche Geschichten auch großartig. Währenddessen schonmal mindestens anstrengend. Aber der Urlaub hatte ja durchaus auch seine herrlichen, lustigen und wunderschönen Momente. Und auch das Wetter ist ja nicht nur so geblieben. :)

7/6/07 11:00

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@erdge schoss: Ein empathisches Schneckenverhältnis. Sympathisch. :)

7/6/07 11:00

 
Blogger mq meint...

Ich werde Distanzen bei Regen zukünftig nur noch in umkurvten Schnecken messen.

7/6/07 11:27

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@mq: Exakt das war auch meine Idee während der Tour. Das Problem ist nur, wenn man vom Regen in Bewusstseinsdämmer gelullt zwischendurch zu zählen vergisst. Aber vielleicht wäre die Entwicklung eines Schneckentachos, der sowohl das Schneckentempo als auch die umkurvte Distanz misst, ja eine Marktlücke. :)

7/6/07 12:08

 
Blogger mq meint...

Famose Idee! Sollten wir unbedingt in unseren Katalog der absurden Geschäftsmodelle aufnehmen :)

7/6/07 19:47

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Vielleicht sollten wir auch gleich global planen. Ich weiß zwar nicht, wie viele Schnecken es in England gibt. Aber vielleicht würde sich gerade in den regenreichen Tälern im Lake District und überhaupt auf der Insel ja ein "Snail Meter" ganz besonders rentieren. :)

7/6/07 19:49

 
Blogger kein einzelfall meint...

Das Schneckentempo verspricht ja noch viele (Erzähl-)Etappen. Dürfen wir darauf hoffen, dass irgendwann noch Vla serviert werden wird?

7/6/07 22:20

 
Anonymous Anonym meint...

Da wär man gern ein Paar Farradhandschuhe, ein Ladenhüter unbedingt.

7/6/07 22:24

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@kein einzelfall: Das Schneckentempo wird "langsam schneller werden", allmählich gerafft, um den Geschichten am Wegrand mehr Platz zu geben. Weitere (Erzähl-)Etappen wird es definitiv geben, und Vla wird es auch geben, den gab es bis auf den ersten Abend jedes Mal.

7/6/07 23:31

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@fusilli: Radhandschuhempathie, ein seltenes, sehr sympathisches Phänomen. :)

7/6/07 23:32

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Als Ladenhüter hat man natürlich ein ruhiges Leben. :)

7/6/07 23:33

 
Anonymous Anonym meint...

Du kennst mich, denke ich, als Pragmatiker.

Also habe ich gestern zum Einschlafen Schnecken gezählt anstatt Schäfchen. Es ist trotzdem kein feuchter Traum geworden. ;-)

Ist M. ne Deern?

(twixsxy)

8/6/07 07:33

 
Anonymous Anonym meint...

Erinnert mich ein wenig an den Film "City Slickers". Gemäßigtes Überlebenstraining. :)))

Ich wette, ich würde bei einer Schneckenwette gewinnen.

8/6/07 10:39

 
Anonymous Anonym meint...

(Das gerade war übrigens ich, Ilse, Nichtküstenkind. :)))

8/6/07 10:42

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@anonyme ilse: Von einem Cowboy-Abenteuer für landentwöhnte Städter hatte der Urlaub eigentlich nichts. Und im Weiteren wurde der Survival-Part ja auch zurückgeschraubt, quod erit demonstrandum. :)

8/6/07 12:33

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@opa: Was für Schnecken waren es denn? Nackte? Behauste? Schwarze? Braune? Ganz andere? :)

8/6/07 12:34

 
Anonymous Anonym meint...

Och, auch bei zurückgeschraubtem Überlebenskampf kann so ein Urlaub sehr abenteuerlich sein. Man ahnt ja gar nicht, mit welchen Widrigkeiten man konfrontiert werden kann. Ich sage nur: Obst, Zelt, Ameisen. Und so ein lädiertes Knie am Fahrrad ist ja gar nix gegen richtiges Popoweh. :)

(Sie haben übrigens Opas Frage nach der Deern nicht beanwortet *g*)

8/6/07 12:49

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Natürlich habe ich Opas Frage beantwortet. Die Replik war recht unspekatkulären Inhalts und impliziter als es das neugierige Auge vielleicht gern gehabt hätte. Popoweh ist hingegen durchaus auch zwischenzeitlich aufgetaucht, lässt sich aber durch richtiges Sitzen und ausgefeilte Fahrtechnik sowie Fahrradhosen mit Sitzpolster minimieren. :)

8/6/07 12:54

 
Anonymous Anonym meint...

Nach einigen Stunden und Kilometern unter schrecklichstem Popoweh, pflegt mein Steißbein angenehm taub zu werden und erst dann wieder aufzuwachen, wenn ich vom Fahrrad steige - es findet also eine Schmerzumkehrung statt. Ob das allerdings von Vorteil ist, kann ich nicht wirklich sagen. :)

Hm. Okay, Sie lassen dem geneigten Leser absichtlich ausreichend Spielraum, die Frage und deren (so gut wie nicht vorhandene) Beantwortung mit eigenem Gedankenmaterial zu füllen. Dann mache ich das mal. So. Pfffft. :)))

8/6/07 13:02

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Sehr gerne. Ich will dem Leser doch nicht mit rigiden Vorgaben jegliche eigene Vorstellungen abschnüren. Sehr gut möglich, dass ich mit Martin, Manuel, Michael, Mikos, Moritz oder Mark unterwegs war. Vielleicht auch mit Miriam, Meike, Mareike oder Mücke. Vielleicht auch mit jemand anderem, das einzige, was ich hier kundgebe ist: M. war nicht Mama. :)

8/6/07 13:09

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Und was die Antwort selbst betrifft, die Aussprache war sehr klar und deutlich, sie ist hier nur nicht lesbar. :)

8/6/07 13:10

 
Anonymous Anonym meint...

Also ich würde ja, wenn ich dürfte, mit Maurizio abenteuerurlauben. :)))

8/6/07 13:27

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Gaudino? :)

8/6/07 13:38

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Dürfen Sie denn? Ich meine... hat Maurizio die Erlaubnis bekommen bzw. erteilt? Kennen Sie überhaupt einen? :)

8/6/07 13:39

 
Anonymous Anonym meint...

Hehe. Ich kenne einen Maurizio ohne Gaudino. Eine Erlaubnis habe ich allerdings nicht. Er auch nicht. Zumindest nicht fürs Abenteuer. :)))

8/6/07 14:12

 

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