Aus fremden Worten eigene werden lassen ohne die fremden Worte zu verfremden, darin liegt die Kunst des Übersetzers. So wie eifrige Hermeneutikerhorden als Wortalchemisten noch immer mit abenteuerlichen Theorie-Apparaturen den Stein der Weisen, die einzig "wahre" Bedeutung eines Textes herauszudestillieren suchen, gibt es auch immer neue Interpretationen von Bruckner-Sinfonien und immer neue Versuche, "die einzig wahre Übersetzung" eines fremdsprachigen Textes ins Deutsche zu vollbringen. Wenn, kann es nur näherungsweise gelingen. Oft sind die Unterschiede haarfein zwischen den Interpretationen, manchmal stoßen sie sich auch ab wie Gegenpole am Magneten. Wohl über zwanzig Übersetzungen ins Deutsche gibt es inzwische
n allein von Flauberts Roman "Madame Bovary". Wagen wir einen Blick, schnappen uns den ersten Satz und schauen, was im Deutschen aus Flauberts Original geworden ist. Er selbst begann folgendermaßen:
"Nous étions à l’étude, quand le proviseur entra, suivi d’un nouveau habillé en bourgeois et un garçon de classe qui portait un grand pupitre. Ceux qui dormaient se réveillèrent, et chacun se leva comme surpris dans son travail."
Caroline Vollmann hat eine der neuesten Übersetzungen geliefert und wurde wegen ihrer Nähe zum Originaltext von diversen Flaubert-Philologen und dem deutschen Feuilleton mit Lobpreisungen überschüttet. Sie übersetzt Flauberts Auftakt so:
"Wir waren im Arbeitssaal, als der Direktor eintrat, ihm folgten ein Neuer in ziviler Kleidung und ein Schuldiener, der ein großes Pult trug. Wer schlief, wachte auf, und jeder erhob sich, als sei er in seiner Arbeit gestört worden."
Im Vergleich dazu liest Winterstein (1930) darin Folgendes:
"Wir waren eben noch im Lehrerzimmer bei unseren Aufgaben, als der Vizedirektor des Instituts brüsk eintrat und einen neuen Zögling hineingeleitete, der noch nicht die passende Uniform des Instituts, sondern einen gewöhnlichen Anzug trug; ein Schuldiener, ein großes Pult auf dem Rücken schleppend, folgte ihnen auf dem Fuße nach. Die Knaben, welche während des Unterrichts eingenickt waren, fuhren aus ihrem Halbschlummer empor und taten, als wenn sie durch die neue Erscheinung in ihrer Arbeit gestört worden wären."
Spannend ist nun, mit welcher Präzision Ernst Sander (1949) auch die kleinsten Details in Flauberts Vorlage aufspürte, die dem Auge eines Durchschnittslesers möglicherweise entgehen, dessen Kunst des Zwischendenzeilenlesens sich noch nicht zu voller Blüte entfaltet hat:
"Es war kurz nach halb zwei; der Studienaufseher wartete auf den kleinen Dreiviertelschlag und schickte sich an, die Arbeiten vorlesen zu lassen, als der Direktor in der Unterrichtsraum der 'Mittleren' trat; ihm folgten ein etwa fünfzehnjähriger Junge und ein Pedell, der ein großes Pult trug. Die geschlafen hatten, fuhren hoch. Geräuschvoll wurden Wörterbücher aufgeschlagen und die zugeklappten Hefte zu sich gezogen. Wer Männchen gezeichnet hatte, versteckte sie unter seinem Atlas; mehr als einer, der mit feuerroten Backen einen Schundroman verschlang, hatte nur noch Zeit, ihn zwischen seinem Rücken und der Wand zu Boden gleiten zu lassen. Wer sich mit nichts beschäftigte, tat, als schnitzele er sich eine Feder zurecht. Dann sprangen alle auf, als seien sie bei der Arbeit überrascht worden."
Man muss schon sehr genau hinsehen.
21 Wortmeldung(en):
So was ist wirklich erschreckend, wenn nicht sogar lustig.
Geht Gott sei dank auch jeder anderen Sprache so - kuck dir mal die US-amerikanischen Übersetzungen vom Faust an...wahrlich ein Trauerspiel, man wartet am Schluss fast auf ein Duell im Western-Stil und ein spontan improvisiertes Happy-End...
1/9/06 14:37
Das werd ich mal tun. Spielt John Wayne dann statt Gründgens den Mephisto? :)
1/9/06 14:42
ich finds supi! scheiß auf`s original.
1/9/06 15:15
ah ne, doch nicht. wieso haben sie drei flaubert ausgaben zuhause? So was ist wirklich erschreckend, wenn nicht sogar lustig.
