Mittwoch, März 29, 2006

Shabba, Schaukeln, schlimmer Schweiß

Schabba.
Bierglasige Augen blicken in den leeren Plastikbecher. Die dazugehörigen Augen pfeffern ihn über die linke Schulter. Der Hintermann tritt drauf. Es knackt. Der Becher birst. Kaputt. Schnapsdrosselige Schalala-Chöre dröhnen vielstimmig. Der Duft gebrannter Mandeln wird zersägt von Autoscooterhupen und geerdet von Erbrochenem, das neben der Pizzabude liegt. Es nieselt. Feuchte Fröhlichkeit liegt über dem "Oktoberfest Ostfrieslands", dem Leeraner Gallimarkt. Losbudenbesitzer, die seit Jahrzehnten dieselben Sprüche in variierter Reihenfolge leiern. Zuckerwattefäden, die sich in langen Locken verheddern. Korn, Bier, Schnaps und (Glüh)Wein. Heulende Karrussells, klappernde Blechdosen, die von kleinen Lederbällen nur halb getroffen werden. Vor Rührung glänzen feuchte Augen, nachdem er ihr eine Plastikblume geschossen hat. Pink. Im dritten Schuss.



Schabba.
Es mag 1992 sein. Womöglich in der sechsten Klasse, Orientierungsstufe. Man weiß es nicht mehr genau. Jahrelang habe ich mir eine Menge Coolness-Punkte durch die Lappen sickern lassen, indem ich nicht das Taschengeld der vorigen zwei Monate in Karussells auf den Kopf gehauen habe. Immer wieder zwirbelten sich die Augenbrauen schräg und kräuselten sich die Stirne in Falten, wenn ich erklärte, es sei nicht aus Angst sondern einfach nur Schutz für mich und alle Anderen. Weder ich noch andere hätten doch was davon, wenn ich sie vollkotzte. Mein Magen hat abrupte Richtungswechsel bislang noch allzuoft mit galleblubbernder Unzufriedenheit quittiert. Kindergelächter.

Schabba.
Auch ich habe meinen Stolz. Vielleicht habe ich mir alle Richtungswechselübelkeit ja doch nur eingeredet. Ralf B. zumindest ist der festen Überzeugung. Seine Eltern züchten zwar Brieftauben und klagen gegen Privatbordelle, aber vielleicht hat er ja recht. Doch wo rein? "Lass uns in die Schiffschaukel gehen. Die ist am harmlosesten." "Ach..." "Ja. Da dreht sich auch nix." Das Argument hat Gewicht. Ralf auch, aber das tut wenig zur Sache. Von Pioniergeist beflügelt lasse ich mir einen Plastikjeton auf den Blechtresen schnippen, reiche ihn mit stolzer Brust dem Plastikjetoneinsammler wenige Meter später und nehme in einer der hintersten Bänke Platz.

Schabba.
Ralf quetscht sich neben mich. Die Schiffschaukel schiebt sich langsam vor und zurück. Und aus den Boxen schallt "Mister Loverman" von Shabba Ranks. Mit jedem Schwung wird das Schaukeln mächtiger. Umso mehr, als wir "far out", kurz vor dem Bug der Schaukel klemmen. "Mister Lovermäään", kräht die Trulla auf der Aufnahme. Shabba sagt: "Schabba." Wir erreichen immer neue Höhen. Eine ganze Schmetterlingsplage wütet in meinen Eingeweiden. Alles kribbelt, krabbelt, kitzelt und wuselt. Höher, höher, schneller, weiter, mehr. "Mister Lovermäääään." "Schabba." Mir steigt Schweiß vor die Stirn. Alle Gesichtsfarbe zerrinnt in Richtung Magen. Die stolze, glänzende Fassade zersplittert mit sämtlicher Selbstüberzeugung im kalten Leeraner Abendhimmel. "Mister Lovermäääään." "Schabba." Vorwärtsabwärtssausen. Rückwärtsaufwärtssausen. "Schabba." Der Magen beginnt zu brodeln. Die vorher wonnevoll verschlungene Nahrung sucht nach dem Notausgang und klettert aufwärts. Vorwärtsabwärtssausen. Rückwärtsaufwärtssausen. "Mitster Lovermääään." "Schabba." Fluchtgedanken klingeln nun auch in meinem Kopf Sturm. Bloß raus hier. Bitte. Schnell. Und schaltet das verfluchte Lied ab.

