Dienstag, Mai 22, 2007

Erinnerungen an Peter (I)

Leben, das sich versteckt, hinter dicken Mauern, zugezogenen Vorhängen oder dunklen Brillengläsern, bleibt vielfach unbemerkt - fast ohne gespürt zu werden, ohne Eindruck zu hinterlassen. Das Unscheinbare entgleitet dem Blick und den Erinnerungen. Leben, von dem niemand weiß, oder nur wenige, und das manchmal unbemerkt verlischt. Verstecktes Leben stirbt oft einen stillen Tod. Vielleicht vergehen Wochen, bis ein Zeigefinger zaghaft den Klingelknopf drückt.

Und die Ohren des Schellenden sind dann die Einzigen, die hören, wie der Schlegel ans Metall rattert. Und nur vielleicht wird es jemandem merkwürdig vorkommen, dass niemand öffnet. Leben, das sich versteckt, gibt kaum Zeichen von sich. Und wie sollten Zeichen vermisst werden, die es kaum gab? Vielleicht ist der Lebenshauch schon wochenlang entwichen, ehe die ersten Sorgenfalten sich auf Stirnen kräuseln, ehe eine Träne fließt, ehe sich jemand findet der vermisst.

Peter starb still. Vor ziemlich genau fünf Jahren, und er erlebte nur fünfzig Winter. Allein in seinem Haus am Rande eines ostfriesischen Dorfes. Es war von hohem Gras umwuchert. Er hatte den Rasen nie gemäht, die Büsche nicht geschnitten. Seine Fensterscheiben waren stumpf. Feine Dreckpartikel, angeschwemmt in tausenden verregneten Tagen und hängen geblieben wie Treibgut am Strand, trübten den Blick nach draußen. Einen Blick, vor dem er sich beinahe zu fürchten schien. Seine Mutter, die er vor der Welt noch strenger versteckte als sich selbst, die ich nie kennen gelernt habe, war einige Zeit vor ihm gegangen.

Immer wieder zog er sich zurück vor der Welt, vor dem Brausen des Lebens, so schwach es im entlegenen Ostfriesland auch nur hallen mag. Vielleicht wünschte er sich, anders zu sein, munter, kraftvoll, beliebt, doch er hatte Angst vor dem Ungestüm und der Nähe der Menschen, davor, in Abhängigkeiten zu geraten, vor dem Verlust der Freiheit. Erst einige Jahre vor seinem Tod bekam er sein erstes Telefon. Widerwillig nur. Es ist nicht, dass niemand sein Leben bemerkt hatte. Doch immer unscheinbarer wurde es. Immer schwächer drangen Lebenszeichen von ihm durch seine trüben Fenster und den wild wuchernden Garten zur Außenwelt. Spätestens, nachdem er dort völlig allein wohnte. Zu viel Kraft schien Kontakt ihm abzuverlangen, zu scheu machte ihn die eigene Traurigkeit und seine schleichende Krankheit, die er gegen Ende immer stärker selbst vergaß und missachtete. Am Ende hörte fast niemand mehr etwas von ihm. Und niemand traute sich, ihn zu besuchen. Vielleicht hatte man ihn auch vergessen, zumindest zeitweise. Geahnt hatte niemand den Ernst der Lage. Sonst hätte man doch viel eher. Schrecklich, wie so etwas passieren kann. Und so schlugen sie die Hände über der blassen Stirn zusammen oder hielten sie vor ihre entsetzten Münder. Zu spät, um noch etwas retten zu können, um ihr Gewissen zu beruhigen.

Leben, das sich versteckt, gibt kaum Zeichen von sich. Und wie sollten Zeichen vermisst werden, die es kaum gab? Und so war der Lebenshauch schon wochenlang entwichen, ehe die ersten Sorgenfalten sich auf Stirnen kräuselten, ehe eine Träne floss, ehe sich jemand fand, der vermisste. Drei Wochen hatte er tot in seiner Wohnung gelegen. Vielleicht hatte jemand angerufen und nur eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Doch niemand hatte diesmal das Schweigen verstanden. Das Schweigen, das Tod bedeutete. Ein Tod, der in Vergessenheit geraten ist, der nur wenige Spuren hinterlassen hat. Manchmal, wenn es still ist, oder wenn ein bestimmtes Lied aus den Boxen weht, denke ich an ihn. An die gemeinsame Zeit, die wenigen Jahre unseres ungleichen Kontakts. Und nun, wo es schon ein halbes Jahrzehnt her ist, werde ich ein paar Geschichten erzählen, damit wenigstens diese der Welt erhalten bleiben, in der die Erinnerungen an ihn schon fast verblasst sind.

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9 Wortmeldung(en):

Anonymous Anonym meint...

Ja, es ist gut, daß du das tust.

22/5/07 22:00

 
Anonymous Anonym meint...

Es ist nicht so, dass ich da nicht zustimmen würde, nein, ganz im Gegenteil....

Und irgendwie freue ich mich auf die kleinen Geschichten aus Peters Leben. Er sich wahrscheinlich auch.

22/5/07 22:05

 
Anonymous Anonym meint...

you are breaking my heart, mein lieber ole, peter kommt nun gleich nach wulnikowsky. wie geht es dem eigentlich (habe ich aus zeitmangel etwas von ihm verpasst? ich hoffe nicht!)

23/5/07 00:08

 
Anonymous Anonym meint...

Eine wunderbare Idee, und irgendwie auch eine große kleine Geste. Ich freu mich ebenfalls auf diese Geschichten.

23/5/07 08:49

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@opa: Ich glaube, auch.

23/5/07 17:10

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@FrauH: Ich muss noch ein wenig überlegen, wie ich den Geschichten ihre richtige Form gebe. Es soll schließlich die witzigen wie traurigen Momente einfangen, das Groteske in mancher Tragik, und nicht in rührseliger Tristesse versinken. Und vielleicht freut er sich dort oben ja auch. Selbst wenn er zu Lebzeiten nie einen Computer berührt hat. :)

23/5/07 17:17

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@bitts: Wulnikowski erkundet derzeit seinen neuen Balkon und wird bald davon berichten. :)

23/5/07 17:18

 
Blogger mq meint...

Allein, dass er das Gras nie geschnitten hat, zeugt von seiner Größe. Ich bin gespannt auf ihn.

25/5/07 09:37

 
Anonymous Anonym meint...

Sehr berührend, sehr lebensbejahend und wenn es donnert, hören wir den Herrn Peter lachen. Ich freue mich auch auf die Petergeschichten. Falls ich es verpasse ... wink mir mal zu.

7/6/07 21:07

 

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