Tüteninferno (2/2)
Unweit davon zwinkerten die Lampen der Eckkneipe (sie war seit Kurzem unter neuer Führung und nannte sich nun 'Carmener Kreuz') den Bürgersteigpassanten verführerisch zu. Gesichter, die schon zur Zeit des Prager Frühlings angegraut waren, kauerten darin faltig am Eichentresen. Manche hielten sich an senkrechten Streben fest. In der Ecke stach der Skatclub "Eichel Unter" Trümpfe und kippte Herrengedecke. Hier, in einer der hinteren Ecken, hockten zwei junge Männer, die den Altersschnitt der Gäste um Jahre senkten. Beide tranken Fassbier aus Steinkrügen. Einer seufzte und vergrub, immer wieder Kopf schüttelnd, sein Gesicht in den Händen. Der andere erhob kurz später seine tiefe Stimme.
"So, Korni. Und jetzt verrätst Du mir endlich mal was los ist. Ist ja kaum auszuhalten, Deine Laune heute."
"Scheiße! Alles Scheiße, Mathis! Selten hat mir das Schicksal einen größeren Haufen vor die Tür gesetzt."
"Geht's auch konkreter?"
"Du weißt doch noch... Samstag."
"Ja? Du meinst, dass Mainz auch gegen Schalke..."
"Ach, killefitt. Klar, das ist auch Mist. Nee..."
"Hilf mir auf die Sprünge."
"Mojowax-Party, Du erinnerst Dich?"
"Oh ja, rattenstramm warst Du. Biste von den Bullen angehalten worden? Lappen weg?"
"Nein, quatsch! Ganz anders."
"Dann schieß los."
Kornelius (er war derjenige, der immer wieder sein Gesicht vergrub) hob den Steinkrug und nahm einen kräftigen Schluck Pils. Einige Tropfen rannen von den Mundwinkeln aus sein Kinn hinab.
"Ihr seid ja irgendwann getürmt und noch weiter ins Fusion."
"Ja. Hättst ja noch nachkommen können."
"Klar, aber darum geht's nicht. Jedenfalls: Kurz nachdem Ihr weg wart, tanzt mich da eine unglaublich schnuckelige Kleine an. Mit nem Lächeln, so süß, das Diabetiker ins Zuckerkoma schicken könnte."
"Und Du bist abgeblitzt? Haste's verbockt?"
"Ja. Nein. Eigentlich nicht. Und doch. Herrje!"
Er schlägt wütend mit der Faust auf den Tisch. Gläser klirren aneinander. Die anderen Gäste drehen sich kurz irritiert um.
"Also, wir tanzen uns gegenseitig an. Immer näher, immer näher. Plötzlich dreht sie sich um und schmiegt ihren niedlichen Hintern in meinen Schritt. Es wird immer heißer. Sie führt meine Hände von den Hüften auf ihre Brüste."
"Wow!"
"Dann reiße ich sie herum und wir beginnen mit einer wilden Knutschorgie. Mitten auf der Tanzfläche."
"Hossa! Geiler Typ!"
Mathis hält die Hand hoch zum Abklatschen bereit. Kornelius schlägt aus.
"Ja. Nein. Das schon. Nun. Gut. Irgendwann flüstert sie mir ins Ohr, sie wolle allmählich gehen. War ja auch schon nach fünf."
"Und Du bist nicht hinterher?"
"Doch, klar. Ich bin mitgegangen."
"Wo ist dann das Problem?"
"Beide hatten wir immensen Hunger, und so sind wir noch gemeinsam zum Dönermann gefahren."
"Sie ist doch nicht etwa Veget..."
"Nein, Mathis. Sie isst Fleisch." Kornelius rollte die Augen.
"Na ist doch super!"
"Ja. Gut. Während wir aufs Essen warten, schlingt sie sich erneut um mich und lässt wild die Zunge kreisen. Wir dann gemeinsam den Döner gegessen, fragt sie mich plötzlich, ob ich nicht einfach mit zu ihr kommen will."
