Les adieux
Die blaue Blume in einer Bleikristallglasvase auf seinem Nachttisch welkte. Daneben lag ein japanischer Gedichtband: „Nakoso no seki“. Christian saß auf dem Bettrand, mit schläfrig verquollenen Augen – gähnend und sich kratzend. Er hatte gewusst, dass dieser Tag früher oder später kommen würde. Gern hätte er ihn hinausgeschoben. Nüchternes Licht strömte unfreundlich durch das nackte Fenster. Grau. Noch letzte Woche war der Himmel lichtdurchflutet, azurblau mit klitzekleinen Wölkchen wie hingetupft. Das Herz hüpfte vergnügt voller Vorfreude. Auf Sie. Eisblumen hatten den unteren Fensterrand überglitzert; die Bäume waren verzuckert. Doch über Nacht hatte der Zauber abrupt zu tauen begonnen. Blitzartig, aus heiterem Himmel. Eine Kurznachricht. Schluss. Ohne Erklärungen. Ohne Vorwarnung.
Seitdem hing Nebel wie schwere Milchsuppe zwischen den Häusern. Der aufweichende Schnee matschte, wenn man hinein trat, oder troff als trüber Brei die Fensterscheibe hinunter - zur Eile getrieben von kaltem, schwarzem Regen. Lustlos zog er seine Strümpfe die Beine hoch und krempelte sie wieder hinunter, so dass sie sich zu Wülsten knüllten. Er stand auf, ging zum Waschbecken, drehte den Hahn auf, ließ den Stopfen in den Ausguss gleiten, zog ein Taschentuch aus dem Spender. Er hielt es vor sich, als hisse er die weiße Flagge und schnäuzte sich. Mit tonnenschweren Lidern blickte er in den Spiegel. Mehr Ränder als Augen und die unterlaufen. Die Augen selbst umschleiert wie von dunstigem Tau. Kratzen im Hals. Zu viel von allem in den letzten Tagen. Er tauchte seine Hände ins Waschbecken, schlug wütend ins Wasser. Beobachtete die flackernden Lichtringe auf der wogenden Wasseroberfläche. Eine Träne rann seine Wange hinab. Das Salz brannte auf der Haut. Er hasste sich selbst dafür, hasste sie für ihre Janusköpfigkeit. „Eigentlich müsste sie Heide Jäckle heißen“, dachte er mit einem Lächeln wie Bitterschokolade. Grillparzers Zeilen wüteten in seinem Kopf.
Hab' ich mich nicht losgerissen,
Nicht mein Herz von ihr gewandt,
Weil ich sie verachten müssen,
Weil ich wertlos sie erkannt?
Warum steht in holdem Bangen
Sie denn immer noch vor mir?
Woher dieses Glutverlangen,
Das mich jetzt noch zieht zu ihr?
Tausend alte Bilder kommen,
Ach! und jedes, jedes spricht:
Ist der Pfeil auch weggenommen,
Ist's darum die Wunde nicht.
Sie hatte ihn berauscht. Vorwärts gelockt am Narrenseile der Leidenschaft. Sie strömte den perfiden Duft der Unendlichkeit aus. Sie tanzte zwar wie ein Bügeleisen, doch war sie geschmeidig wie keine andere. Zwischen Scotch und Aschenbecher an der Theke hatte sie sich aus dem Nichts um ihn geschlungen. Ruchvolle Circe. Urplötzlich hatte sie neben ihm gestanden. An der Säule hinter der Tanzfläche. Er hatte kaum gewusst, wohin mit seinen Händen, als sie ihn ansprach. Sie wusste nicht, wo hinsehen, also sah sie auf seine Hände. Der Kontakt, dessen bezaubernde Möglichkeiten bereits in der Luft schwebten, unmittelbar über ihren Köpfen, musste noch in Gang gebracht werden. Die Handinnenflächen schwitzen. Kurzes verlegenes Geplauder. Nichtigkeiten. Als sie seine Hand einfach nahm, grinste und sich an ihn schmiegte, hatte er sich dafür geschämt. Es schien ihr egal. Das Eis war gebrochen. Unnötig, das Feuer der Unterhaltung noch weiter mit derartigem Kleinholz zu nähren. Es prasselte plötzlich wie ein Scheiterhaufen. Wortlos. Sie zog ihn zu sich, nahm in mit sich. Sie hatte sich ihm geschenkt.
Mit keiner Frau zuvor hatte er eine Liebesnacht mit annähernd so vollem und abwechslungsreichem Programm erlebt. Ihr warmer, weicher Körper, der sich in seinen Armen wie eine Schlange bewegte, sich regte und vibrierte, kannte tausenderlei Drehungen und war in jedem Moment neu, Wunder hervorbringend, erstaunlich und unergründlich wie das Meer. Sie schmeckte nach fernen Ländern, nach fremden Gewürzen, nach Leidenschaft - aufregend und doch mit jedem Mal vertrauter. Zitterndes Beben wie von tausend hauchzarten Stromstößen.
