Donnerstag, Februar 23, 2006

Zerschnittene Einsamkeit

Seidig glänzende Schnurrbarthaare struppen unter seiner krummen Nase. Eins davon hat sich gelöst, ist abwärts getaumelt und hat sich über die spröden Lippen auf seine Zungenspitze verirrt. Er spuckt feuchte Luft, um es loszuwerden. Er ist der Friseur. Nicht Crane, keine Filmfigur. Er ist der Friseur. Der Herrenfriseur, um genau zu sein, Doch seit Langem ist er eher nur noch der Sitzer. Ist man noch Friseur, wenn man nicht mehr frisiert? Wenn man noch frisieren kann, aber niemand mehr hereinschneit, den Hut lüftet zum Gruß und sich auf den drehbaren Knautschlackleder-Drehschemel vor dem Spiegel niederlässt? Nur den Nacken ausrasieren. Bitte nicht mit der Schere. Wenn Sie den Bart vielleicht noch ein bisschen. Nichts. Den ganzen Tag sitzt der Friseur auf dem mittleren seiner drei Wartestühle. Der Sitzer. Seine Hände, etliche kleine Scherenschnittnarben an der linken Hand, ineinander gefaltet. Die Augen ein wenig traurig, die Schultern schlaff. Die Hoffnung in seinem Blick ist alt und müde geworden. Ihr Glanz ist abgeblättert.

Er seufzt, zündet sich eine Zigarette an. Fast träge schwebt der dicke Qualm an seiner krummen Nase vorbei zur Zimmerdecke. Neben dem Dröhnen der LKWs vor seinem kleinen Laden ist das leise Knistern der Tabakglut, das jeden seiner Lungenzüge begleitet, das einzige Geräusch um ihn herum. Er fühlt sich fremd im heute. Alles ist so anders geworden. Den Barbier gibt es nur noch auf der Opernbühne, und auch der Friseur darf sich nicht mehr so nennen, wenn er seinem Laden keinen Kundenschwund einbrocken möchte. Und nicht nur das. Heute braucht man fesche Friseurinnen mit atemberaubend zerzaustem Haarschopf, abgedrehte Accessoires, die neuesten Produkte, hochmoderne Designer-Einrichtung, heiße Musik und einen silberglänzenden Klotz, der im Handumdrehen milchschäumenden Latte Macchiato oder feinherben Cappuccino aufbrüht. Mit solchen Tricks brummt das Geschäft. Hier brummen nur die LKWs.

Der Friseur hat für so etwas kein Geld. Ein Glas Leitungswasser könnte er seinen Kunden anbieten. Das würde er ihnen aus dem Nebenraum holen. Gern sogar. Mit einem dunkelgelben Lächeln. Und die Gegenwart von Frauen macht ihn immer so nervös. Fast hilflos. Seine Spucke trocknet aus, der Hals wird spröde, die Hände werden feucht, die Gedanken schlingern, und er weiß nicht, was er sagen soll. Das ist sein ganzes Leben so gewesen. Und bei so einem mag auch keine fesche junge Friseurin arbeiten. Er hätte ja auch nichtmal Geld, sie zu entlohnen. Und so kommt niemand. Und weil niemand kommt, traut sich auch niemand rein. Denn ein leerer Friseurladen kann nicht der beste sein. Da kann man sich auch woanders die Haare schneiden lassen. Nicht bei diesem Ewiggestrigen. Bei anderen bekommt man auch einen Kaffee. Mit Milchschaum.

