Mittwoch, November 08, 2006

Zwischen den Texten, abseits der Bühne. Pause im Prinzipalsaal bei der Lesung von Max Goldt

Aus der Seitentasche seines grauen Filzmantels friemelt er seine Packung Filterlose hervor und schüttelt eine heraus, die er mit einem Streichholz knisternd ansteckt. Er zupft sich an der Hornbrille, streicht zwei Haarsträhnen aus der Stirn zurück in seinen Querscheitel und lässt vielschichtige Rauchwolken zur Decke des Foyers schweben. Hinter ihm klebt mit Tesafilm ein „Bitte nicht rauchen“-Schild an der Eingangstür. Doch es hängt verkehrt herum. Er windetdie Glut seines Glimmstengels im mitgebrachten Jackentaschenaschenbecher „aus gebürstetem Edelstahl“; dann schiebt er die Hornbrille auf die Nasenspitze, blickt seine Begleitung über den Rand hinweg an und erhebt mit gerunzelter Stirn seine Stimme: „Ich stimme Dir zu: Die Alltagsbeobachtungen von Max Goldt weisen eine stupende Skurrilität auf und sind sicher von einiger Scharfsinnigkeit. Dennoch möchte ich hier anmerken, dass Goldts Anekdötchen doch einiges trennt von bedeutender Literatur. “

Er zieht mit einem Blick, der wohl bedeutungsschwanger wirken und universalgebildete Überlegenheit suggerieren soll, an seiner Zigarette. „In seinen Werken fehlt der plurale Text im Sinne Roland Barthes’. Und auf den kommt es an, will man die Qualität von Literatur bemessen. Wir haben es doch erst gerade wieder im Seminar erörtert. Hier, bei Goldt, klingt vieles nett, aber es mangelt an vielschichtigen Sinnstrukturen, die das Re-Reading von verschiedenen Perspektiven aus ermöglichen… ah, danke!“ Ein Dritter schiebt sich hinzu und hat ihm ein Glas Rotwein von der Theke besorgt. Er klemmt seine Filterlose zwischen den Lippen ein und hantiert hektisch unter dem Filzmantel hindurch an seiner Hosentasche, um unter Geklimper ein paar Münzen hervorzuzaubern. Der Dritte hebt nun an, dass die Texte auch im Sinne der Erzähltheorie von Gerard Genette hinsichtlich ihrer diegetischen Struktur zu wünschen übrig ließen. Amüsiert habe er sich dennoch.

Ich, der ich nur unfreiwillig auf dem Weg zur Toilette Zeuge seines Geschwurbels wurde, beschleunige meinen Schritt. Zwei Schritte weiter steht ein nackenrasierter Schrank neben seiner Freundin: „Und den Typen findest Du so witzig? Da fand ich Atze Schröder letztens doch viel witziger!“ Auf der Treppe treffe ich David. David liest seiner Freundin jeden Abend vor dem Schlafengehen Texte von Max Goldt vor und berichtet mir schmunzelnd, wie seine Freundin nun – Pawlowscher Reflex – schon inmitten des zweiten Textes in wohligen Schlummer gefallen ist. Es ist schon ihre siebte Max Goldt-Lesung, doch hat sie selten mehr als die ersten drei Texte wach erlebt. Inzwischen ist sie wieder wach. Ein, zwei Texte wird sie wohl auch nach der Pause genießen können.

Das Gros der zighundert Gäste drängt sich an die Theke, um neuen Vorrat an Getränken einzuheimsen und auch, um denjenigen, die sie näher oder flüchtig kennen, zu zeigen, dass sie auch hier sind. Manche freuen sich gar, sich zu sehen. Andere wundern sich: „Dich hätte ich hier nicht erwartet.“ „Wieso?“ „Ich hätte nicht gedacht, dass Dir so was gefällt. Du bist doch sonst nicht so für die komische Literatur.“ „Ich habe auch eine sehr humorvolle Seite.“ Viele scharen sich um die Büchertische, vervollständigen ihre Sammlung, besorgen sich neues Lesefutter, grübeln, welches Werk sich wohl zum Einstieg lohnen könne. Andere rümpfen die Nase: Die alten Ausgaben von Haffmanns waren schöner als die neuen bei Rowohlt. Gerade die Klappentexte sind schlapper. Und kaufen müssen sie nichts, sie haben schon alles. Einer erst jetzt: Ein Zutzelbartträger hat sich das Gesamtwerk auf einen Schlag unter den Nagel gerissen und wankt, um gut hundert Euro leichter, mit windschiefem Buchstapel zwischen Bauchansatz und Kinn zurück zu seinem Platz. Er wird sich jedes Exemplar einzeln signieren lassen nach der Lesung, das weiß er schon jetzt.

16 Wortmeldung(en):

Anonymous Anonym meint...

