Ein neuerlicher Besuch im Paralleluniversum - Ole wagt sich auf ein Konzert der Münchener Freiheit (I)
Dort, wo die Masse des Publikums an die Bühne brandet, findet man gemeinhin den "Moshpit". Zumindest bei brachialeren Rock-Fraktionen. Entfesselte Fans verheddern sich zu Knäueln, quetschen sich gegen einander und die Absperrungen, zucken mit ihren jungen Hälsen im Takt, schleudern ihre Haare umher, recken ihre Arme, tanzen, springen, keifen und grölen. Just, bei einer krachenden Punk-Combo in einer Seitenstraße. Auch auf dem Domplatz drängelt sich das Volk bis dicht vor die Bühne, doch ist ansonsten vieles anders.
Wenn sich noch Haare auf den Häuptern finden, so eignen sie sich nicht zum Umherschleudern. Dafür sind sie zu kurz geschnitten. Vielfach umkränzen sie silberglänzend und schütter die Falten der hohen Stirn. Bisweilen sind sie auch durch Dauerwellen oder umfassenden Schaumfestigereinsatz auch in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. In diesem Fall fehlt dem Moshpit vielleicht vor allem die Jugend, der Ungestüm, der das Explodieren der Masse in wilder Ekstase ausbleiben lässt. Nun hat sich für heute abend allerdings auch keine Band der brachialeren Rock-Fraktion angesagt, auch wenn das riesige Drumset mit zwei Bassdrums, haufenweise Toms und einem Himmel aus Becken fast derlei vermuten ließe.
Herzschlag ist der Takt für sanftes Hüftwiegen und Klatschen an diesem Abend. Es ist gesetzter Jubel, reife Anerkennung und Freude an sanft ergrauten Erinnerungen. An die Zeit vor etwa zwanzig Jahren, als vier junge Münchener mit komplexer Mehrstimmigkeit, einer Mischung aus schmeichelweicher Zärtlichkeit und deftigen Gitarrenakkorden ihre eigene, anspruchsvolle Variante der Schlagermusik erfanden und Teile des Landes in Bann schlugen.
Heute ist also der Abend, seine eigenen Erinnerungen zu bejubeln. An damals, als man selbst noch viel jünger war, als alles viel intensiver roch und schmeckte, als das Leben noch weit wilder kribbelte. Bei mir selbst sind es Erinnerungen an die Zeit der Einschulung. An den selbstgenähten Teddy, den mir meine Mutter geschenkt hat, an die Schultüte, meine riesigen, kreisrunden Brillengläser, an Höhlen aus Ästen, Gras und Laub im Wald, an die Minitrix-Eisenbahn oder die ersten Paraden als Torhüter in der E-Jugend des VfR Heisfelde. Ohne Dich schläft heute keiner der Anwesenden ein. Die Münchener Freiheit ist auf das Münsteraner Eurocityfest gekommen, um open air und kostenlos "Gefühle, die ich nie vergaß" zu wecken. Nach dem Konzertbesuch bei den Hawaiihemdengöttern des Schlagers ergibt sich nun also die zweite Chance in eine musikalische Welt fernab meiner sonstigen musikalischen Präferenzen.
Klebrig kräht das Keyboard zu Beginn, als die Band die Bühne stürmt. Die Bindung zu den Erinnerungen erwacht prompt. Mehrere Tausend Ichs bejubeln mit "Tausendmal Du" gleich den ersten Hit, der in ihrem Gedächtnis wieder lebendig wird. Der Schlagzeugsound ist ein wenig mumpfig; ansonsten klingt alles haargenau wie damals. Die Stimme Stefan Zauners ist immer noch traumhaft weich und angenehm, herrlich zart wie Erdbeercreme und gleitet zum Refrain geschmeidig ins Falsett. Aron Strobel sieht immer noch leicht brägenklöterig zwischen seinen langen Krüssellocken hindurch, während er sein Plektrum über die Gitarrenseiten schubbert.