Sie, die geheimnisvolle Dunkle. Zu fassen bekommen hatte er sie nie. Ihr leidenschaftliches Schwanken zwischen Wollust und Abweisung, offenen Türen und gefallenen Schranken. Zärtliche Bisse, sanftes Streicheln, dann der zugewandte Rücken wie ein Tritt in den Unterleib. Funkelndes Glitzern in ihren Augen, dass sich in ihn hineinbohrte, im nächsten Moment weltentrückte Ferne. Verschmolzen mit ihr verbrannte er doch von innen, rieb sich auf an ihren Schwankungen, zerbrach wie ein Stück Gusseisen auf Grund der rapiden Temperaturumschwünge. Wechselbad. Sie zerrte an ihm, saugte ihn aus, von innen. Doch zog es ihn zu ihr zurück wie in den Runenberg. Sehnsucht nach dem, von dem er wusste, dass es ihn kaputt machte.
Wo noch vor Kurzem heiß brodelnde Leidenschaft kochte, fegte nun eisiger Wind. Wo vorher vertrauteste Nähe schien, klaffte jetzt meilenweite Distanz. Nun völlig. Aus heiterem Himmel das Nichts. Seit einer Woche, auf unbestimmte Zeit. Hilfloses Rudern. Was bleibt, stiften die Dichter - und was fehlt? Ihr weißglänzendes, verschmitztes Lächeln. Die altbekannte, wieder aufsprudelnde überberstende Lust, die wohlvertrauten Bewegungen, das Zarte, Heiße, Leidenschaftliche, die gezielten Bisse, die Griffe an die richtigen Stellen, das Explodieren in der Lust des Momentes. Doch sie ging. Eiskalt. Und reichte den Staffelstab an die emotionale Verwirrung.
Was blieb, waren festgekrallte Haken ihres Wesens in seinem Herzen, und noch fehlte ihm die Zange, sie zu ziehen. Notdürftig und fröstelnd hatte er die Tür zu seinem Herzen mit Brettern vernagelt und ein „Betreten verboten“-Schild daran festgetackert. Was hielt ihn bei ihr? War es nur das Körperliche, die leidenschaftliche Intimität, der er nachrannte wie einer Droge? Von der er glaubte, sie nirgends noch einmal so erleben zu können? Kaum gemeinsame Interessen, ihr ewig wankelmütiges Wesen, ihre Doppelzüngigkeit, ihr Genörgel über seine geringelten Socken? Wozu weinte er ihr nach? Gekränkter Stolz? War er wirklich derart eitel? Bargen andere Frauen nicht viel mehr Potenzial zum Glück? Die Chance, sich fallen zu lassen, sich geborgen zu fühlen? Geborgen gefühlt hatte er sich bei ihr nie. Zu oft hatte er sich verteidigen müssen gegen ihre Sticheleien. „Tausende könnten ihre Stelle genauso gut besetzen“, sagte er sich. Doch sogleich fand er ein Aber. Und nicht nur eins.
Christian riss eine Glasflasche aus dem Schrank, schleuderte sie gegen die Fliesen, wo sie scheppernd zerbarst. Er kauerte sich auf den kalten Boden, das Kinn zwischen die Ellbogen eingeklemmt. An der Wand rann braune Suppe wie dunkles Blut abwärts.
10 Wortmeldung(en):
Just to make sure: Der Text ist fiktiv. Der Protagonist hat keine bewusste Ähnlichkeit mit mir, genausowenig gibt der Text auch nur den Hauch eines Rückschlusses auf mein momentanes Seelenleben. Ganz im Gegenteil... :)
16/6/05 14:34
huhu ole!
hab grad dann doch nochmal die zeit gefunden,deine seite hier zu lesen (zumindest ansatzweise, ich glaube so rückwärts bis februar) und mich ziemlich bepisst vor lachen.
tolles ding, du bekommst den offiziellen lustischkeits-orden am goldenen band. bitteschön! nimm!
deine telefonnumemr hat trotzdem den weg aller notizen auf blöcken ins altpapier angetreten (keine absicht). dumm von mir...
äh ja... meld dich doch. ne?
tschööö, die katha
16/6/05 17:23
Dankedanke, schöne Frau! Datt kriegen wir schon hin. Mensa irgendwie und sowieso und überhaupt...
große Grüße,
Ole
16/6/05 17:27
Pech aber auch, daß ich nicht in dieser Jury sitze...!
16/6/05 20:59
Lassen wir uns von der Jury überraschen. Sie wird schon die richtige Wahl treffen, denke ich. Auch wenn Sie ein brillantes Jury-Mitglied abgegeben hätten, Herr Neo-Bazi. Es wird ja wahrscheinlich auch in den künftigen Jahren derlei Wettbewerbe geben und da stehen Ihnen dann ja Tür und Tor offen... vielleicht.
17/6/05 10:12
jetzt haste grade den lustischkeits orden von katha bekommen. unter insidern eh der wichtigere preis.
17/6/05 15:38
Wunderschön geschrieben und sehr bewegend, die Geschichte.....
Wann schreibst du dein erstes Buch? Ich hätt gern ein Exemplar mit Widmung!!
17/6/05 18:21
nur weil christian keine direkten rückschlüsse auf soljanka zulässt und überhaupt die geschlechterrollen vertauscht sind, hindert es mich nicht daran, die verbindung zu erkennen. die eisblumen vertuschen auch nicht genug. pfeile sind eine fiese sache!
18/6/05 04:34
Selbst wenn das so wäre, hätte ich das aber jetzt nicht gesagt ...
18/6/05 08:22
Ich bin verwirrt. Das kommt vor. Macht nix. Das tolle Wetter, die gute Laune... danke in jedem Fall, Herr Neo-Bazi. :)
18/6/05 15:57
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