Schabba.
Endlich beruhigen sich die Luftschiffwogen. Mit letzer Kraft ringe ich um Kontrolle, um Fassung. Stürze aus der Schaukel, schubse Passanten zur Seite, renne schneller, immer schneller, bloß herunter vom Marktgelände. Dann, direkt vor dem holländischen Blumenladen am Marktrand ist alles verloren. Mit aller Kraft durchbricht die Galle den Staudamm, alles Entsetzen hilft nicht. Ich übergebe mich mit bitterm Schwall mitten auf Begonien, Glyzinien, Rosen, Tulpen, oder was sonst in Sträußen gebündelt dort gestanden haben mag. Wie vom Deichschaf gebissen, schreit der holländische Händler auf, sein Gesicht läuft dunkel an. Ich stammele "Tut mir Leid! Wollt ich nicht!" "Dasch wirscht Du bezahl, mien Jong!", schmettert mir sein Bass entgegen. Schiss übermannt mich. Und renne ich weg. Wendiger und flinker, schlage ich Haken zwischen schlendernden Pärchen hindurch, an der Losbude vorbei, an der Pizzabude, neben der auch immer noch die andere Stückchenpfütze schwabbert. Er rennt hinter mir her. Schreit wütend. "Aufhalten! Aufhalten!" Mit letzter Kraft gelingt es mir, außerhalb seiner Sichtweite zu sprinten. Der Puls rast, der Magen rebelliert immer noch. Leise Schuldgefühle und anhaltende Übelkeit ringen griechisch-römisch in meinem Inneren. Ich hyperventiliere. Er hat aufgegeben. Ich bin in Sicherheit. Dankenswerterweise hat Ralf geschwiegen. Noch heute klettern seltsame Erinnerungen aus meinem Gedächtniskeller hinauf, wenn ich an holländischen Blumenlastwagen vorbeigehe. Noch heute wird mir körperlich übel, wenn ich "Mister Loverman" höre. Schabba.

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33 Wortmeldung(en):

Anonymous Anonym meint...

Jotte neeeh, Du Armer ! Dabei kann Schaukeln doch so schön sein...

Bei den paar Boxautos, die's auf dem Schützenfest wenige Kilometer von Leer entfernt gab, konnte man nie was falsch machen... was mich heute der Möglichkeit beraubt, eine ähnlich schaurige Schaukelgeschichte zu Papier zu bringen.

30/3/06 00:15

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Normales Schaukeln ist komplett harmlos. Ist ja auch schon über dreizehn Jahre her. In der Zwischenzeit kann das ein oder andere sich auch positiv entwickeln. :)

30/3/06 00:18

 
Blogger undundund meint...

jessas. sag´s durch die blume.

30/3/06 00:44

 
Blogger Minka meint...

ohmeingott! ich wollte einmal die welt von oben und auf dem kopf sehen. es war mein grösster wunsch. darum stieg ich in dieses schiff, in hamburg auf dem dom. es ging mir dabei wie dir. schlecht. ich kämpfte. schloss die augen. und als das schiff endlich still stand, kreischte die blonde amerikanerin direkt vor mir: „more!more!more!“ und der mann in der kabine sagte in sein mikrofon: „für unseren gast noch eine ehrenrunde!“ Und ich schrie: „nein!nein!nein!“ zu spät! das schiff schaukelte los, und ich kotzte der blonden amerikanerin bei jedem abschwung in ihr langes haar. fünf mal. sie merkte es aber nicht. später sah ich, wie sie sich in die haare fasste.
danach lag ich drei tage krank im bett.
dabei wollte ich nur die welt einmal von oben auf dem kopf sehen. :-)

30/3/06 00:58

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@undundund: Man hätte, auch, was ich auf die Blumen gab, blumiger ausdrücken können, tippe ich. :)

