Donnerstag, April 26, 2007

Zufall kommt vor dem Fall

In solchen Fällen wird Stochastikern schwindelig. Doch es gewinnen ja auch Menschen den Lotteriejackpot. Verschwindend wenige, aber. Noch immer frage ich mich: Wäre er aus Terracotta gewesen, was dann? Es ist eine unsinnige Frage, denn er war aus Bast geflochten. Doch wenn. Und wenn sie vielleicht dann nicht auf das Auto gewartet hätte, um es passieren zu lassen, sondern noch vor der Stoßstange entlang geeilt wäre und zwei Schritte früher dortgewesen wäre. Es ist hypothetisch, ich weiß. Es ist nicht dazu gekommen. Es hätte auch bei mir anders kommen können, aber ich saß im Knautschlackledersessel beim Friseur. Meine Haare hatte die Friseurin bereits gewaschen (Kopfhautmassage inclusive). Der Nacken und die Schläfen waren bereits mit dem Langhaarschneider getrimmt. Gerade war sie dabei, das Haupthaar zu stutzen. Ich selbst rang mit verblichenen Erinnerungen, die unwillkürlich erwachten und wieder durch die Nervenbahnen sprudelten. Mémoires involontaires. Es war ihr Duft. Ralph Lauren. Trotz pollenverschnupfter Nase schnitt sich die Essenz in die Riechzellen, vor allem ins Vomeronasalorgan. Derselbe Beruf, derselbe Duft wie damals. Reiz - Reaktion. Keine Chance. Jedes Mal wieder. Verknüpfungen, die vielleicht unlösbar sind. Vieles wird spontan vor dem inneren Auge wieder lebendig. Eine Zeit, die inzwischen längst egal geworden ist, aber an welche die spontanen Erinnerungen immer noch verwirren können. Ein kurzes gespenstisches Frösteln, zusammenzucken, ein eisiger Hauch, der nach Vergangenheit riecht und alten Staub aufwirbelt. Damals. Und dann zuckte ich erneut zusammen.

Pock! Padautz!

"Oh mein Gott!", kreischte die Hauptfriseurin, schlug die Hände über ihren gesträhnten Locken zusammen und stürzte aus dem Laden. Auch meine Friseurin ließ die Schere fallen. Ich hatte es durch den Spiegel gesehen. Man sieht, während man gedankenverloren hindurch und damit hinter sich blickt, viele Menschen am Schaufenster vorbeigehen. Manche haben einen Hund dabei. Andere tragen Einkaufstüten oder eine Mütze. Sie tragen knappe Trägertops, T-Shirts, rot, gelb, beige, weiß. Sie pirschen nach links, sie schlendern nach rechts. Manche werden überholt. Aber die wenigsten fallen um. Umfallen auf einer Straße gehört zu den stochastisch unwahrscheinlichsten Aktionen. Und doch hatten sich die Vorgeschichten so verzwirnt, die Ereignisse derart verheddert, dass das Unwahrscheinlichste geschah. Fast schemenhaft sah ich irgendetwas hinab sausen und die Frau in ihrer grauen Bluse mit dem champagnerfarbenen Rock, die erst ging wie viele andere gehen und die ich gar nicht bewusst wahrgenommen hatte (ich war noch in den gedanklichen Auswirkungen des Duftes gefangen), und die urplötzlich, wie vom Blitz getroffen, zu Boden stürzte. Doch es war kein Blitz. Es war ein Blumentopf.

