Schock bei nacht
Zwei Stunden zuvor hast Du die Lagerhalle Deiner Arbeit abgeschlossen, hast den Schlüssel ordnungsgerecht in den Briefkasten geworfen... doch dann. Beim Routinegriff an die rechte Hosentasche bleibt es viel zu flach. Nur die Konturen Deines Hinterns kannst Du erfühlen. Da fehlt was. Etwas Wichtiges. Ist es Dir im Lieferwagen aus der Hose gerutscht? Schnell nachsehen. Nein, verdammt! Du hast den Schlüssel soeben im Metallschlitz versenkt! Heilige Scheiße! Du rufst Deinen Kollegen auf dem Handy an, der noch unterwegs ist und in etwa einer halben Stunde ankommen wird, doch Du erreichst ihn nicht. Du sprichst ihm auf die Mailbox und bittest ihn nachzuschauen, ob etwas im Lieferwagen liegt. Dann rufst Du auch bei Deiner Firma an und sprichst dasselbe auf den Anrufbeantworter. Letztlich bleibt nichts, als nach Hause zu fahren. Übermüdet, aufgewühlt, erschöpft von der eh murphyesken Fahrt.
Es hatte schon seltsam begonnen. Der Liefer-LKW eine Dreiviertelstunde zu spät. Eine der entlegensten Apotheken wegen eines winzigen Medikaments wieder auf der Tour. Prasselnder Regen ohne Jacke. Ein unvermuteter Jahrmarkt in einem kleinen Dorf, bei dem Du rückwärts mit einem großen Lieferwagen zwischen engst gestellten Buden und Karussells hindurchmanövrieren durftest, da der altbekannte Weg von einer Wurstbude verstellt war. Alle möglichen Wege waren zugestellt. Nun schließt Du Deine Haustür auf und legst Dich ins Bett, ohne schlafen zu können, malst Dir die Konsequenzen aus, es ist gerade drei.
Um halb sieben kannst Du nicht mehr schlafen. Die Unruhe raubt Dir alle Nerven. Du wälzt Dich, doch Dein Herz pocht, Du drückst die Augen zu, doch vor dem inneren Auge flimmern grelle Schnitte. Um den Perso und den Führerschein brauchst Du Dir keine Sorgen zu machen. Die hast Du im zweiten Portemonnaie, das Du meist mit Dir führst. Hier hat sich die Strategie gelohnt. Draußen braust der erste Arbeitsverkehr. Du hältst es nicht mehr aus. Ziehst Dich dick an - der Kreislauf ist im toten Tal - und rast wie blöde zur Arbeitsstelle, springst vom Rad, hechelst hinein, turnst in den Lieferwagen, doch nichts. Du ziehst den Sitz nach vorn, grabbelst in die Spalte zwischen Sitz- und Anlehnfläche, nichts. Klaffende Leere. Dein Gesicht fällt vor Entsetzen auf den Fußboden. Der Chef hat auch nichts gefunden. Dir rutscht das Herz in die Hose, Dir wird schlecht, Du zitterst, leichenblass. Es ist kurz nach sieben.
Schnell rast Du nach Hause zurück, rufst Deinen Vater an, denn Dein eigener Internetanschluss streikt gerade. Du gibst ihm die Namen der Apotheken durch, auf dass er im elektronischen Telefonbuch die Nummern heraussucht. Vielleicht ist Dir das Portemonnaie beim Ein- oder Aussteigen aus der Hose gerutscht. Vielleicht beim Bücken, als Du volle Medikamentenwannen abgestellt oder leere aufgeklaubt hast? Bange Minuten vergehen, Du möchtest versinken. Nach und nach kommen die Nummern, der Arbeitstagbeginn der Apotheken rückt nur zäh näher. Alles vergeht in Zeitlupe, wo es in Dir selbst doch alles auf der Überholspur rast. Es ist Viertel vor acht.
Ausgerechnet jetzt, sagst Du Dir. Deine Bank ist nicht in Münster, Du wirst nicht ohne EC-Karte eigenmächtig an Geld kommen. Bargeld hast Du ja keins mehr zurzeit. Du hast auch Dein Semesterticket nicht mehr. Und keine Bahncard. Äußerst unpraktisch, wo Du doch auch noch übermorgen in Urlaub fahren willst. Eine knappe Woche in die unruhigen Straßen von Budapest. Die Schicksalsfratze grinst Dich blöde an. Du versuchst, an ihr vorbeizuschauen. Es gelingt nur phasenweise.