"Und? Du hast doch nicht etwa gekniffen, oder?"
"Iwo! Irgendwer hätt' mich kneifen dürfen, ich dachte, ich träume!"
"Und?"
"Ja, geil war's. Donnerknispel, die Frau hat Sachen gemacht, die andere erst mein zwanzigsten Mal mit Dir machen. Oder nie! Fast illegal! Und Titten zum Drinversinken."
"Aber kein Kondom dabei gehabt?"
"Du weißt, ich bin immer bewaffnet."
Kornelius verzog den Mund zu einem galligen Lächeln.
"Ja, was zur Hölle ist dann mit Dir los, Alter? Heiße Mieze klar gemacht, mal wieder einen versteckt... ist doch super!"
"Schon. Nun. Naja..."
"Was... stand plötzlich ihr Macker im Zimmer?"
"Nein. Quatsch. Jedenfalls: Wir vögeln, dass die Wände wackeln, immer schneller, immer wilder. Und irgendwann, als nix mehr geht und die Sonne schon über die Dachwipfel klettert, sind wir eingeschlafen."
"Ja dann ist doch alles bestens! Wann triffst Du sie wieder? Haste ihre Nummer?"
"Das ist ja gerade das Problem."
"Wie? Hat sie Dich rausgeworfen? Will sie Dir die Nummer nicht geben?"
"Nein. Sie hat doch geschlafen. Geschnurrt wie eine Persekatze hat sie."
"Ja, was zur Hölle?"
"Mach mal halblang. Ich werd's Dir verklickern. Irgendwann vormittags wache ich auf. Über meinen Kopf gestülpt scheint ein Astronautenhelm mit Visier aus Milchglas, schwer wie ein Dutzend Walfische. Der Mund eine übersäuerte Wüste. Ausgelaugt wälze ich mich im Bett hin und her. Auch das Hirn windet sich in Krämpfen, als ich es auffordere, sich zu erinnern, was in der Nacht zuvor passiert ist und wie genau ich in dieses Schlafzimmer gekommen bin. Nur zögerlich schleichen verstreute Erinnerungen in zerrupften Lumpenfetzen zurück ins Bewusstsein. Nur in Zeitlupe fügen sich die zerborsten Wahrnehmungssplitter wieder zu einem geschlossenen Ganzen. Nun... allmählich hat auch die Verdauung sich zurück zum Dienst gemeldet, und so schleppe ich mich für das große Geschäft ins Badezimmer. Die Kleine schläft meilentief weiter. Nun... ich hocke mich also auf die Schüssel, um...
(Hier lässt der Autor den Lesern aus Pietätsgründen unbeschriebenen Freiraum, um sich selbst für oder wider bildliche Vorstellungen zu entscheiden.)
Als ich fertig bin, tauchen Erinnerungen auf, die vorher noch ihren Rausch ausgeschlafen haben mussten. Sie hatte mit besorger Miene gebeten, ich sollte mich doch nicht am Chaos stören. Sie und ihre Mitbewohnerin renovierten gerade. Nun, als ich spülen will, passiert nichts. Nada. Niente. Rien. Nitschego. Die Toilette war nicht angeschlossen, scheinbar wegen der Umbauten abgeklemmt."
"Potz Strahl! Und dann?"
"Naja... versuch mal mit völlig zermörsertem Hirn klar zu denken. Gut, die Kleine schläft noch. Und irgendwie muss dieses Malheur ja aus der Welt. Weißt Du - großartig wie es war, will ich mir ja nicht einfach sämtliche Chancen auf eine Fortsetzung zersägen. Und plötzlich fällt mir ein, dass ich in der Jackentasche noch die Plastiktüte vom Dönermann haben müsste. Und ich entdecke auf der Waschmaschine eine Packung feuchter Toilettentücher. So entscheide ich mich spontan für das scheinbar geringste Übel, wenn auch mit einem Würgen im Hals und halb erstaunt über mich selbst: die Schüssel selbst zu reinigen und alles in die Tüte umzufüllen (irgendwo jenseits der Wohnung würde sich ja schon ein Müllcontainer finden, in den man die Tüte unauffällig fallen lassen könnte), dann der Süßen einen kleinen Brief zu schreiben (so könnte ich ihr ja nie wieder unter die Augen treten), dass ich schon weg musste und so und unbemerkt zu verschwinden."