1/9/06 15:16
Viktor, seit wann siezen wir uns eigentlich? Und ich selbst hab' nur eine Ausgabe zu Hause. Aber man kann ja andere Textvarianten auch ausfindig machen, ohne sie zu kaufen und Platz veschwendend ins Regal zu stellen. :)
1/9/06 15:19
Ole, sei froh, dass Victor dich nur siezt. Mich hat er lange Zeit versächlicht ("Kuck mal - Es kann lachen!") - das ist sehr viel bitterererer.
1/9/06 15:52
Das kenn ich auch. Nicht nur einmal hieß es "Ach, da kommt es ja." Mir ist das recht sternschnuppe. Ich konter' dann einfach genauso blöd. :)
1/9/06 16:04
Ich würde gerne genau hinsehen, aber ich bin zu aufgebracht, weil mein Provider seine Festplatten geschreddert hat und damit die Publikation St. Burnster erst einnmal auf Eis gelegt hat. Massiver Datenverlust nicht ausgeschlossen. Good Bye, schöne neue Welt.
1/9/06 18:19
mir wird das herz schwer. habe mich das ganze übersetzerstudium lang mit professoren herumgeschlagen, die mich zwangen, "doch a bisserl vom ausgangstext abzuweichen, um den sinn rüberzubringen". im gegensatz zum ersten satz bin ich allerdings immer noch der meinung, man soll aus einem fremden text keinen "eigenen" text machen. liegt vielleicht auch an meinem kommilitonen a.l., der sich noch viel schlimmere stilblüten als die hier zitierte aus den fingern saugte. es ist eine gratwanderung, die mich letztlich zum abschluss als dolmetscher bewegte. da ist die formulierung wurscht, hauptsache, auch der letzte idiot kriegt den kern der diskussion mit.
1/9/06 19:31
@burns: What the heck??? Hab gestern angefangen, alle Absurdistan-Texte sukzessive in einer gemeinsamen Word-Datei zusammenzufassen. Vielleicht gerade noch rechtzeitig? Blutige Scheiße, das ist ja ein Kackdreck!
1/9/06 21:24
@pringle: Oh, Expertenbeistand. Ich fabuliere zwar auch gern enorm freie Übersetzungen, beispielsweise von Songtexten zusammen, kennzeichne das dann aber auch. Bei Übertragungen literarischer Werke bin ich aber auch Purist und möchte möglichst lesen, was im Original steht. Entsprechend lese ich auch z.B. lieber die Prosaübersetzung der "Fleurs du mal" als die deutschen Nachdichtungen von Stefan George. Die sind auch toll, aber in erster Hinsicht doch nur inspirierte Gedichte, die in Teilen dem Original ähneln... :)
1/9/06 21:27
Hättest du da einen Tipp für mich, die Prosaübersetzung von "Les Fleurs du mal" betreffend?
Ich kenne nur die George Übersetzung und das ist auch schon sehr lange her.
1/9/06 21:49
Ich finde die Prosa-Übersetzung von Friedhelm Kemp klasse (erschienen im dtv), die die Reime von Baudelaire zwar ignoriert und die Klangfarbenspiele nicht übernimmt - beides so zu übertragen wäre ja auch fast schon ein Wunder -, dafür aber inhaltlich sehr nah am Originaltext bleibt.
1/9/06 21:55
Raymond Queneau hätte zu diesem Thema vielleicht bemerkt: Stilübungen.
1/9/06 22:17
Vielleicht hatte der Verleger Hrn. Sander unvorsichtigerweise nach produzierten Seiten bezahlen lassen.
1/9/06 22:50
@markus: Mit dem Gott des OuLipo hatte ich hier nicht gerechnet - eine erfreulich überraschende Begegnung. :)
2/9/06 03:09
@blue sky: Dieselbe Theorie ist auch durch mein Hirn gespukt. :)
2/9/06 03:10
Genau das gleiche ging vor vielleicht einem Jahr schon mal durch ein Blog, ich hätte gedacht, dass war hier. Egal, ist immer wieder interessant. Beziehungsweise erstaunlich, was manche da alles so reinschreiben, weil sie selbst sich diese Szene so vorstellen.
4/9/06 18:04
Es war hier. Aber da zu der Zeit noch nahezu niemand hier gelesen hat, entsprechend viele Leserlinge den Text noch nicht kennen konnten und ich zufällig drüber stolperte, habe ich ihn noch einmal aus der Versenkung geholt. :)
4/9/06 18:54
Sollte kein Vorwurf sein! Ich habs auch ganz gespannt nochmal gelesen.
4/9/06 19:03
Keine Sorge, so hab ich's auch gar nicht verstanden. Meine Anmerkungen waren auch nicht rechtfertigender sondern nur informativer Natur. :)
4/9/06 19:21
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