Eine magische Stunde - Rock you like a hurricane (III)
Wie habe ich diesem Konzert im Vorfeld entgegen gefiebert, und welch bittere Gewissheit mischte sich darein. Schon im letzten Jahr hatte das Schicksal der Band auf der Kippe gestanden. Eine schwere Kehlkopfkrankheit hatte sich in die Stimmbänder von Craig B., dem Sänger, gefressen. Es dauerte Monate, ehe er wieder einen Ton traf. Doch es schien ein gutes Ende absehbar. Das neue Album wurde weit ruhiger, verzichtete auf schmerzverzerrte, schreiende Leidenschaftsausbrüche. Zurecht wurde es als Wiedergeburt gefeiert und alles schien hoffnungsvoll, vielleicht gar der Durchbruch in Sichtweite. Doch so kam es nicht. Mitte Mai, nur wenige Monate nach der Veröffentlichung, plötzlich das Aus. Komplexe Problembündel, vor allem das finanzielle Darben, hatten die Band zu einer erschütternden Auflösungs-Erklärung gebracht. Am Ende war keine Kraft mehr für einen Kampf. Eine der großartigsten, intensivsten und anrührendsten Bands der letzten Jahre baut ermattet und resigniert ihre Zelte ab. Die dicken, bärtigen Zottelschotten senken den Kopf, packen ihre Sachen, nicht jedoch ohne wenigstens sich auf den letzten Konzerten von ihren Fans zu verabschieden.
"The quickest way to end a war is to lose it", das Zitat George Orwells, ziert den Rücken der Abschieds-T-Shirts. Ich schlucke, als ich es mir überstreife. Dieses Konzert wird mein persönlicher Abschied. Und so wohnen zwei Herzen, ach, in meiner Brust, irrsinnige Vorfreude und triste Wehmut, als ich den wirklich tollen Auftritt von Bright Eyes schon nach einer Dreiviertelstunde verlasse, den ich liebend gern zu Ende gesehen hätte, und hinüberschlurfe zum Zelt, wo meine Lieblings-Schotten aufspielen werden. Es ist die Crux von Festivals, sich oft zwischen verschiedenen tollen zeitgleichen Möglichkeiten entscheiden zu müssen. Dies hier ist jedoch zu wichtig, hier gibt es keine wirkliche Frage.
Fast schüchtern betreten sie die Bühne, bauen selbst ihre Instrumente auf, mit nur wenig Hilfe von Roadies. Schüchtern winken sie ins Publikum; warmer Applaus brandet ihnen entgegen. Dann ziehen sie sich wieder zurück. Vorerst. Als sie zurückkehren beginnt die vielleicht eindringlichste, mitreißendste und berückend schönste Konzertstunde seit immens langer Zeit. Selten hat Craig B. seine Melodielinien zarter, inniger gesungen, die Hände ans Mikrophon geklammert, mitgerissen vom gewaltigen musikalischen Strudel. Mit unglaublicher Intensität und meilentiefer Empfindsamkeit walzen sie mit Riffgewittern und Monstergrooves alles nieder, schichten Klangschicht über Klangschicht, punktgenau und kristallklar, brachial und doch gefühlvoll, um im nächsten Moment alle schwarzen Wolken in lichtdurchflutete Sanftmut aufzulösen, auf herrlichen Melodien weiter zu schweben. Innere Zerrissenheit, die sprachlos macht. Die reinigende Kraft der tragischen Katharsis.
Wie im Rausch versinkt das Publikum in den Klangfluten, dem Wechselbad schüchterner Zurückhaltung und großem Pathos, trinkt den Moment, den klavierversunkenen, wunderschönen Trauerwalzer "Barriers", das irre, traumhafte Wechselbad von "Indiscretion #243", das zauberschöne Conscious life for coma boy. Mit jeder Minute wird der Jubel frenetischer, die Menge verzauberter. Und plötzlich fliegt sogar noch ein roter Slip auf die Bühne. Schweiß tropft vom Zeltdach. Fast gerührt klaubt Craig ihn auf. Es ist der erste überhaupt in der Bandgeschichte - im drittletzten Konzert überhaupt. Dass sie ihren ganz besonderen Reigen ausgerechnet noch mit Post tour pre-judgement, dem vielleicht schönsten und intensivsten Song der Bandgeschichte beenden, macht diese Stunde fast noch magischer. Am Ende ist das Publikum sprachlos, überwältigt, in Trance. "Thank you... we are... we were Aereogramme" haucht Craig B. am Ende mit zittriger Stimme. "My heart has a wish that you would not split up", saust mir eine Abwandlung des letzten Albumtitels durch den Kopf. Aber wenn schon abtreten, dann so. Das perfekte Requiem für einen (geplatzten) Traum. Eine geschlagene halbe Stunde lang donnert ein Applaus-Orkan gen Bühne. Techniker, die zum Abbau verpflichtet sind, werden ausgebuht.