Doch schon lange kann er kaum noch die Ladenmiete bezahlen. Zwei Mahnungen hat der Vermieter ihm schon geschickt, weil er säumig war. Und das, obwohl ihm der Vermieter die Miete seit vierzig Jahren nicht erhöht und vor kurzem sogar noch gesenkt hat. Aber es kommt kein Kunde. Vielleicht einer am Tag. Die alten Kunden sind fast alle tot oder weggezogen. So sitzt der Friseur oft stundenlang allein auf dem mittleren Stuhl. Über ihm kauern die alten Schneidwerkzeuge an der Wand. Alles noch Handarbeit. Alles selbst gesammelt. Mit Liebe und Hingabe drapiert auf dem Holzbord, dass er selbst in die Wand geschraubt und gedübelt hat. So bleibt seine Pflanze in der Ecke oft die einzige, der er ein Glas Leitungswasser anbieten kann. Zärtlich nennt er sie "Lulu". Sie hört ihm zu, wenn sonst niemand kommt, und das ist oft. Sie kennt seine Sorgen und Sehnsüchte. Gerade, wenn es im Winter dunkel wird, und nichts zu hören ist außer dem Verkehrsgebrüll draußen und dem Knistern seiner Glut.

Früher, da war es hier anders. Da waberte schwerer Zigarrenrauch durch den winzigen Laden. Herren aus allen Altersschichten drängelten sich auf die Stühle, lehnten an der schmalen Steinsäule neben der Tür. Da klingelte seine alte Kasse. Seine heißgeliebte Kasse. Inzwischen wertvoll. Noch mit richtiger Kurbel. Wird heutzutage gar nicht mehr gebaut sowas. Richtig solide, hält gleich mehrere Leben lang.

Sein Laden war der Nachrichtenumschlageplatz aller Herren im Viertel. Man schlurfte herein im schweren Filzmantel, und da waren sie schon alle. Herr Johannpötter, Herr Paschulke, Herr Rottenberg, Herr Markstein, Herr Tollkötter oder Herr Jelinek. Das war dann ein Durcheinander. Hier wurde Politik gemacht. Mancher brachte sich ein Bier mit und blieb auch nach dem Haarschnitt Stunden, weil es solchen Spaß machte, im wuseligen Treiben, bei den hitzigen Diskussionen über Politik, Fußball oder Rasenmähen mitzumischen. Weil hier das Leben stattfand.
Der Friseurladen war der kleine, enge und gemütliche Nachmittagsstammtisch. Hier war man zu Hause. Doch die, die hier zu Hause waren, sind hier nicht mehr zu Hause. Tot oder fort. Und den Anschluss an die Zeit verpasst.

Der Friseur hatte nie ein Gespür für Trends, fast ein wenig Angst vor ihnen. Eine ängstliche Scheu vor der grellen, hektischen Moderne. Er ist doch nur der Friseur. Er schneidet Haare. Und plauscht gern ein wenig. Mit seiner Stimme, immer rau vom Tabak und tief wie nach zu langem Schlaf. Schnickschnack ist für Andere, sagt er gern. Weiß denn heute keiner mehr Handarbeit zu schätzen? Auch heute kommt keiner. Niemand. Von morgens neun bis abends um halb sieben nicht. Und das, obwohl er sogar selbst eine neue Osterdekoration gebastelt hat. Eier gefärbt, ein wenig Grün vom Gärtner geschenkt bekommen, ein paar hellgelbe Bänder zu Schleifen geschwungen. Alles strömt vorbei. Jetzt schließt er die Tür wieder ab, die jedem den ganzen Tag über offen stand. Vielleicht kommt ja morgen mal wieder ein Kunde. Was für eine Freude das für den Friseur wäre. Er würde ihm sogar zwei Gläser Wasser spendieren. Und sogar eine kostenlose Rasur obendrauf legen. Nur weil er sich so freuen würde. Doch noch ist es nicht morgen. Morgen vielleicht.

15 Wortmeldung(en):

Anonymous Anonym meint...

Lieber Ole,

Für Opa kommt der Friseur gleich nach dem Zahnarzt, das war von klein an so.

Trotzdem bedanke ich mich ganz persönlich bei Dir für diesen Beitrag, er ist unsere nächste Empfehlung der Woche.