Wäre die Windböe in einem anderen Augenblick durch das offen stehende Fenster gestrichen, wer weiß, was dann. Es ist egal, denn es kam, wie es kam. Im dritten Stock war es. Erst stürzte der Topf, dann stürzte die Frau. Volltreffer. Und was für ein Glück im Schrecken sie hatte. Denn er war nur aus Bast geflochten, mit Stiefmütterchen darin, die nun nebst Erdkrümeln über den Bürgersteig gepulvert lagen. Er war nicht aus Terracotta. Wenn, wäre er schneller gefallen, und es wäre vielleicht auch nur der Schreck geblieben. Doch wäre es ein Steingutblumentopf gewesen und hätte der Wind auch diesen erwischt und er wäre von der Fensterbank gepurzelt, direkt auf den Kopf eines wildfremden Bürgersteigflaneurs. Womöglich hätte die Frau, die vielleicht diese Wohnung bewohnt und das Fenster vergessen hatte zu schließen und nur kurz einkaufen, vielleicht aber auch bei der Arbeit war oder bei einer Freundin zum Kaffee trinken, womöglich hätte sie dann die Staatsanwaltschaft gegen sich gehabt und eine Anzeige wegen fahrlässiger Körperverletzung oder gar Tötung. Was nicht alles passieren kann, ohne dass man es möchte und ohne dass man damit rechnet. Der Zufall kann in jeder Ritze lauern. Aber nicht immer kommt es ja zum Schlimmsten. Und hier blieb der Schreck. Vielleicht eine kleine Beule. Verwirrte Nervenbahnen. Zitternde, butterweiche Knie. Nichts Arges. Ein unwahrscheinlicher Schock. Und zerstobene Blumenerde auf dem Trottoir. Die Hauptfriseurin half der Dame auf und lud sie auf einen Cappuccino auf Ladenkosten ein. Noch sicherlich zehn Minuten pustete die Dame und atmete schwer, aber sie lachte schon wieder und war um eine Geschichte reicher, die sie am Nachmittag und am Frühabend und in den folgenden Wochen ihren Freunden und Verwandten erzählen konnte. Und meine Friseurin hatte ihre Schere wieder aufgeklaubt und schnitt weiter und dünnte aus und erzählte von den Grillvorhaben am ersten Mai, und ich hörte zu und versuchte den Duft zu ignorieren und schmunzelte darüber, dass auch ich eine neue Geschichte zum Erzählen hatte.

18 Wortmeldung(en):

Anonymous Anonym meint...

Die Haare beim Friseur gewaschen kriegen zählt meiner Meinung nach ohnehin zu den unterschätztesten quasi-sexuellen Vergnügungen, die man einfach so nebenbei kriegen kann.

Ich hatte zu Passauer Zeiten ne Friseurin, die war einfach eine Wucht. Nicht nur, dass sie ihr Fach schlichtweg grandios verstand, nein, sie schien immer zu wissen, ob ich reden oder stillsein wollte, und je nach meiner Gemütslage war sie entweder eine prima Plauderpartnerin oder hielt eben einfach die Klappe und schnippelte vor sich hin. Aber das Beste waren ihre Haarwaschkünste. Die Gute war, wie es so schön heißt, von flamboyant-barockem Wuchs, sie drückte ihren wunderbaren Busen immer mit einer solchen Hingabe gegen meine Schultern und bearbeitete dabei mit solcher Beflissenheit meine Kopfhaut, dass ich mir oft auf die Zunge beißen musste, um nicht vor Lust und Wonne laut zu stöhnen.

Wollte ich aber gar nicht sagen. Eigentlich bin ich nur ein bisschen ängstlich gerade, weil ich hab heut auch noch nen Friseurtermin, und jetzt trau ich mich nicht mehr da hin, aus lauter Angst, die Stochastik könnte nochmal zuschlagen.

26/4/07 14:52

 
Blogger Johnny3000 meint...

Mein Friseur in Roskilde kommt aus dem Irak, kennt den Krieg, hat eine Narbe am Arm, die ihn nur wenige Stunden am Tag arbeiten lässt, eine Schwester in Köln und redet mit mir Deutsch, obwohl ich das nicht will. Am Ende unserer ersten Begegnung sagten wir uns unsere Namen, und ich gab zu viel Trinkgeld. Mein Friseur zu Hause war Nachbar und Freund von Helmut Rahn. Am Ende wollte er dem Fußballer nicht mal mehr die Haare schneiden und verbot ihm den Zutritt zum Salon.
Bist Du Stammkunde bei einem Leeraner Friseur?

26/4/07 15:16

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@ratze: Ich weiß genau, wovon Du sprichst, und - es ist schon einige Jahre her - ich habe vor Jahren noch weit betörendere Erlebnisse beim Haareschneiden gehabt: Mit der Person (sie war zu der Zeit sogar Deutschlands beste Jungfriseurin), an die mich der gestrige Duft erinnerte, mit der mich nichts als eine inzwischen nahezu völlig egal gewordene, gut ein halbes Jahr währende Vergangenheit verbindet, die damals aber irrsinnig aufregend und am Ende unsagbar bitter war. Aber das ist Schnee von gestern und der ist schon seit mehr als nur einem Frühling endgültig weggetaut. :)

26/4/07 15:58

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@jök: Wo zu Hause? In J'Fehn? Und wieso wollte der Helmut Rahn die Matte nicht mehr scheren?

In Leer hatte ich früher StammfriseurInnen. Inzwischen nicht mehr. Habe mir seit Jahren dort keine Haare mehr schneiden lassen...