Und doch sind zwanzig Jahre nicht spurlos die Isar hinab geflossen. Stefan Zauner hat sich längst getrennt von den einstigen haarspraybetonierten Fransenzotteln. Ersetzt hat er diese durch eine pomadetrunkene Fönwelle, mit der er optisch nahe an den ehemaligen Erotikfilmdarsteller und Glücksrad-Moderator Peter Bond und an - ja - die tschechische Goldkehle, den Titelliedbarden von Biene Maja, an Karel Gott rückt. Micha, der Bassmann, hat seinen schnöden Viersaiter inzwischen ersetzt. Inzwischen zupft er, kokett und lässig lächelnd, einen silberglänzenden, kleinbauchigen Fünfsaiter mit überdimensionalem Tragegriff, der eher an einene futuristische Weltraumwaffe oder eine Science-Fiction-Holzsäge erinnert.
Dass es bei allem eher die großen Glanzlichter der Karriere sind, auf die das Publikum wartet und die es kennt, wird gleich danach deutlich. Denn nach ihrer großen Zeit, Ende der achtziger Jahre, haben die Vier durchaus noch in munterer Reihenfolge Alben eingespielt, siebzehn inzwischen, doch hat kaum noch jemand ernstlich Notiz davon genommen, scheint es. Diejenigen, die eben noch vollkehlig jede Zeile auswendig mitsangen, kräuseln unsicher die Stirn, bewegen die Lippen nurmehr unsicher oder gar nicht mehr. Eher lauschen sie interessiert den Songs, von denen sie sich erst eine Meinung bilden müssen, ob sie diese für interessant halten.
to be continued...
P.S.: Das Foto stammt von Andreas Lepsi und erscheint hier mit dessen freundlicher Genehmigung.
Labels: Oles Musiktipps
36 Wortmeldung(en):
Solang man Träume noch leben kann.
Du ahnst bestimmt, was nach der Lektüre deines Artikels durch meine Boxen fleucht...
Haben sie auch diesen Song gespielt: http://tinyurl.com/3dgxwz
Btw:
Haben wir damals beim VfR in einer Mannschaft gespielt?
13/6/07 14:28
@cfk: Ich glaube nicht, nee. Ich bin ja auch nur ein Jahr dort gewesen, ehe ich Stammkeeper des SV Nortmoor wurde. Ich hab damals mit Stefan Becker, Stefan Engels, Axel Feldmann oder Andi Schütte zusammen gekickt. Dass wir da in einer Mannschaft gewesen wären, daran kann ich mich nicht erinnern.
Und an den "Gewissen... vermissen" Reim erinnere ich mich. Insofern: Ja, haben sie gespielt. :)
13/6/07 14:31
Dann waren wir doch in einer Mannschaft. Mit denen war ich nämlich auch in einer Mannschaft bevor ich mit dem Fußball aufgehört habe ;-)
13/6/07 15:21
Man weiß es nur ungefähr. Ich habe da nur 1987/88 gespielt und bin dann gleich gewechselt. Erinnern kann ich mich an Dich zu dem frühen Zeitpunkt zumindest nicht mehr. :)
13/6/07 15:33
Argh, mich schüttelt....
13/6/07 19:49
mein favorit ist immernoch: verlieben, verliern, vergessen, verzahein, sich hassen verlassen und doch unzertrennlich sein
ohohohooooooooooooohohohoho
ahaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa
hatte als kind diese rote original-musikcassette, wo das entsprechende album drauf war.
13/6/07 20:03
@rulla: Ich wollte gerade fragen, ob das nicht von Wolle Petry ist. Aber dann habe ich recherchiert und gemerkt, dass die Jungs auch so'ne Nummer geschrieben haben. Keine Ahnung, haben sie wahrscheinlich auch gespielt. Ich kenne ja auch nur die großen Hits, und zwischendurch habe ich dann auch nicht immer aufgepasst und/oder war mal Bier holen. :)
13/6/07 20:33
@frauh: Früttelschost? :)
13/6/07 20:34
Es gibt wissenschaftliche Leistungen, die kann man gar nicht hoch genug bewerten. Gerade für einen Musikforscher muss die beschriebene Veranstaltung wie eine gefährliche Reise in Amazonas-Randgebiete sein. Unter Einsatz geistiger Zurechnungsfähigkeit hast du dich mitten in den Schmelztiegel akustischer Gefahren begeben und wieder einmal eine vorbildliche Dokumentation erstellt. Bravo!