Beim Türken gegenüber, wo ich waschen und schneiden lasse, brummt der Laden allerdings. Er spricht kein Wort deutsch und wir verstehen uns prächtig. Als er das erste Mal meine Hände sah, holte er einen jungen Kollegen zum Übersetzen. Danach hat er sie ganz flüchtig und wie zufällig gestreichelt.

23/2/06 18:56

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Hui, welch Ehre, gleich von zwei Seiten. :)

23/2/06 19:12

 
Anonymous Anonym meint...

Ach, wie herrlich und so traurig, der arme einsame Friseur. Ist er das nun, oder doch eher ein Barbier?
Sehr schön, vielleicht ein Tickchen zu lang für meinen Geschmack, aber das ist nicht weiter schlimm, gibt schließlich im jeden Satz neues zu entdecken.

23/2/06 19:25

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Er war am Ende auch länger als geplant. Aber zusammenstreichen mocht' ich ihn dann auch nicht einfach so... :)

23/2/06 19:37

 
Anonymous Anonym meint...

ach ja, plötzlich möchte ich weinen...

23/2/06 20:27

 
Anonymous Anonym meint...

Sehr schön erzählt. Vielleicht kommt Wulnikowski ja einmal zum Haareschneiden vorbei?

23/2/06 21:41

 
Anonymous Anonym meint...

Au ja. Man wünscht ihm wirklich, dass die Tür auffliegt und ihn jemand aus seiner Trübsal reißt...

Ich war mal in Sorrent bei so einem kleinen (im doppelten Sinne) Friseur, der einsam in seinem Laden hockte. Damals konnte ich noch kein Italienisch und entsprechend schwierig war die Verständigung. Auf meine Geste, die Haare im Nacken mit dem Elektroschneider raspelkurz zu machen, sagte er nur stolz "I don't like the machine", und dann schnitt er mir so einen Maschinenpelz, perfekt, von Hand mit einer kleinen Schere.

23/2/06 23:34

 
Anonymous Anonym meint...

Wenn's diesen Friseur in einem Umkreis von 100 Km um meinen Wohnort wirklich gäbe, dann hätte er wenigstens einen Kunden.

24/2/06 07:13

 
Anonymous Anonym meint...

Wir haben noch so einen altmodischen Friseur mit getrenntem Damen- und Herrensalon und Jalousien vor dem Fenster. Einen Teil seiner Kundschaft kommt aus dem benachbarten Altersheim. Gegen die modisch aufgemotzten Salons in der Nähe kann er sich behaupten.

24/2/06 09:02

 
Anonymous Anonym meint...

so ruhig, so unaufgeregt und doch so tief traurig, fast tragisch. völlig anders und doch ein wenig wie "the man who wasn't there", an den hier doch auch erinnert werden soll oder?

24/2/06 10:05

 
Anonymous Anonym meint...

Ich vermisse solche Läden. Nicht nur Friseurläden, auch die kleinen schrulligen Buchhandlungen von früher, die es kaum nich gibt, den Tante Emma Laden um die Ecke, ich vermisse sie alle...
Die Welt, zumindest meine, fühlt sich kälter an ohne sie.

24/2/06 11:20

 
Anonymous Anonym meint...

Der Kommentarfutterer war diesmal ich, ich böses. Zum ersten Mal in meiner Bloggerlaufbahn einen Kommentar gelöscht, das müsste man doch feiern!

24/2/06 13:47

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Gratuliere. Hat's geschmeckt?

24/2/06 15:49

 
Anonymous Anonym meint...

oh. ich glaub, wir sind alle gerührt! ich vorneweg... und wie! grade beschloss ich, falls ich meine locken denn mal fallen lassen sollen wollte (ääh), dies beim friseurladen um die ecke zu tun, wo man nicht ins schaufenster gucken kann und vergilbte gardinen hinter einen jugendstilemblem "salon marie" hängen!
liebe grüsse aus wien,
esther

24/2/06 19:15

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Donnerknispel, das's ja mal ne Ehre, Frau E. aus W....

24/2/06 23:04

 

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