Blood on CCTV
Diese grässliche Ahnungslosigkeit, die Angst, die Dir das Blut zu bibbernden Klumpen gefrieren lässt. Das Hirn turnt in alle Richtungen, sucht nach wenigstens winzigen Fetzen eines Anhaltspunktes. Doch wohin es sich auch bewegt, es rutscht ab und gleitet zurück in den zähklebrigen Sumpf völliger Hilflosigkeit. Nichts bietet sich an. Das Haus, aus Sicht der Seitengasse. Gusseisern eingezäunt. Ein freudloser Rhododendronbusch davor. Autos parken, Passanten schlendern über den Bürgersteig. Irgendwann verlässt jemand das Haus. Der Blick bleibt unbewegt. Eine Tür schlägt zu. Stille. Eigentlich völlig harmlos. Doch wer hat den Blick überhaupt geworfen? Und warum schickt irgendwer den auf Videokassette konservierten Blick, ohne Rückschluss auf die Herkunft und wickelt ihn in scheinbare Kinderzeichnungen mit schwarzen Konturen und Blutgeschmier? Immer wieder der Hauseingang. Gedanken drehen sich im Kreis, taumeln im haltlosen Raum, finden keinen Grund. Man sieht: Georges, wie er zur Arbeit aufbricht, sein Sohn Pierrot bei der Heimkunft. Sonst nichts. Doch wieso?
Und dann diese Flüsteranrufe aus dem Irgendwo. Ohne Namen zu nennen. Paranoia krümmt den Magen jedes Mal weiter, wenn Georges und Anne Laurent rätselnd vor dem Riesenbildschirm ihres Fernsehers inmitten ihres bücherüberpfropften, kalten Wohnzimmers stehen, vorspulen, zurückspulen, nach versteckten Hinweisen suchen. Georges kennt alle Großen, ist selbst einer und hält sich auch für einen solchen. Schließlich moderiert er die erfolgreichste Literaturtalkrunde im Fernsehen. Doch gibt es da nicht vielleicht irgendwo dunkle Flecken in der Vergangenheit? Und könnte ihm jemand Böses wollen? Plötzlich nicht mehr nur die Haustürpassage. Georges Geburtshaus, ein unbekannter Straßenzug, ein Hahn mit abgehacktem Kopf. Beklemmende Reflexionsbilder. Die Schlinge legt sich enger, immer tiefer verstricken sich Georges und Anne, immer panischer wird die Verfolgungsangst, niemand übt körperliche Gewalt aus, aber das Gefühl, beobachtet zu werden ohne zu wissen von wem, ohne den nächsten Schritt ahnen zu können, lähmt alles. Und die Videos ziehen Kreise. Blutbeschmierte Postkarten landen in der Schule von Pierrot. Und immer wieder bei Familie Laurent selbst.
Ganz langsam torkeln lange ignorierte Erinnerungsfetzen zurück in Georges selbstgefälliges Gedächtnis. Ein durchtbarer Verdacht manifestiert sich. Er stolpert über seine eigene Borniertheit und Selbstgerechtigkeit. Will Vertrauen und Ehrlichkeit, doch versucht er, selbst seine engsten Vertrauten zu täuschen, enthält ihnen Wichtiges vor, um sich seiner Vergangenheit nicht stellen zu müssen. Er verdächtigt und verurteilt, auch wenn die Indizien kaum greifbarer sind als Seifenblasen. Vertrauen zersplittert, woran Anne, als einzig klug handelnde und einfühlsame Familienmutter, verzweifelt. Sie rennt bei Mann und Sohn gegen misstrauische, bornierte und verhärmte Gefühlswände.
Caché , der neue Film von Michael Haneken zerknabbert das Nervenkostüm, ist ein genialisch-herber Brocken und gewann den jüngst gar den Regie-Preis beim Filmfestival in Cannes. Er verwischt die Grenzen zwischen gefilmter Realität, gefilmtem Film in der gefilmten Realität und gefilmtem Fernsehbild in der gefilmten Realität. Einen ungemein packenden und verstörenden Film über Schuld und Sühne, Lüge und Verheimlichung hat er gedreht. Mit hauchzartem Gespür für nuancierte Charakterzüge und Beziehungsgeflechte, mit psychologischem Scharfsinn und ungewöhnlichen Mitteln schürt er die Verfolgungsängste, die sich ausbreiten, sobald man merkt, dass man verfolgt und überwacht wird - ohne zu wissen von wem. Er legt falsche Spuren, verheimlicht, verdreht, verwirrt. Absichtlich. Auch der Zuschauer wird belogen, ihm werden wichtige Indizien vorenthalten, sodass er sich in der gleichen Situation wie die Filmfiguren befindet. Nichts ist eindeutig, aber irgendwie muss man sich seine Sicht der Welt ja zusammenzuimmern. Ganz langsam lüften sich Schleier, nur wenig passiert wirklich und doch ist, fast wie bei Jackson Pollock, überall Blut. Dann passiert doch etwas. Doch wer ist am Ende Schuld, wer ist wirklich Täter und wer Opfer? Und wer hat mit allem wirklich begonnen? Ein grässlich guter Film.