30/3/06 01:06

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@minka: Achherrje. Da ist die Frage, wer glimpflicher davongekommen ist. Auch übel. :)

30/3/06 01:07

 
Blogger undundund meint...

neinnein. kotzen finde ich als wort irgendwie mehr als ok. übrigens, laut lexikon, verwandt mit koppen = aufstoßen. "Wohl lautmalend" (klingt einleuchtend)

30/3/06 01:10

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Die Welt ist verblüffend vernetzt. :)

30/3/06 01:15

 
Anonymous Anonym meint...

also ole. wirklich. ich mochte dich ja schon vor dem text. aber jetzt mag ich dich noch mehr.
shabba.

30/3/06 08:03

 
Anonymous Anonym meint...

fabelhaft geschaukelt, mein lieber. in meinem magen wummert die autoscooter-musik und mir fallen die autoscooter-"hands" ein, die mich in allerjüngsten jahren mit ihren langen,ungewaschenen haaren, ihrer vermeintlichen coolness und vielen schlechten tattoos so beeindruckt haben.

30/3/06 09:10

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Bitts, was sind denn Autoscooter-Hands? Ich hab ne vage Ahnung (h statt b-versehen?), aber. :)

30/3/06 09:54

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@glam: Du tust was für meine Gesichtsdurchblutung. ;)

30/3/06 09:54

 
Blogger Pe Pe meint...

Beim Lesen des Textes konnte ich die Situation nachfühlen. Ganz ehrlich - glänzend der Teil der aufkeimenden Übelkeit.
Jetzt geh ich erstmal die Tastatur reinigen - mir ist da nämlich ein Mißgeschick passiert.

30/3/06 10:00

 
Anonymous Anonym meint...

Es gibt nichts Schöneres als Achterbahnen (gerne auch mit loopings).

Wenn man nur nicht immer so lange anstehen müßte. Hier ist auch gerade Frühjahrsdom, mal sehen am Wochenende.

30/3/06 10:05

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Achterbahnen gehen seltsamerweise auch bei mir. Bei Dir sollte es ja eh kein Problem sein, Kavenzmann gestählt, wie Dein Körper ist.:) Wenn, viel Spaß auf'm Dom, Opa.

30/3/06 10:16

 
Anonymous Anonym meint...

irre geschichte. ;)
ich habe zwar immer leidenschaftlich geschiffschaukelt und meine runden im kettenkarussell gedreht, alles andere jedoch wurde mir schon im zarten alter von drei oder vier von meinen eltern madig gemacht, indem man mich heftig auf das gefahrenpotenzial hinwies und dies schillernd und beispielreich ausmalte. so kam es, dass ich im bereits fortgeschrittenen alter von 21 jahren zum ersten mal an der hand meiner kindergartenfreundin eine sogenannte spinne betrat. im hinterkopf spulte in endlosschleife die anekdote meines vaters, der vor etwa 25 jahren mit einer horde kumpels eine spinne bestieg und nicht mehr herauskam - das gefährt, in dem er und seine freunde saßen drehte und drehte sich und musste schließlich von fünf starken männern manuell zum stillstand gebracht werden.
ich nun also todesmutig in die spinne gestiegen. auf der ersten fahrt wurde mir speiübel. meine sandkastenfreundin lachte nur und meinte, beim zweiten mal würde es erst richtig gut. wir gingen eine runde, ich bleich und würgend, meine freundin fröhlich eine käsebrezel mampfend und einen halben liter cola schlürfend. dann zurück zum mördergefährt. aber erstaunlich - meine freundin behielt recht! es wurde richtig super. ich hatte plötzlich irren spaß. meine freundin ließ sich breitschlagen, noch ein drittes mal zu fahren. beim vierten mal wurde sie plötzlich blass und klammerte sich fest an die absicherung. "die brezel", stöhnte sie, und: "hoffentlich nimmt das bald ein ende..." der betreiber meinte es jedoch besonders gut mit uns zwei damen. es war der letzte tag des frühlingsfests, kaum mehr besucher - seit dem mittag hatte es immer wieder geregnet. wir waren die einzigen in der spinne. die fahrt war noch lange nicht zu ende. meine freundin saß zusammengekrümmt auf dem sitz und jammerte nach einer toilette. endlich kam das ding zum stehen. meine freundin konnte sich kaum auf den beinen halten und taumelte hinter die nächste fressbude, wo sie eine käsebrezel und eine große cola wieder von sich gab... der besitzer der spinne grinste mich unverfroren an: "spaß gehabt?"
ich schon. ;)

