Kurz nach ihrem letzten Hauch wehten milde Windböen ums Haus, als drehte ihre Seele noch eine Ehrenrunde, ehe sie zum Himmel hinaufflog. Die Blätter in den Kastanien raschelten zum Abschied, die frischgrünen Zweige und Äste wogten sanft, als winkten sie hinterher, und aus den Blütentrauben rieselten weiße Blättchen. Vielleicht war dies ein letztes Zeichen, ein Adieu-Sagen. Ein stiller Gruß, auf den man heimlich hofft. So, wie angeblich in der Sekunde des letzten Atemzugs mitunter Uhren stehengeblieben sind, Blumen all ihre Blätter von sich geworfen haben und verwelkt sind, der Strom im Haus ausgefallen ist. Man liest so etwas immer wieder, und vielleicht hängt es mit der Hoffnung zusammen, dass da Mehr ist, dass etwas bleibt, auch wenn das Leben geschwunden ist, dass die Verbindung nicht abreißt, auch wenn sie unsichtbar geworden ist und der einst lebendige Körper sich nie wieder bewegen wird, nicht zurückkehrt, als sei nichts gewesen, die gemeinsame Geschichte beendet ist und an diesem Ort, in diesem Leben keine Fortsetzung mehr bekommen wird.
Spätestens, wenn es vorbei ist, wenn nichts das Leben zurückbringt, fühlt sich die gemeinsame Zeit plötzlich zu kurz an, mögen es auch fast hundert Jahre gewesen sein, und der Reflex erwacht, zu sagen, ich wäre gern bei ihr, dabei ist die einzige Region, in der wir sicher zusammentreffen könnten, die Vergangenheit, das Nichtsein, das einst gewesen ist, das nur noch verblassend in der Erinnerung aufschimmert. Und plötzlich, machtvoll, drängen die vermeintlichen Versäumnisse ins Bewusstsein, all die eigenen Wünsche, die an die Gegangene geknüpft waren. All die schönen, innigen Dinge, die man noch sagen wollte, für die man aber zu spät gekommen ist, weil man das mögliche Ende der Geschichte ausgeblendet hatte und den Zeitpunkt immer wieder verpasste. All die Dinge, die man gern noch gemeinsam verwirklicht hätte, die Treffen, auf die man sich gefreut hätte, und die nicht mehr sein werden. Die aufheulende Hilflosigkeit, weil man selbst eben nicht in der Hand hat, zu entscheiden, wann der Abschied sein wird. Weil er an egal welchem Zeitpunkt unvorbereitet und gefühlt zu früh kommt, egal wie deutlich die Anzeichen waren. Bis zum letzten Atemzug bleibt die Hoffnung, sie möge sich noch einmal berappeln, zu neuer Stärke finden, freudig am Leben teilhaben, auch wenn vieles längst aus ihrem Leben geschwunden war, nach fast hundert Jahren. Die alten Freunde und Nachbarn? Längst gegangen. Das Augenlicht? Zu matt, um noch lesen oder fernsehen zu können. Zu schwammig geworden, um überhaupt noch die Spielhütchen auf dem Mensch-Ärgere-Dich-Nicht-Brett zu erkennen, so gern sie dies Mal um Mal gespielt hat. Auch die Strickmaschen waren kaum noch erkennbar, sodass sich auch das Lieblingshobby vor Jahren bereits aus dem Leben verabschiedet hatte. Klapprig, zittrig geworden, musste der wachgebliebene Geist den Abschied der Kraft, das Erschlaffen erkennen, während er selbst sich noch stark ans Leben klammerte, wach, rege. Doch blieben so gleichförmige Tage auf dem Sofa, das Kinn in die Hand gestützt, in ewigen Rückwärtsschleifen, hin zu längst Gewesenem, gerade weil im Jetzt nur noch wenig mehr passierte als Essen, Schlafen, Waschen, Kaffeetrinken. Man hätte es ihr anders gewünscht.
Und doch oder gerade deswegen bleibt die Trauer darüber, dass die Gegangene alles Künftige verpassen wird, Pläne unvollendet lassen muss. Der Leib liegt reglos da, wird fortgebracht, ein letztes Mal schön geschminkt, unter Stoff in Holz gebettet, während im Küchenschrank noch das Graubrot liegt, das sie sich sonst zum Abendbrot geschmiert hätte, während in der Wohnzimmervitrine die halb gegessene Tafel Schokolade wartet, von der sie nie wieder ein Stück abbeißen wird. Der Roman mit Lesezeichen wird kein Stück mehr vorankommen - auch wenn er das selbst zu Lebzeiten nicht mehr gekommen wäre, zu matt, zu milchig, zu verschwommen waren die alten, müden Augen ja bereits geworden. Die Medikamente sind noch da, in Teilen ungenommen und sinnlos geworden, die Brille, durch die kaum jemand sonst sehen kann, die vielen, kleinen Gegenstände, die man kaum berühren mag, die man noch weniger wegräumen mag, als wäre es Diebstahl, der gesamte erstarrte Raum der Wohnung, den man am liebsten so bewahren möchte wie er ist, auch wenn dies nur leblosen, starren Stillstand bedeutete, in den das vorherige Leben nie zurückkehren wird. Vielleicht gerade deswegen ist der Wunsch so rege, dass die Seele nur wandert, ihren vorherigen Ort verlassen hat und die Verbindung nun in ein neues Versteck geht, unsichtbar, vielleicht fern, vielleicht nah. Hin zu einem Ort, wo es ihr hoffentlich gut geht, in dessen Nähe vielleicht all die sind, die sie zu Lebzeiten selbst lassen musste, und von wo aus sie kleine Zeichen zurück ins Leben, auf die Welt, schicken kann - vielleicht, indem sie die Blüten der Kastanien tanzen lässt, die Baumkronen bauscht, so als winke sie. Und wir winken zurück, im Angedenken, flüstern all das Ungesagte in den Wind, in der Hoffnung, dass er es zu ihr ins Versteck tragen wird und noch ein wenig mitbekommt vom Leben, das sich fortsetzt an den Orten, wo sie ihre Geschichte gelebt hat, die mit dem letzten Atemhauch das Ende fand. Und in die milden Böen hinein fällt Regen.