13/6/07 22:41
Ole, die kenne ich nicht. Es hört aus als Du hast es geniesst, Da zu sein.
Dazu auch eine gute Geschichte draus gemacht.
13/6/07 23:49
@lars: Die Münchener Freiheit anhören kannst Du Dir hier. Sie haben übrigens zeitweise auch unter dem Namen "Freiheit" in den USA für Furore gesorgt. Interessant ist dabei, wie willkürlich die Texte insgesamt wohl waren, denn auf englisch unterscheiden sich die Texte auf fast groteske Weise von den Originalen. Und selbst die sind... nunja, reden wir ein ander Mal ausführlicher darüber. Amüsiert habe ich mich durchaus an dem Abend, aber die Musik ist nicht wirklich meine Tasse Tee. :)
14/6/07 00:03
@markus: Ich hatte nicht einmal einen Helm auf. :)
14/6/07 00:04
Um es mit Lars zu sagen: Du hast es geniesst und mich angesteckt ;) Buahhhh.....
14/6/07 00:05
Werte FrauH, können Sie ohne Dich heute nacht nicht einschlafen? Ohrwurmkneifen? Üble Sache, wenn. Ich kenne das nur zu gut. Plötzlich sucht es einen heim.... habe mir gerade übrigens noch dieses Live-Video angeschaut und mich über die durchdrehenden Fans amüsiert, gerade die schwarzkurzhaarige mit Brille und rotem Pulli... das war in Münster alles harmloser. Aber da hatte ja auch keiner der Zuschauer Eintritt bezahlt. :)
14/6/07 00:11
Boah, Ole. Du traust Dich was.
14/6/07 00:16
Ole, auch wenn ich damals in einem sehr gefährdeten Alter war: soweit ging noch nicht einmal meine Gefühlsdusseligkeit..... (ich meine: Modern Talking ist ja auch Strafe genug für ein Leben....)
Dieses Video: ich musste es nach zehn Sekunden ausschalten....
14/6/07 01:06
Eine sehr nachvollziehbare Reaktion. Wobei Sie damit die schwarzrote Krachertante verpasst haben, die kommt erstmals bei 36 Sekunden. Und dann später nochmal. Zu köstlich. Und Gefühlsdusseligkeit... nie käme ich zu einer derartigen Unterstellung. Ohrwürmer kommen ja selten auf Geheiß des Gastgebers! :)
14/6/07 01:13
@rabe: Nicht alles, aber manchmal blicke ich dem Auge abseitiger Orkane furchtlos entgegen und begebe mich in grenzwertige Gebiete...
14/6/07 01:15
geh doch lieber mal am 14.07. zum sommerfieber und schreib was übern olli. da würd ich mich freun! letztens kam er in leipzig zu spät und hat - weil er es nicht mehr geschafft hat zu essen - die cateringplatten im publikum kreiseen lassen. das fand ich sehr nobel von ihm.
14/6/07 07:20
kreisen... natürlich
14/6/07 07:21
@rulla: Olli kann sich glücklich schätzen, einen Fan wie Dich zu haben. Ich hatte bis zu Deinem Eintrag nichtmal mitbekommen, dass der Schulz auf einem Benefiz der Mediziner auftritt, von dem ich auch nicht wusste, dass es dies geben würde... aber ich schau mal. Tendenziell ne super Idee.
14/6/07 09:07
puh, hardcore. erinnert mich an die freundin, die ich mit 18 hatte. ich hörte the cure und sie m.f. ürgs. ging aber auch aus anderen gründen nicht gut.
14/6/07 10:07
Ich würde grob sagen: Immer noch besser als wenn sie die Flippers gehört hätte. Oder Subway To Sally. Aber das ist wahrlich nur relativ tröstlich. Wenn dann noch die anderen guten Gründe hinzukommen, wird es schwierig, das stimmt.
14/6/07 10:17
Haha. Münchner Freiheit... Dass die noch schnaufen...
Mutig, aber weniger mutig als sich Wolle Petry, Modern Talking oder eben die Flippers anzutun.