20 Wortmeldung(en):
der letzte absatz klang jetzt ungefähr genauso logisch wie die figurenkonstellation in deconstructing harry :-)
15/3/06 13:52
Ein Heineken auf Haneke!
15/3/06 13:59
klopsrulla, den hab ich bislang immer noch nicht gesehen. :)
15/3/06 15:24
Und ein Almdudler für Dave Dudley? ;)
15/3/06 15:25
Diese Filmbesprechung ist genauso hohe Kunst wie der Film selber, den ich auch sehr empfehlen kann. Wunderbar dargestellt, lieber Ole. Und Juliette Binoche ohne Chocolat-Süße ist auch schon genug Grund den Film zu sehen.
15/3/06 15:31
SCHANDE ÜBER DICH!!!
SOLL ICH IHN MAL MIT DER POST SCHICKEN?
15/3/06 16:00
achherje, Königsberg gerät in Rage. :)
Gern!
15/3/06 16:04
Die Binoche spielt fantastisch in dem Film, ich geh da komplett mit Dir d'accord, Lundi.
15/3/06 16:06
uääks, ich mag weder horror- noch thriller- noch jegliche andere erschreckungs- und fürchte-filme!
15/3/06 16:10
Dann solltest Du Dir das Geld für nen anderen Film sparen. :)
15/3/06 16:51
Auch wenn ich ebenfalls zarter besaitet bin, reizt es mich nach dieser Besprechung den Film zu sehen... allein schon beim Lesen überliefen kalte Schauer meinen Rücken....
Huaaa...
15/3/06 20:03
Interessanter Filmtip. Sowas kann ich brauchen als Feuilletonverweigerer... Vielleicht klappt's am Wochenende sogar mit dem Kino.
@Ole off topic: Bitte den Link noch ändern. Danke.
15/3/06 20:46
o - kOnigsberg :-) da bin ich neuerdings genau :-) ich hatte ihn sogar ne zeitlang auf meinem eigenen blog falsch geschrieben - schäm schäm
15/3/06 21:34
@ ole:
danke für den tipp, werd ich auch^^ aber zartbesaitet??hmpf, na gut, wenns sein muss....
16/3/06 10:01
super film.
16/3/06 11:19
@linda: Ich hab von zartbesaitet ja nix gesagt. :)
16/3/06 11:53
ah! interessant...ich habe den Film auch gesehen, denn ich las im Voraus ein Interview mit Herr Hanecke und es klang wirklich sehr, sehr gut. ungefähr so, wie in ihrem Beitrag. ich war sehr gespannt und ging mit einiger Erwartung ins Kino. und wurde herb enttäuscht. die angekündigte Spannung wollte sich bei mir einfach nicht einstellen, nichts von subtiler Bedrohung. Frau Binoche spielte nicht so gut, wie ich es gewöhnt war und die Dialoge waren teilweise doch recht platt. Alles in allem fand ich den Film eher langweilig, auch wenn mir die Idee dahinter sehr gefiel - aber es war einfach nicht gut umgesetzt. finde ich. vielleicht habe ich aber auch zu viel erwartet. (tut mir leid, ich hoffe, ich verleide den Leuten den Film nicht zu sehr)
16/3/06 16:09
ach, iwo. Meine beiden Begleiter hatten auch ganz Anderes erwartet und waren enttäuscht. Caché ist wahrscheinlich einer der polarisierenden Streifen, die man entweder enttäuschend, langweilig und befremdend oder packend, gefangen nehmend und faszinierend findet. Ohne dass eine von beiden Positionen auch nur im Ansatz unberechtigt wäre. :)
16/3/06 16:16
Hab ich leider nicht mehr geschafft vor Chile. Bestaetigt mich aber nur in meiner Vorahnung.
16/3/06 22:01
der Film geht im wahrsten Sinne des Wortes auf die Nerven. Aber das gehört ja zum Konzept. Man hat als Zuschauer ja überhaupt keine Chance mal für einen Moment zu entspannen und den Film Film sein zu lassen. Ständig sitzt man sa und denkt: Ist das jetzt wieder Video? Ist das noch Realität? Und am Ende: Allein gelassen. Danke, Haneke. Großartiger Film.
17/3/06 15:53
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