Du wählst eine Nummer nach der anderen. Alle sind mitleidvoll, sehr freundlich, hilfsbereit. Doch alle kommen bedauernd zurück, beteuern, Bescheid zu sagen, wenn sich doch noch etwas finden sollte. Niemand findet etwas. Mit jeder Nummer, die Du wählst, sinkt das Herz tiefer, wird das Seufzen lauter, das Bangen größer, wächst die Enttäuschung und die Sorge. Die EC-Karte ist gesperrt. Da kann - zumindest ab jetzt - nichts mehr passieren. Doch die blöden Umstände bleiben. Du wolltest eigentlich noch zum Arzt, Routine-Untersuchung vor dem Urlaub. Ohne Krankenkarte schwierigst. Du wolltest noch eine Menge mehr, die jetzt weitaus komplizierter wird. Und Du hast gerademal drei Stunden geschlafen. Du hoffst, dies ist Dein viel zu realer Traum. Doch Deine innere Stimme weiß, dass auch diese leise Hoffnung im eisigen Hauch der Wirklichkeit bald zersplittern wird. Du träumst nicht. Das macht es nicht besser.
Labels: Medikamentennächte
18 Wortmeldung(en):
Keine Panik. (U. Lindenberg) Die Dinge kommen und gehen - trotzdem schwierig, in solchen Situationen gelassen zu bleiben. Aber: es könnte schlimmer sein, z.B. du brichst dir ein Herz.
26/9/06 11:19
Ich habe auch soeben einen herzhochhüpfenlassenden Anruf bekommen. Eine äußerst freundliche Frau hat mein Portemonnaie in einem Kuhkaff mitten im Münsterland - dort, wo ich so wild rangieren musste - auf der Straße gefunden, hat irgendwie meine Handynummer ausfindig gemacht, und ich kann es mir heute abend abholen. Ein halbes Gebirge ist mein Herz hinabgepoltert. Ein gutes Ende mit gehörigem Schrecken vorab. Wie schön, dass es solche Ehrlichkeit noch gibt!
26/9/06 13:35
Na, das klingt dann doch wieder ganz gut. Solche Leute gibt es durchaus noch, man mag es kaum glauben...
26/9/06 14:04
Was für ein Glück, dass ich heute nacht wieder arbeiten muss, sonst hätte ich im Leben nicht gewusst, wie ich an diesen abgelegen Ort in der münsterländischen Provinz gelangt wäre. Vielleicht ein tagesfüllender Fahrradtrip... :)
26/9/06 14:12
Da wollte ich schreiben "que mierda" aber inzwischen ist es ja schon "que suerte". Que bien! :-)
26/9/06 15:40
Jau, die Frauens :-))
Eine war dir besonders hold: Fortuna heißt se....
26/9/06 19:56
Ein wahrer Alptraum, der nun doch eine gute Wendung nehmen will. Hoffentlich ist noch alles da, was da sein sollte. Na dann eine angenehme Träume heute Nacht!
26/9/06 21:38
Du machst Sachen!
Ich als routinierter "ich vergesse alles" möchte dir den Tipp geben.
Schlaf ruhig.
Es gibt Dinge die kann man nicht ändern, und wenn es so sein soll, dann hast du wenigstens die Kraft das Unglück zu ertragen...
Schönen Urlaub ... (wünsche ich trotzdem!)
26/9/06 23:09
Ahh und wiedergefunden ists auch...siehst du??!!!
Passiert mir in 8 von 10 Fällen ;).
26/9/06 23:10
Gottseidank. Ich muss mich jetzt erstmal beruhigen, das war ja fast zuviel für mein altes Herz..
Ich freu mich über deinen Kommentar. Du alter Charmeur. ;)
27/9/06 01:33
Aus diesem Grund haben Frauen Handtaschen. So ein riesen Teil zu verlieren ist schwierig und da fällt auch nicht eben mal was raus. Gibts auch für Männer! :-)
27/9/06 08:33
Klasse.
27/9/06 10:53
Mann, bin ja direkt selber schon nervös geworden. Das gute Ende ist grossartig. Bleibt nur Dir einen phantastischen Urlaub zu wünschen!
27/9/06 11:36
man kann auch ganze handtaschen verlieren bzw geklaut bekommen. findet das ganze dann noch im ausland statt, wirds schön: botschaft und solche interessanten dinge, die man sonst nur aus dem fernsehen kennt. ;)
also: gut, dass alles wieder da ist!
wünsche einen wunderbaren urlaub!
27/9/06 11:39
@talia: Die mag ich. :)
27/9/06 15:03
@deliah: Ich danke es einer Buchbestellung, die ich getätigt habe vor ein paar Wochen. Und nachdem ich mich noch leicht ärgerte, dass sie mich mitten in Frankreich auf dem Handy anriefen, mein Buch sei da, bin ich heute heilfroh - denn den Durchschlag mitsamt meiner Handynummer hatte ich noch im Portemonnaie. Und so konnte ich gottseidank sofort angerufen werden dank der geistesgegenwärtigen und immens netten Finderin.
27/9/06 15:05
@lenny&karl: Ich muss da Esther beipflichten. :) Es ist auch immerhin das erste Mal, dass ich mein Portemonnaie verliere...
27/9/06 15:05
@michael: Da sag ich "danke".
27/9/06 15:06
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