Zugabeforderungen aus nicht müde werdenden Kehlen reißen gar nicht mehr ab. Draußen stehen die Fans von Hayseed Dixie, die den Abend beschließen sollen, doch sie haben keine Chance. Hier geht erst einmal keiner. Hier ist die Stunde des Abschieds gekommen, und der soll gefeiert werden . Das Publikum sprengt den Zeitplan. Mit tränenfeuchten Augen betreten die einzelnen Bandmitglieder fast schüchtern noch einmal die Bühne, heben hilflos die Hände. Sie dürfen nicht weiter spielen. Das Publikum lässt sich nicht beirren, dies ist der Abschied von den persönlichen Helden und der wird ausgekostet. Niemand will sie gehen lassen. Ein Wahnsinns-Ausstand für eine fantastische Band. Irgendwann gehen wir dann doch, erschlagen, ermattet, beseelt, tief berührt. Interpol, die ein wirklich gutes Set auf der großen Bühne hinlegen, können mich zwar durchaus begeistern, doch können sie trotzdem nach diesem gigantischen Auftritt von Aereogramme nur verlieren. Eine Konzertstunde wie diese erlebt man nur ganz selten. Ich bin froh, dabei gewesen zu sein und hoffe, dass es auch nach ihrem Hinscheiden noch viele geben wird, die sich mit neugierigen Ohren einlassen und die fantastische, origininelle und berückend großartige Musik dieser Band für sich entdecken.
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Und nicht nur dem Publikum ist es so gegangen. Als ich mich persönlich per E-Mail bei der Band für dieses Konzert bedankte, kam sogar Antwort:
"We had an incredible experience at the hurricane festival. It was the greatest reception we have ever been granted and it will be in our hearts for all time so thank you for being part of that."
27/6/07 19:53
Ole, kann nur Toll sagen.
27/6/07 23:57
Ich weiß jetzt ehrlich gesagt nicht, was trauriger ist: Das sie sich getrennt haben, das ich sie erst vor einhem halben Jahr entdeckt habe, das ich sie niemals live erleben werde....???
28/6/07 02:15
oh, das klingt wunderbar. solche erlebnisse sind kostbar:)
29/6/07 09:58
ich neige selten zum neid, aber hier ist er angebracht. hatte mich beim southside auch auf das konzert gefreut und dann gab es diese sehr ungluecklichen umstaende, die den auftritt unmoeglich machten.
29/6/07 11:04
Wirklich gut, der Bericht. Du könntest wohl beim Rolling-Stones Magazine anheuern ;-)
29/6/07 11:09
Feuchtigkeitsaugen addieren sich
zu hellen Silberrissen
und die Rückkehrwurzel
unter den Füßen
lässt die Sonne verschwinden
und dann plötzlich alles rückwärts
Grüße von Moewenglanz
29/6/07 16:29
Abschiede sind sowieso nicht so meins. Die Tränen in und zwischen deinen Textzeilen haben mich angesteckt, und jetzt sitz ich hier und heule um eine Band, die ich gar nicht so besonders gut kenne. Obendrein bin ich selbst Musikerin, und daher kommt das (Mit)Gefühl von zwei Seiten angerollt. Was für eine Gnade, Fans zu haben, die der Band zu Ehren solche Texte schreiben und einen solchen Abschied bescheren.
Umwerfend!
30/6/07 12:12
@lars: freut mich.
30/6/07 15:27
@macleod: beides?! :)
30/6/07 15:28
@kerstin: das sind sie, fürwahr.
30/6/07 15:28
@heiko: Ich hab davon gehört. Grässlich, was das Schicksal des Sanitäters betrfft. Enorm schade für alle Fans, was den Ausfall aller Zelt-Konzerte betrifft. Wäre das, was dem Southside widerfahren ist, umgekehrt in Scheeßel passiert, ginge es mir wohl haargenau wie Dir.
30/6/07 15:29
@malte: Bislang sind es ja nur zuweilen "DENKmal" bei 3sat und vor allem Plattentests.de, für die ich schreibe, aber wer weiß? Der SChritt vorwärts würde mich freuen.
30/6/07 15:30
@möwenglanz: Die Rückkehrwurzel sollte man so schnell nicht ausgraben. Es kann sich immer wieder lohnen. :)
30/6/07 16:09
@etosha: Das mit dem Musikersein kenne ich ja auch von zwei Seiten. Auch wenn keiner meiner Bands je solche Texte geschrieben wurden. Insofern dachte ich, nehm' ich das mal zum Anlass... :)
30/6/07 16:10
Ich hab Anfang Mai auf dem Karpatenhund-Tourblog zum ersten mal von Aerogramme erfahren, mich kundig gemacht und war hin und weg von "Sleep and Release" (dabei war ich eigentlich noch dabei "You, You're a History in Rust" der ähnlich gelagerten Do Say Make Think zu verdauen). »Berückend« trifft's. Und eine Woche später dann muss ich von der Auflösung lesen. Gna.
Danke für die emotionale Schilderung dieser bewegenden Stunde (bei der ich nicht dabei war, weil ich Festivals sowas von meide). Eine halbe Stunde Jubel danach -- unfassbar aber verständlich.
1/7/07 00:44
Aereogramme - irgendwie schnieft's innerlich grad gewaltig
9/7/07 14:26
Bei wem? Hier? Hurricane war generell sehr witzig. Ich bin nur drüber hinweg gekommen, die vergnüglichen Konzerte oder überhaupt das "Gesamt" zu beschreiben. Keine Ahnung, ob ich Deinen Kommentar bei der Kürze überhaupt in den richtigen Hals bekommen habe, aber bei mir schnieft's zurzeit in erster Linie, wenn ich durch den Regen schlendere und die Nase zu laufen beginnt. Alle weiteren und höchstens bedingt nennenswerten Schniefpotenziale meines Lebens wären darüber hinaus aber auch nichts, was ich auf dieser Bühne verhandeln würde...
9/7/07 14:34
ich hatte während dem lesen des textes durchgehend gänsehaut. wegen den schönen worten.. weil ich es mir so verdammt gut vorstellen kann oder weil ich es verpasst habe, dieses abschiedskonzert mitzuerleben. das schmerzt nun gerade sehr.
dankesehr für diese worte. es sind die richtigen.
F.
7/8/07 19:05
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