Rock me like a hurricane (I)
Schon von Weitem riecht es nach Holzkohle und billigem Grillfleisch. Eine schlafsack- und zeltbepackte Karawane schlurft die letzten paar Hundert Meter bis zum Einlass. Im Trott vor uns scheppern die Böhsen Onkelz blechern aus einem Ghettoblaster. Er baumelt, festgeknotet mit Zeltabspannschnur, unter einem Bundeswehrrucksack. Dutzende Bierfässer werden, mit meterweise klebrigem Panzertape auf eine Schubkarre gefesselt, durch den Schlamm geschoben. Wir staksen zwischen Matschpfützen hindurch zum großen Eingangszelt und tauschen Eintrittskarten gegen Armbändchen. Nun sind wir angekommen, betreten den abgeernteten Stoppelacker, den Campingplatz, die wilde Großstadt für ein Wochenende. Das neue Abenteuer beginnt. Eine vielleicht Fünfzehnjährige torkelt uns entgegen. "Nadja mit den Zaubertitten! Bock, mich zu ficken?", hat sie mit Edding auf ein Stück Klebeband gekrakelt und sich quer über die Brüste gepappt.
Drei rotbekopfte Halbstarke mit bierbefleckten Muskelshirts kleben ein Pappbanner an ihren windschief abgespannten Pavillon: "Tofu ist was für Schweine! Wir grillen ganze Rinder!" Ein halbes Dutzend johlender Mädchen spielt Flunkiball. Sie stehen in zwei Gruppen einander gegenüber und versuchen mit promilleschwankenden Händen eine Wasserflasche, die aus dem Matsch aufragt, mit einem Gummiball zu treffen und umzuwerfen. Im elften Versuch hat die linke Gruppe getroffen. Sofort rennen die Mädels zu einem großen Kanister, in dem wohl Vodka-Orangensaft schwappt, reißen ihn hoch und kippen das Gesöff in gierige Kehlen. Schneller, schneller. Jeden Moment könnte die andere Gruppe die Flasche umplumpsen lassen. Dann dürfen die weitertrinken, bis man selbst wieder getroffen hat - was dauern kann, wenn der Blick zu schwindeln beginnt. Und vorher sollte man doch den Löwenanteil in den eigenen Schlünden versenkt haben. die auf dem damit diese umkippt und sie selbst weitertrinken können. Ein Langhaariger mit "Led Zeppelin"-Shirt und Kinnbart sitzt selbstversunken auf einem wackligen Campinghocker am Wegrand und versucht "Stairway to heaven" zu zupfen. Der Weg ist da, wo keine Zelte stehen. Sonst gibt es keinen Unterschied. Er verfehlt unentwegt die richtigen Bünde auf dem Griffbrett, gibt irgendwann auf, spielt "Knocking on heaven's door". Bob Dylan geht leichter von der Hand.
Wir erreichen unser Ziel: Ein Teil unserer Gruppe ist schon vorgefahren, hat netterweise auch unsere Zelte schon aufgebaut, gerade das dritte Fass Bier angestochen und grillt munter. Das Fleisch brutzelt über der qualmenden Kohle, braucht aber noch ein wenig. Einige von uns haben als Chemie-Doktoranden Trockeneis besorgt, was die mitgebrachten Lebensmittel das Wochenende über kühl halten wird. Ein nicht zu unterschätzender Vorteil. Nur brauchen sie ein wenig länger, bis sie verzehrfertig sind. Der Weg von -78° C bis zur Knusprigkeit ist weit. Inzwischen sind wir schon eine Viertelstunde auf dem Gelände. Erstaunlich: Noch hat niemand "Heeelgaaa!" gebrüllt.
Wir beziehen die Zelte, schlürfen das erste frische Pils. Auf dem "Weg" bildet sich eine Menschentraube. Ein volltrunkener Schrank wankt barfuß, umhüllt von einem billigen Regencape, durch den Schlamm. Erste Krusten sind getrocknet und bröckeln ihm aus dem Gesicht. Er taumelt beinahe. Einige Umstehende feuern ihn an. Dann nimmt er Anlauf, springt ab und bauchklatscht mit einem kraftvollen Flachköpper ins brackige Gegubbel. Die Menge johlt. Er liegt mitten in einer Schlammpfütze, grinst triumphierend und nimmt einen Kräftigen Schluck aus seiner halbzerquetschten Bierdose. Dann torkelt er zurück. Hält sich an einer wackeligen Pavillonstange fest. Beide müssen ad hoc gestützt werden, um einen doppelten Zusammenbruch zu vermeiden. Der Mob ist gewachsen und feuert den volltrunkenen Schlammriesen zu neuen Taten an. Der lässt sich zunächst abermals rückwärts in den Schlamm plumpsen und nimmt einen breiten Plastikschlauch in den Mund, an dessen oberem Ende ein Trichter festgeklebt ist. Einer seiner Kumpels sticht eine Faxe-Dose an und kippt deren Inhalt in den Trichter. Bier-Rutsche! Effektmaximiertes Kampftrinken in Hochform. Einige lange Sekunden bleibt der Schlammsack reglos liegen. Dann patscht er mit den Handflächen in den Matsch, drückt sich mühsam hoch, kippt rücklings fast wieder um, schwankt bedenklich, wird abermals gestützt. Und abermals angefeuert. Und dann nimmt er, der tollkühne barfüßige Flieger erneut Anlauf, rutscht, springt, klatscht in den Modder. Das Publikum applaudiert. Wir setzen uns unter die Pavillondächer. Die Wolken verfinstern sich wieder. Das Fleisch wird allmählich garer, das Bierfass lockt. Ich durchblättere den Konzertplan. Fünfundzwanzig der knapp über siebzig Band-Auftritte will ich selbst in Augenschein nehmen. Ein stolzes Vorhaben, für das man sich ordentlich stärken sollte. Noch bleiben zwei Stunden - ein gemütlicher Start in ein aufregendes Wochenende.