30/3/06 13:06

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Was ist denn nochmal die "Spinne"? Dieses vielarmige Krakenkarussell das sich in mehrere Richtungen gleichzeitig dreht?

30/3/06 13:09

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

schöne geschichte auch. :)

30/3/06 13:13

 
Anonymous Anonym meint...

danke. ;)
und ja, genau, das ding mit den vielen armen, an deren enden die schüsselartigen und meist auch nochmal auf spinne gestylten sitzgelegenheiten angebracht sind, die dann um sich selbst kreiselnd auf und ab um die "mutterspinne" geschleudert werden. ;)
an die hintergrundberieselung kann ich mich leider nicht mehr erinnern. kein verlust, schätzungsweise...

30/3/06 14:26

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

rummsbummstekknodancefloorschlager mit verhallten anfeuerungsgejohldurchrufen vom schaltermann, schätze ich. :)

30/3/06 14:42

 
Blogger kein einzelfall meint...

Der Kommentar wurde von einem Blog-Administrator entfernt.

30/3/06 14:53

 
Blogger kein einzelfall meint...

Vomit eine Menge über Rummelabenteuer gesagt wäre.

30/3/06 14:55

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@pun mistress k.e.: you throw it up!

30/3/06 14:58

 
Anonymous Anonym meint...

da bist du ja noch richtig gut ole, ich kann ja nicht mal ohne flauen magen fahrstuhl fahren oder im ausschlag von einem 1/2 m nach vorn oder hinten schaukeln.

30/3/06 15:06

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Für einen Moment fragte ich mich: Wie kann man denn in einem (Haut-)Ausschlag schaukeln? Ekzemschwung? Naja... dann verstand ich. :)

30/3/06 15:13

 
Anonymous Anonym meint...

Ich habe mit dir gelitten. So gegen Mitte taten mir die Arme weh, meine Augen haben getränt und mir wurde schlecht.

30/3/06 17:13

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Ich hoffe, Deine Blumen mussten nichts erleiden? :)

30/3/06 17:21

 
Anonymous Anonym meint...

Mist, hätte ich eher lesen sollen. Dann hätte ich vielleicht den Keksen widerstanden. Jetzt fühle ich zähe, zuckrige Masse in meinem Bauch wabern.

Sehr anschaulich, "Shabba" übertönt gerade Metric in meinem Kopf, das will was heißen.

30/3/06 20:54

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Da sind Metric aber doch die mit Abstand feinere Variante. :)

30/3/06 21:05

 
Anonymous Anonym meint...

Sehr schöne Geschichte. Mr Loverman ist jedoch Shabba Ranks! Wie könnte man diesen Typen mit zwei unterschiedlich langen Hosenbeinen vergessen... *räusperl* oder war der bei Real2Real?

31/3/06 00:24

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Da spricht der wahre Experte. Da hab ich Mister Boombastic wohl Unrecht getan, und dunkel dämmert's mir auch. In den Bravo-Ausgaben, die ich mir damals gekauft habe, kann Shabba Ranks indes nicht dringewesen sein, sonst würde ich mich doch an Deine Beschreibungen erinnern. Und aus Videos kenn ich ihn auch nicht, hatten wir damals doch noch nichtmal Sat1 und RTL, oder wenn, dann gerade erst. :)

31/3/06 10:21

 
Anonymous Anonym meint...

dieser verdammtevermaledeite eurodancepopsong! manchmal glaube ich, wir sind alle nur ein "schabba" vom endgültigen wahnsinn entfernt!

31/3/06 20:57

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

wenn überhaupt :)

1/4/06 02:24

 

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