"Und?"
"Ich hab's getan."
"Und sie fand's scheiße?"
"Streich das s. Denn als ich den Brief fertig geschrieben habe und mich klammheimlich aus der Wohnungstüre schleiche und sie leise hinter mir zugezogen habe, breche ich fast zu sammen. Auf dem Tisch... neben dem Brief... lag noch die..."
"Nein!"
"Doch!"
"Heilige Scheiße!"
"Du sagst es."
Labels: Paar Probleme
43 Wortmeldung(en):
Ole, Ole ... !
Ich habe mich gerade während der Agentensitzung naßgemacht, ungelogen.
Die denken jetzt, ich wäre inkompetent oder so ähnlich, dabei war es doch nur Scheiße ;-)
Poodlitzer Preis, 2. Klasse - mindestens!
19/4/07 16:33
...also damit hätte ich nicht gerechnet! Der Ärmste hat quasi für alle Zeiten verkackt :-)
19/4/07 16:33
@Opa: Ich muss heute nacht wieder Medikamente ausfahren. Meistens sind auch Etis (Etiketten ~ große Kartons, die nicht in Medikamentenwannen passen) dabei mit Erwachsenenwindeln. Falls der Sprit reicht, mach ich nen kurzen Abstecher über die Reeperbahn und bring Dir welche vorbei - auf die Gefahr, rauszufliegen beim Job. ;)
19/4/07 16:35
@Nachtschwester: You name it. :)
19/4/07 16:35
P.S., Opa: Von Deinen 50 € hat niemand etwas gesehen, scheint es. Vielleicht solltest Du nochmal anrufen, um sicher zu gehen? ;)
19/4/07 16:38
One-Night-Stands können echt beschissen sein.
19/4/07 17:36
*pruuuuuuuuuuuust*
Jetzt wär ich fast an meinem Nutellabrot erstickt vor lauter Lachen!
19/4/07 17:41
NEIN! Horrorszenario..trotzdem zum Grölen..In diesem Fall lag der Miss-Erfolg wohl klar auf der Hand, was? (sillerbetrachter)
19/4/07 18:54
Erstaunlich, denn über Geld spricht man sehr wohl in unseren Kreisen ...
Bitte keine Windeln! Ich arbeite künftig bei der Lektüre deines Blogs mit etwas größeren Wäscheklammern, das reicht. ;-)
19/4/07 20:40
Holy crap !!!
19/4/07 21:49
Jawollja, ein überraschendes Ende zu einer perfekten Zwei-Seiten-der-Emaille-Geschichte.
Danke, Ole. :-D
19/4/07 23:42
Ich sag nur soviel: :D
20/4/07 07:14
sehr lecker! :)))))
20/4/07 08:08
Hooly shit, da braucht's ein paar Halbe im Carmener Kreuz ;-)
20/4/07 08:15
Der Döner macht die Musik. :)
20/4/07 10:13
hehe, schöne scheiße! mann mann mann...
udn jetzt kann ich ja das geheimnis auch lüften: guck mal hier für eine kurzversion: http://maeusekaefig.twoday.net/ ;-)
und die beiden saßen echt im Carmener Kreuz? ist das nicht die eckkneipe an der maximilianstraße??!!
20/4/07 12:30
@hans: Nee, das heißt... äh... keine Ahnung. Das Carmener Kreuz habe ich nur eingebaut, wiel ich den Namen so angenehm bescheuert finde. Und die Dame, bei der Du's zuerst gelesen hast ist zugleich die Dame, die mir die Geschichte vor Wochen persönlich erzählt hat. Auch wenn ich mich schwerstens dafür verbürge, dass sie selbst nicht daran beteiligt war. Ich wollte damals sofort ne Geschichte draus basteln, habe ihr aber erstmal den Vortritt gelassen und erst mit Verspätung nachgezogen. :)
Erstaunlicherweise findet sich hier auch noch eine Oldenburger Variante der Geschichte, die mir im Dezember letzten Jahres seltsamerweise beim Lesen scheinbar völlig durchgerutscht ist...