[P.S.] An alle Kurzentschlossenen: Von 1:00-2:00h läuft im WDR ein Mitschnitt vom Auftritt des Esbjörn Svensson Trios bei den Leverkusener Jazztagen. Traumhafter Klaviertriojazz. Dringendst empfohlen!
Labels: Oles Musiktipps
15 Wortmeldung(en):
Wegen der zahllosen Hobbybongoisten besuche ich seit geraumer Zeit keine Festivals mehr. Hat sich die Lage hinsichtlich arhythmischer Dilettanten inzwischen gebessert?
26/6/07 09:01
Ich würde sagen: Ja. Für Lenny Castro, Trilok Gurtu, Alex Acuna und Konsorten hielt sich nahezu keiner der Festivalisten mehr. Ich habe nahezu kein windschiefes, krummbeiniges Getrommel gehört.
26/6/07 09:19
Na das klingt doch alles nach einer Menge Spaß:-))
26/6/07 09:56
Matsch ist mein Gemüse.
26/6/07 10:02
Besonders mochte ich die Stelle mit dem Trockeneis … ;-)
26/6/07 10:21
Na, da seid Ihr ja heile wieder zurück gekommen.
Gab ja zwischendurch doch sehr beunruhigende Wettermeldungen von da oben.
Bin gespannt auf die Fortsetzung und wie viele der 25 Bands Du "geschafft" hast.
("Schlammsack" ist toll.)
26/6/07 11:05
@rebella: Nahezu alle: 24 der 25 geplanten Bands habe ich gesehen. Einzig die Editors habe ich zähneknirschend fallen lassen, nachdem niemand sonst mitwollte, meine Beine weh taten und ich somit vorgezogen habe, beim Freundeskreis, der gemütlich beisammen saß, zu bleiben. Dafür konnte ich auf diese Weise Sonic Youth ganz sehen, die ich sonst nur zur Hälfte erlebt hätte... :)
26/6/07 11:22
@creezy: Zehn Kilo! Zehn Kilo! :)
26/6/07 11:24
@eigenart: Und aus dem gemüsigen Matsch ragten jede Menge Strunken.
26/6/07 11:24
@macleod: Das klingt nicht nur danach...
26/6/07 11:25
Heißer Tipp: ...Bewährt hat sich bei solchem 'Schlam(m)assel' der Einsatz eines Ostfriesischen Schlickschlittens...!
26/6/07 12:09
Stimmt, ein Kreier wäre super gewesen. Den hätten dann aber auch alle anderen haben wollen und wir hätten ihn bewachen müssen wie einen Maibaum. Leihen können hätte ich mir einen. Nur sind wir von Münster aus gefahren. Und ohne eigenes Auto hätte ich den wohl kaum transportiert bekommen. Und ins "Festimobil" hätte er auch nicht gepasst. Alles sehr unpraktisch, so praktisch das Teil auch gewesen wäre. :)
26/6/07 12:30
Gott ich liebe diese völlige Entmenschwerdung. Und bete zum Gleichen dass mir sowas nciht daselbst passieren möge ... zumindest hoffe ich dass das noch nie passiert ist.
Ich danke für die gelungene Dokumentation in Schrift und Bild. Warum kam das nicht in den Nachrichten?
Und wie schmeckt Trockeneis?
26/6/07 12:35
Wenn man sich den Namen dieser Seite genauer besieht, ist es doch sogar in den "Nachrichten" erschienen. Ansonsten war ich abgeschnitten vom Weltgeschehen und nicht im Bilde darüber, welche Medien zeitnah berichtet haben. Trockeneis schmeckt nach nix, dampft aber lustig, wenn man einen Würfel davon ins Bier ploppt.
26/6/07 12:40
Knaller Bilder, mein Gudde!
28/6/07 13:36
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