Max Goldt ist einer meiner Helden. Wie sagt er so schön: "Fuck Alltagsbeobachtungen".

8/11/06 15:09

 
Anonymous Anonym meint...

Goldt-Lesungen sind schon nur seiner Blicke ins Publikum wegen ihr Geld wert.
Schade finde ich, dass sein schönes Wort "Gunxmürfl" immer noch keinen Google-Hit ergibt (was sich hiermit vielleicht ändert?).

8/11/06 16:42

 
Anonymous Anonym meint...

Wenn Onkel Max das mit dem pluralen Text gewußt hätte, hätte er sicher noch schnell einen dazu geschrieben. Auffällig in dem Zusammenhang, dass der Wikipedia-Eintrag von Roland Barthes nur ein Fünftel dessen umfasst, was über Max Goldt zu lesen ist. Da sollte sich der Hornbrillenträger doch mal erbarmen ...

8/11/06 19:50

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@kreuzberger: Sehr richtig. Fuck lässt sich tendenziell ja berechtigterweise sogar einer ganzen Menge Dinge voranstellen. :)

8/11/06 19:55

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@nasobem: Das ließe sich auch noch umfassender regeln. Ich denk mir mal was aus. :)

8/11/06 19:56

 
Anonymous Anonym meint...

„In seinen Werken fehlt der plurale Text im Sinne Roland Barthes’. Und auf den kommt es an, will man die Qualität von Literatur bemessen."

kennick doch irnswoher!

"Um zum vollen Verständnis der Dichtkunst zu gelangen, müssen wir uns zuerst mit den Versformen, dem Reim und der Ausdrucksweise vertraut machen. Danach stellen wir uns zwei Fragen. Erstens: Wie groß war die Kunstfertigkeit, mit der die Absicht des Gedichts erreicht wurde? Und zweitens: Wie bedeutend ist diese Absicht? [...] Man braucht nur die Perfektion des Gedichts auf einer horizontalen Linie zu bestimmen, während man seine Gewichtichkeit auf einer senkrecht darauf errichteten Linie einzeichnet. Die dabei abgesteckte Fläche ergibt den Maßstab für die Größe des Gedichts."

russjerissen! oder, kollege?

8/11/06 20:23

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@simplex: Der Artikel zu Roland Barthes bei Wikipedia ist schon erschreckend klein. Und das bei einem, der einen der ungewöhnlichsten Wissenschaftlertode gestorben ist - denn wer wird schon von einem Heißmangellieferbulli plattgemangelt?

Vielleicht mag ihn die Hornbrille ja komplettieren. Auch wenn ich nicht wüsste, wo ich ihn treffen könnte. Zumal ich ihm mit Vorliebe dann auch eher ausweichen würde. Solchen Menschen setze ich mich sehr ungern aus. :)

8/11/06 20:24

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@undundund: Ich habe ja früher mal das numerische Verswortendgruppenbuchstabenverhältnis berechnet. :)

8/11/06 20:26

 
Anonymous Anonym meint...

Ich bin ja kein Intellektueller sondern Bwler.
Ich bin Kaufmann, ich kenn nur Zahlen. Deswegen verschließt sich mir wohl auch so in hohem Maße die intellektuelle Auseinandersetzung über Texte. Ich nehme Texte und Autoren animalisch gewöhnlich: Entweder sie sind gut und geben mir etwas, oder sie gehören nicht ins Regal. Basta und Finis!

8/11/06 22:27

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Ich bin kein Kaufmann. Doch mag ich, wenn gute Texte nicht selbstgefällig zerredet werden. Meinetwegen dürfen auch Bücher in Regalen stehen, die ich nicht mag. Aber niemand soll sich wundern, wenn ich sie nicht kaufen werde. :)

8/11/06 22:35

 
Blogger F meint...

Ich gehe davon aus, dass Herr Goldt sein Publikum sehr genau kennt. Er müsste es hassen.

9/11/06 10:30

 
Anonymous Anonym meint...

ich mochte seine lesung nicht, er war so routiniert, wirkte humor-wie lustlos, da litten auch die texte.

im januar aber, da liest harry rowohlt wieder in düsseldorf, da freu ich mich schon seit drei monaten drauf!

9/11/06 11:05

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@lu: das ging mir genauso. dazu aber in kürze hier noch ein eigener text. :)

9/11/06 11:37

 
Anonymous Anonym meint...

@ und³

Durchaus, Herr Kollesche. Verbundenen Dank!

9/11/06 13:43

 
Anonymous Anonym meint...

Warum der Typ sich gleich die ganze Packung Kippen anzündet, verstehe ich nicht ganz. Schmeckt doch sicher ekelhaft.

9/11/06 17:46

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Bestechend scharfer Blick! Ob sie einzeln besser schmecken, wird irgendwer beurteilen mögen. Der Massenbrand ist zumindest gelöscht.

9/11/06 18:22

 

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