Für umsonst und wegen der Kindheitserinnerungen wäre ich zu MF wahrscheinlich auch gegangen. :-)
14/6/07 11:04
Bah. Das (Er)Grauen. Also nee, nichtmal wegen irgendwelcher Kindheitsverwirrungen (ja, auch ich kam nicht umhin, sie in der Kindheit oft genug hören zu dürfen) würde ich mir die nochmal wieder antun...
Bleibt's für Freitag beim Limit? Oder suchst du jetzt nen Laden mit 80er Schlagermucke? *g*
14/6/07 12:09
@galen: Denk' schon. Falls Du nicht doch lieber in die "Fetenscheune" willst. Im Gegensatz zu Dir war ich ja noch nie drin, seit die so heißt. Und da und auf diversen Vereinsfeiern bist Du wahrscheinlich mit weit mehr solcher Musik in Kontakt gekommen als ich bei meinen zwei Ausflügen in seltsame Parallelwelten... insofern ist der Frotzelzeigefinger wahrscheinlich vorsichtig zu gebrauchen. :)
14/6/07 12:31
@scheibster: Solange ich nix dafür zahle und ich die Chance auf gute Geschichten habe, bringe ich den Mut sicherlich auf. Ich habe ja genügend ausgewählte, geschmackssichere Musik zu Hause als "Gegengift". ;)
14/6/07 12:32
Ich find das toll.
nehmen wir an man lernt ein mädel kennen, im alter von etwa 30 jahren, die ououo du und die sachen kennt, dann lädt man sie auf dieses Konzert ein. zusammen hat man sofort viel zu reden über die anderen Konzertbesucher, die Vergangenheit, als man diese Lieder kennenlernte und ähnliches. Spätestens bei Herz aus Glas ist die Sache dann klar.
Nur ein kleiner Tipp.
ich bin mir sicher das klappt.
gruss r.l
14/6/07 15:25
und ich dachte die eröffnen jetzt tankstellen.
ach ja. als radiokind hätte ich bestimmt auch das ein oder andere mitsingen können.
14/6/07 18:05
Ich schaute das Live-Video an.
Also, die stehen im gleichen Rufe als vielleicht Airsupply in U.S.
Jeder kennt sie und kann mitsingen aber niemand wird es zugeben das er sie mochte.
Auch nicht meine Tasse Tee aber wenn es Bier gäbe....
14/6/07 20:45
Lob und Anerkennung meinerseits! Ich kann mich noch erinnern, als ich mir damals die ZDF-Hitparade angeshen habe und die Jungs kamen.... und ich ihre Musik nicht mochte. Noch dazu mein wehrter Herr Vater, der mir immer erzählen wollte, das der Sänger und der Gitarrist etwas miteinander hatten... Als ob ich schon damals gewusst hätte, was das bedeutet!
Egal, aus heutiger Sicht, und vor allem wegen des Nostalgiefaktors wegen.. da wäre ich dabei gewesen!!
15/6/07 13:07
@macleod: Danke. Ach... meinen Recherchen zufolge haben sich Stefan Zauner und Aron Strobel zumindest miteinander als Duo unter dem Namen Deuces Wild auch eine Zeit lang versucht und sich selbst Stephen Fencer und Nora LeBorts genannt. Keine Ahnung, was die zu zweit für Musik verzapft haben, das Cover sieht eher abenteuerlich aus. Ob sie sich auch unter der Bettdecke mochten? Keine Ahnung, das ist mir auch eher egal. :)
15/6/07 13:28
@Lars: Airsupply kenne ich gar nicht. Klingt nicht, als müsste man sie dringend kennen, aber beizeiten werde ich neugierigerweise mal nachforschen. Indes: sowohl Tee als auch Bier trinke ich ja schon recht gerne. :)
15/6/07 13:29
@sabbeljan: Die Chance besteht ja trotzdem. Singt auf Tankstelleneröffnungen denn auch irgendwer?
15/6/07 13:30
@roman: "Herz aus Glas" kam als dritter oder vierter Song, da wäre die Sache dann wohl schnell klar gewesen. :)
15/6/07 13:30
Hm. Ich fand You dont know Jack auch cool.
15/2/24 15:52
Kommentar veröffentlichen
<< Home