Auf dem Grabfeld der Dörfer
Es war Mitte Oktober, und doch war das Thermometer schon in bitterkalte Kellerregionen weit unter Null Grad gestürzt. Die Türhydraulik des asbachuralten Busses hatte sich kältefrei genommen. Eisblumen waren an die Scheiben geklettert. Auch der Motor fror. Zunächst so sehr, dass er sich weigerte, überhaupt seinen Dienst aufzunehmen. Nach langem, zärtlichem Zureden ließ er sich irgendwann doch erweichen, aber er zitterte, grollte, knurrte und stotterte ob der Kälte und stieß in unregelmäßigen Abständen rabenschwarze Rußwolken aus, die den Verkehr hinter uns immer wieder in finstre Nacht tauchten - wenn auch nur für wenige Sekunden.
Wir ruckelten stadtauswärts. Vorbei am Museum des Vaterländischen Krieges mit seinen verrosteten Panzern und Jagdbombern im Innenhof, durch den riesigen Kreisel am Platz des Sieges mit der ewigen Flamme in der Mitte und seinen quietschgelben, neobarocken Rundfassaden, am Traktorenwerk entlang, über die riesigen Prospekte, flankiert von verrotteten Wohnsilos. Eine endlose Betonplattenpiste führte uns in die herbstgoldenen Birkenwälder außerhalb der Stadt. Fast drohten wir seekrank zu werden, so oft musste Pavel, der Busfahrer, den kratertiefen Schlaglöchern ausweichen, um einen Achsenbruch zu vermeiden. Alle paar Meter schlängelte sich ein kleiner Sandweg vom Betonprospekt ins Baumdickicht, führte zu den kleinen, abgelegenen Datschen der Stadtbewohner. Ein zerknitterter Alter mit wodkagegerbtem Faltengesicht ließ sich kriechend langsam von einem Esel auf seinem kleinen Gespann ziehen. Er lächelte zahnlos.
Nach einer guten Stunde zeigte uns ein kleines Schild rechterhand, dass wir dem Ziel nahe gekommen waren: ХАТЫНЬ. Chatyn. Die Gedenkstätte für den Völkermord im zweiten Weltkrieg - Symbol und Mahnmal für über 180 Dörfer, die von den Nazis auf grausame und immergleiche Weise vernichtet wurden: Die Dorfbewohner wurden mit Waffengewalt in eine große Scheune zusammengepfercht und eingesperrt. Die Scheune wurde verrammelt, dann kamen die Flammenwerfer und die Scheune wurde in Brand gesteckt, sodass alle Bewohner bis auf ganz wenige, die fliehen konnten, grausam und hilflos in den prasselnden Flammen verbrannten. Auf diese Weise suchten die Nazis ihr Ziel zu erreichen, 75% der weißrussischen Bevölkerung auszurotten, zu deportieren oder ermorden, und die anderen 25% in Arbeitslagern für Sklavendienste auszuschlachten.
Hellichter Tag war, die Oktobersonne sandte dunkelgoldene Strahlen durch die Kälte auf die riesige, wellige Waldlichtung. Und trotzdem zerknirschte jeden Knochen und durchsprudelte jede Pore des Körpers ein eisiges Unwohlsein. Wir wussten, die Sonne schien. Und doch war es, als sei sie hier seit vierzig Jahren nicht mehr aufgegangen.
Das ganze Areal schien überschleiert von erdrückender Dunkelheit, von Schrecken, Qual und Tod. Als wären die Geister der Verbrannten und Verbannten allgegenwärtig.
Die grausame Vergangenheit schien spürbar, greifbar. Nein! Die Vergangenheit grapschte nach uns! Mit dunklen Knochenhänden umschlang sie uns und hielt uns im Würgegriff. Das Schlucken fiel schwer. Wir waren erschüttert. Atemlos. Beklommen. Fast ängstlich.
Das riesige, dunkle Areal übersät mit grauen Betonstelen, die leblos in den Himmel ragten. Schornsteinen von Krematorien ähnelnd und zugleich Glockentürme. Jede Minute nur ein einziges Mal läutete je eine der über 180 von irgendwoher. Jede für sich stellvertretend für ein Dorf, das vernichtet wurde. Darunter vergraben: Ein kleines Häufchen verbrannter Erde aus dem Dorf. Unbeirrbar schallen die Totenglocken. Sonst herrscht Totenstille. Kaum jemand wagt zu sprechen. Die Worte verstummen, ersterben auf der Zunge. Viel zu grauenhaft ist dieser Ort.
Eine ewige Flamme züngelt eingequetscht in Betonquader. Überhaupt regieren graue Klötze und schwarzer Granit. Alles eckig. Nichts ist rund. Überall harte Kanten. Eine Skulptur ragt schwarz und riesenhaft auf, als sei sie verbrannt. Der Vater. Auf den versteinerten Armen hängt starr und schlaff zugleich sein totes Kind.
Zwischen den Stelen und kargen Birken hindurch schlich eine alte, schrumpelige Frau. Sie ging gebückt, komplett in schwarz gewandet. Ein dickes Tuch umschlang ihren Kopf. Nur ein paar Haare ragten unbewegt heraus. Hinter ihr trotten drei dreckige Schafe. Traurig starrten sie zu uns hinüber. Auch sie selbst wendet uns den Blick zu. Ihre Augen glitzerten und funketen angsteinflößend. In ihrer rechten Hand hielt sie eine Sense.
8 Wortmeldung(en):
Diese Gedanken bringen Gänsehaut und Worte ersticken im Hals.... ein beklemmendes Gefühl, was ich hatte, als ich die Gedenkstätte Buchenwald besuchte, "Nackt unter Wölfen" las oder den Film "Geh und sieh" sah....
"Die Dorfbewohner wurden mit Waffengewalt in eine große Scheune zusammengepfercht und eingesperrt. Die Scheune wurde verrammelt, dann kamen die Flammenwerfer und die Scheune wurde in Brand gesteckt, sodass alle Bewohner bis auf ganz wenige, die fliehen konnten, grausam und hilflos in den prasselnden Flammen verbrannten."
....ein erstickendes Gefühl irgendwie.....
Nun, es gibt viel nachzulesen bei dir und dein neues Layout ist angenehm hell.
Liebe Grüße und hoffentlich etwas Sonne!
12/8/05 09:30
oje, und da komme ich von meinem gritzebunten grellblog hierher.
fabelhaft beschrieben, ole!
12/8/05 10:17
Ein kleiner Ausflug ins Düstermonochrome bei mir, aber es geht weiter - in Farbe und bunt! :)
12/8/05 10:19
Ich bin beeindruckt.
Die bereits erwähnte Gänsehaut fand auch mich....
12/8/05 11:08
ein sehr eindrucksvoller, wohlfeil formulierter text. flachsen wär hier unangebracht! sauber, ole.
12/8/05 12:02
Überall November. Totensonntag im August.
Ja, hoffentlich etwas Sonne! Bald!
12/8/05 12:22
Dankedanke.
Und zum Flachsen haste hier ansonsten ja jede MEnge Platz auf der Spielwiese. :)
12/8/05 12:22
Dunkelschön.
12/8/05 16:19
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