20/4/07 12:37
@hans: und es ist die eckkneipe an der maximilianstraße, ja. :)
20/4/07 12:38
@anonym: Döner macht Scheißmusik? :)
20/4/07 12:38
@michael: Mindestens.
20/4/07 12:39
@scheibster: Wie viele Seiten hat Emaille insgesamt? :)
20/4/07 12:39
@schnitzel: Manchmal sagt man viel ohne viel zu reden. :)
20/4/07 12:40
@sillerin: Ich hoffe, nicht auf der Hand, sondern nur in der Tüte?! :)
20/4/07 12:42
@opa: Sprit hätte eh nicht mal bis Hannover gereicht. :)
20/4/07 12:42
@dudu: Und am Ende wärst Du auf obskuren Wegen in den Darwin-Awards gelandet... :)
20/4/07 12:43
@kreuzberger: nicht unbedingt "sein", aber "enden"... :)
20/4/07 12:44
Macht nix. Vielleicht kannst du mich beim nächsten Mal ja vorwarnen (ne Wäscheklammer oben rein oder so).
Mit dem Poodlitzerpreis wirds leider auch nix, der Kontinent für dieses Jahr ist schon erschöpft ;-)
20/4/07 13:58
Wie viel Kontinent gibt es bei den Inkontinenten denn an vergebbaren Preisen, die schon zu Jahresbeginn vergriffen sind? :)
20/4/07 14:09
Merci, Ole: wunderbar gelacht! Man sollte immer einen Wassereimer mit sich führen.
20/4/07 16:04
Ich glaube nicht an wilden Sex nach Dönergenuß. Nie im Leben nicht! ,-)
20/4/07 18:12
@creezy: Da kenne ich persönlich Frauen, die darüber völlig anders denken. :)
20/4/07 18:17
Poolitzerpreis ... herrlich, da haste aber scheiße gebaut ...*muhahah* ich lach mich wech und bete, dass mir soetwas nie nie nie passiert ;-) super *ThumbsUp*
20/4/07 23:06
köstlich
20/4/07 23:15
Meine Nachbarin hat mir für Effekte, wie sie Deine Geschichte zeitigt, den Terminus "Fremdschämen" beigebracht, der dann von Spiegel Online aufgegriffen wurde.
Ungeachtet dessen: Wann kommt die Story vom Mädchen, Nutella, der Überraschungsparty und dem Keller?
21/4/07 03:30
Diese WC Geschichten sind in fast jeder Form aber immer witzig. Und noch schöner die Location-Wahl: Mojowax und Fusion. Schönes Ding!
21/4/07 10:55
@l&k: Ich kann nicht behaupten, sonderlich viele WC-Geschichten zu kennen... Bildungslücke, scheint's. :)
21/4/07 15:49
@jök: Die Wissenschaft rätselt noch über den Zeitpunkt. :)
21/4/07 15:49
@chilli: Vorgewarnt bist Du jetzt ja immerhin. ;)
21/4/07 16:14
@roman: Der Tüteninhalt selbst wohl eher weniger, oder? Thanks anyway... :)
21/4/07 16:14
@markus: Oder Freunde in der Nähe wohnen haben, die dem Wassereimernotfall-Konsortium angehören. :)
21/4/07 16:17
ha, urbane legenden dufte nacherzählt. mir gefällt besonders das schöne setting im camener kreuz. ;)
22/4/07 12:56
ich wüsste auch noch eine story, vom mädchen und dem medizinstudenten und einem mysteriösen pilz...
27/4/07 02:35
Dies ist ein wirklich interessanter Artikel, froh, dass ich hier bin, mach weiter so.
16/11/20 12:37
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