Flugzettel im Danach
Hier stehe ich nun. An dieser Ecke, von niemandem beachtet, starre ich in die umgestülpten Feierabendverkehrgesichter. Ich umklammere meinen Stapel Blätter, presse eins gegen meine Brust, sehe ihm zu, wie es herabsaust und dem Boden entgegenstottert. Ich bin der rechten Winkel und des abgekürzten Tageslichts so müde und warte darauf, dass sich der Winter erledigt.
Warum erblicke ich Dich noch immer im spiegelnden Abglanz jeder Fensterscheibe, in allem, das ich bis jetzt nie überwinden konnte? So, wie ich nichts mehr mit meinen Händen anzufangen vermag, jedes Mal, wenn ich mit Dir spreche. So, wie Du nicht weißt, wohin den Blick richten, und prompt genau auf meine Hände schaust. Wie Bewegungen entspringen und sich dann auflösen, geschmolzen unter unserem flachen Atemhauch. Die Ursachen tanzen hinweg von mir, nun bin ich Dein Streitschriftschreiber!
Pünktlich trete ich in diesen Raum zum Rhythmus des riesigen Druckers, vertiefe mich in mein nächstes Kommuniqué: „Die Rhetorik und der Verrat, ‚Ich vermisse Dich’ zu sagen.“ Darüber, zu sagen: „Hey, Du… vielleicht… vielleicht solltest Du bleiben.“ Darüber, zu singen: „Oh, welche Macht auf Erden könnte schwächer sein als die klägliche Kraft eines Einzelnen?“ Wie mir, der ich mir ausmale, was noch alles hätte sein können.
Hilf mir bei dieser Barrikade! Keine Ergebung, keine Vernichtung! Ein Schreckgespenst sucht die Albert Street heim: Ich bin es, Dein Streitschriftschreiber.
Frei interpretiert nach Weakerthans - Pamphleteer.
18 Wortmeldung(en):
Die popmusikalische Banausin fragt sich jetzt natürlich, ob der Pressesprecher von Tony Blair inzwischen Lyrics textet.
[Kommentar mit aber sowas von aktuellem politischen Bezug ;)]
9/11/06 18:55
Sehr schöner Text. Ich mag die Stimmung und die Wortwahl. Wunderbar.
9/11/06 18:59
@k.e.: Ist der zartfühlende Alistair Campbell eigentlich noch am Ruder? Ich glaube, nicht mehr, oder?
9/11/06 19:32
@ole: No, aber Albert ist nach wie vor um die Ecke von Downing Street. ;)
[sorry, wollte Dir die Poesie nicht zerfetzen, aber es war einfach zu verlockend]
9/11/06 19:36
Da kann ich ja durchaus "switchen", wie man neudeutsch sagt. (Nicht zu verwechseln mit zwitschern) :)
9/11/06 19:52
Das ist übrigens ein sehr schönes Lied. Und eine gute Idee, Songtexte zu übersetzen, das sollte man viel öfter machen. Vielleicht greife ich die Idee mal auf.
10/11/06 10:14
Ich versuche mich ja schon seit geraumer Zeit immer wieder gern an etwas freien Neuübersetzungen von Songtexten. Hier kannst Du bei Interesse auch, ich glaube, fast alle vorangegangenen Fassungen finden, falls es Dich interessiert. :)
10/11/06 11:19
Ein sehr schöner Text. Ob da das Original mithalten kann ? Ich sollte mich aber doch mal mit den Weakerthans beschäftigen...
10/11/06 16:55
Einfach nur schön.
10/11/06 21:40
Dein Text ist wunderschön zur Melodie von "Eleanor put your boots on". Wie gerne ich doch Texte mit Musik verbinde, da kommt immer etwas völlig Neues bei heraus.
Nur die "umgestülpten Feierabendverkehrgesichter" kann ich mir nicht vorstellen..
11/11/06 00:16
Vielleicht "auf links gedreht"? Und Kunstwerke auseinanderschrauben und mit vertauschten Köpfen, neu angestrichen und in völlig anderem Licht neu wieder zusammensetzen, ist eine großartige Sache und seit Jahren eine meiner heimlichen Leidenschaften. :)
11/11/06 01:10
@lundi: Ich behaupte, es lohnt. Das Text-Original lässt sich außerhalb des Booklets u.a. auch hier ansehen.
11/11/06 01:13
Chapeau, wer braucht da noch die Bravo? ;)
Passenderweise flatterte mir eben das hier auf den Bildschirm, dachte das könnte dich vielleicht interessieren? (Tags: John K Sampson, Goethe)
11/11/06 11:05
Samson ohne P verdammich, das kommt davon wenn man erst so spät seinen ersten Kaffee hat.
11/11/06 12:01
auch nicht zu verwechseln mit O.J. Simpson :)
(geschweige denn mit Homer, Marge, Bart, Maggie, Lisa oder Grandpa)
11/11/06 13:27
und danke für den Link: Sehr faszinierend!
11/11/06 13:27
Des rechten Winkels müde sein...
Ein Text der ans Herz geht...
11/11/06 18:27
Es geht mir nicht um die Wortwahl, sondern einfach darum, dass meiner Meinung nach ein Gesicht nur dann als "umgestülpt" beschrieben werden kann, wenn es das tatsächlich ist. Um einen Gesichtsausdruck zu beschreiben (was es meiner Auffassung nach hier tun soll) finde ich das Bild etwas fehlgesetzt.
Aber vielleicht fehlt mir da auch einfach nur die poetisch-metaphorische Ader.
11/11/06 22:07
Kommentar veröffentlichen
<< Home