26/4/07 15:59

 
Blogger Johnny3000 meint...

Es ging um einen anderen Mann.

26/4/07 17:07

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Ach watt. Und um wen? :)

26/4/07 17:11

 
Anonymous Anonym meint...

haarwaschmassage! endlich outen sich hier mal ein paar herren. dann kann ich ja auch. das waschen ist das beste am friseurgang.

und welch angenehmer zufall, dieses weblog zu kennen.

26/4/07 18:02

 
Blogger Johnny3000 meint...

Soll ich hier jetzt tratschen, oder was? Wir sind doch nicht beim Friseur.
Nun gut, der andere Mann war auch Nachbar, so wie der Rahn. Nun heißt es, was ich nicht belegen, beschwören und auf keinen Fall als wahr bezeichnen will, dass der Fußballer jenen frisch verheirateten Mann oft zum Trinken ausgeführt hat (komplett platonisch die Beziehung der beiden). Die beiden waren nicht nur einmal miteinander unterwegs, sondern so oft, dass die junge Ehe des Nachbarn in die Brüche ging. Das fand der Coiffeur nicht gut.

26/4/07 18:50

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

All watt van Fehn kummt... ;)

26/4/07 19:14

 
Blogger hans meint...

in der neubrückenstraße in münster gibt es einen urigen friseur, modesalon koch! ist unbedingt einen besuch wert, dies einrichtung macht denen so schnell keiner nach...
da sind plötzlich die riesigen plastikrosen in der ecke zwischen zwei großen spiegeln nur noch beiwerk zu einem skurrilen sammelsurium von reliqiuen aus einer vergangen geglaubten zeit...einzigartig! (auch wenn es dort keine hübschen frisösen gibt, nur männer jenseits der 50.. ;-)

27/4/07 02:33

 
Blogger ChliiTierChnübler meint...

Ralph Lauren? Die Damendüfte find ich aber schon ein bisschen Oldfashioned. Ödipus?

27/4/07 10:09

 
Blogger stilhäschen meint...

Ich glaube ja, einst in Physik gelernt zu haben, daß die Fallgeschwindigkeit zweier unterschiedlicher Gewichte gleich ist, so es sich nicht bei einem von beiden um eine Feder handelt. Aber das nur nebenbei.
Hätte, wäre, wenn. Gut, daß es anders kam. Und weicher.

28/4/07 11:39

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@sabbeljan: Der Zufall kann - manchmal - durchaus auch angenehme Dinge bewirken. Fühl Dich unter Freunden. ;)

28/4/07 12:27

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@chlii: Ich habe keine Ahnung, wie alt der Duft ist. Meine Ex trug ihn vor vier, fünf Jahren. Ob der nun oldfashioned ist oder nicht, kann ich nicht beurteilen. Mit Ödipus hat es indes die Schnippelbohne nix zu tun. Meine Mutter hat diesen Duft nie getragen.

28/4/07 12:31

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@Hans: Ich habe einen sehr ähnlichen Friseursalon direkt unter unserer Wohnung. Aber Modesalon Koch ist noch nen Tick tantiger. Sehr cool, auch wenn ich bislang noch innere Hürden habe, da auch mal hinzugehen. :)

28/4/07 15:41

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@stilhäschen: Ich bin nie der Physikobermacker gewesen, aber ich meine, dass es zumindest minimale Unterschiede gibt, insofern wir uns nicht im Vakuum befinden. Und so niedrig war der Luftdruck draußen nicht, und so wichtig ist es ja eigentlich auch gar nicht, generell, oder? :)

28/4/07 16:08

 
Anonymous Anonym meint...

Ich wollte auch die Fallkonstante ins Feld führen, aber das haben ja meine LeuteInnen bereits erledigt.

Zum Duft der Frauen schweige ich besser auch, das ginge zu weit.

Nur ein Tipp für meinen jüngeren Bruder Rationalstürmer:

Man kann natürlich auch selbst ein wenig mitarbeiten. Der eigene Ellenbogen auf der Lehne des Friseurstuhls befindet sich nämlich genau auf richtiger Höhe. Mit etwas Geschick und wenn sie eine helle Hose trägt, ist nach einer Weile das Ergebnis sogar sichtbar.

29/4/07 00:43

 
Blogger mq meint...

Die Geschichte trifft ins Mark meiner Phobie eines beiläufigen Todes, so wie ihn einst Ödön von Horvath ereilte, den ein herabfallender Ast auf der Champs-Elysées den Schädel zertrümmerte.

30/4/07 09:40

 

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