Montag, Januar 15, 2007

Fünf Ringe sie zu knechten...

Die meisten Menschen haben irgendwann in ihrem Leben einmal Zeit. Bei einigen kommt das sogar häufiger vor. Manche nutzen diese Zeit, um sich mit pragmatischem Blick einen Überblick zu verschaffen, was noch zu tun ist, um es direkt im Anschluss anzupacken und die übrig bleibende Zeit dann entweder zu entspannen oder darüber nachdenken zu können, ob nicht noch mehr zu tun sein könnte, was man prompt anpacken könnte. Andere nutzen die Zeit lieber, um intensiv darüber nachzudenken, was im Anschluss an die Zeit, die man zum Nachdenken benötigt, theoretisch noch alles zu tun wäre, um nach Abschluss des Nachdenkens zu bemerken, dass überhaupt keine Zeit übrig geblieben ist. Und so hat das Nachdenken doch immerhin den Beweis erbracht, dass zum Handeln gar keine Zeit war. Wieder andere meiden lieber a priori den Gedanken darüber, ob noch etwas zu tun sein könnte, da solche Gedanken nichts hervorbringen als mit allzu irdischer Trübnis den Tag und das Dasein zu vergiften und mit bürgerlicher Pflichterfüllung und gleichgeschaltetem Alltagsgeklingel den Glanz von der Schönheit des Müßiggangs zu kratzen.

Unter solchen und ähnlichen Menschen gibt es manche, die setzen sich stundenlang vor Bibliotheken, führen Strichlisten und sinnieren darüber, woran es wohl liegen mag, dass zwanzig Mal mehr Menschen die linke Eingangstüre sowohl zum hinein- wie herausgehen benutzen. Andere forschen jahrezehntelang an der Kommasetzung in Texten Martin Luthers (dies hochbezahlt, wohlgemerkt). Noch andere denken sich Namen aus oder streuen Fremdwörter in Diskussionen ein. „Procrastination“ ist so ein Wort, das sich Menschen mit zu viel Zeit ausgedacht haben, um endlich bezeichnen zu können, was sie tun: Sich mit Vergnügen Tätigkeiten hingeben, die nach öffentlicher Anschauung höchstens bedingt voranbringend sind, während potenziell auch – nach Meinung der profanen Umwelt – andere Aufgaben anlägen, die weit dringender sind und womöglich auch sinnvoller.

„Das Kind braucht doch einen Namen!“, krakeelen sie dann, um im nächsten Moment im Studiverzeichnis zu recherchieren, wie viele Gruppen es dort wohl inzwischen zu den Themen „Ball-Agnostizismus“, „Derrida“ oder „Eva Herman“ gibt. Solches, nicht zielgerichtetes Umherschweifen kann sehr kreative Ideen hervorbringen, kann aber auch nur als riesengroße Klatsche dienen, mit denen man Stunden gleich im Dutzend totschlägt. Auch ich habe letztens einmal wieder nachgedacht. Das kommt vor. Meistens tut es auch nur kurz weh. Dabei ging es mir um das Verhältnis von Verhältnismäßigkeit und Rechtmäßigkeit. Nehmen wir ein konkretes Beispiel:

Der Saftblog hat über das Verhältnis eines Zeitraums zu einem Sportereignis (Olympdings 1 zu Olympdings 2) nachgedacht und dabei die entsprechenden Begriffe verwendet. Ein sehr freundlicher, harmloser Artikel, aus dem in keiner Hinsicht das Ziel ersichtlich gewesen wäre, damit mehr Saft zu verkaufen. Zudem sich wohl noch erdreistet, das olympdingische Logo zu verwenden. Folgend flog ihnen eine Abmahnung in Höhe von 150.000 (in Worten: einhundertfünfzigtausend) ins Haus. Weil sie die Worte benutzt hatten und das Bild mit den Ringen drauf. Das dürfen wahrscheinlich nur Mitarbeiter, Mitglieder und Verwande des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB). Und die finanziell butternden Sponsorfirmen, die dafür bezahlt haben, die Worte und das Bild im Kleingedruckten ihrer Anzeigen unterzubringen. Es mag juristisch korrekt sein, hier abzumahnen. Schließlich haben die Blogbetreiber sich über geltendes Recht hinweggesetzt. Nun darf man aber mehrere Fragen stellen (wenn man Zeit hat):

Steckt der DOSB in einer prekären pekuniären Krise? Wie kann es sein, dass Wörter, die die betreffenden Personen nicht höchstselbst erfunden haben, plötzlich von ihnen urheberrechtlich geschützt sind und bei Gebrauch sofort Unsummenklagen ins Haus flattern? Ich könnte mir auch Wasser schützen lassen und folglich von aller Welt zusätzliche Nutzungsentgelte verlangen, da ich mir Wasser habe schützen lassen und alles Wasser folglich meins ist. Ich bitte Sie, werte Herren Sportler und Juristen. Wo bleibt denn da der Sportsgeist und der Gedanke der Fairness? Na? Hallo? Und dann mit der kompletten gerichtlichen Dampframme angepoltert kommen. 150.000 €! Ich bitte Sie!

Haben wir es hier mit dem zwischenmenschlichen Fingerspitzengefühl von Axel Schulz in Boxerhandschuhen zu tun? Mit dem Einfühlungsvermögen einer Kalksteinwand? Dass Sie im Recht scheinen, Forderungen zu stellen, vermag ich nur bedingt zu beurteilen, billige ich Ihnen aber zu. Vielleicht wäre es aber doch ein Weg gewesen, erst einmal Bescheid zu sagen, dass hier geltendes Recht verletzt wird (alle Paragraphen haben wohl nicht einmal alle Juristen auswändig parat). Dann hätten die Betreiber die achso geschützten Worte und das Bild gelöscht, sich entschuldigt, und die Sache wäre wahrscheinlich flugs vom Tisch gewesen. Vielleicht bin ich auch naiv.

Aber hier stellt sich mir glasklar die Frage nach dem Verhältnis von Rechtmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit. Neben der in meinen Augen menschlich erschreckenden und sogar vor Existenzvernichtung nicht zurückschreckenden Kleinkariertheit, Starrköpfigkeit und juristischen Stieseligkeit (inwiefern auch Sehnsucht nach Mehreinnahmen ein vorderer Beweggrund war, kann ich nicht beurteilen) bietet sich nun nochmals die Frage an: Hatten da einige Menschen zu viel Zeit, die sie nicht mit reinem Nachdenken sondern mit Handeln zu füllen trachteten? Vor allem aber: Woher nimmt der DOSB oder irgendeine gesetzgebende Instanz das Recht, gebräuchliche Wörter zu schützen? Insofern ermuntere ich, an dieser Petition teilzunehmen. Kürzer und prägnanter zum Thema kann man sich auch beim hochverehrten Fellow Passenger und bei Viktor ein Bild machen. Wenn man Zeit hat.

19 Wortmeldung(en):

Anonymous Anonym meint...

Der Link zu Viktor funzt nicht.

Übrigens, auch wir beteiligen uns mit einem Aufruf zur Zeichnung der Petition, bereits seit ein paar Wochen haben wir einen entsprechenden Link in der Sidebar. Leider ist die Beteiligung der Blogger-Gemeinde für meine Begriffe sehr müde(gestern 920, heute 921, die Aktion läuft sei Mitte Dezember).

Deiner Betrachtungsweise kann ich nur zustimmen.

16/1/07 10:38

 
Blogger Lenny_und_Karl meint...

Ja Ole die Zeit und die Bibliothekstür. Sehr gut. Petition ist unterschrieben, denn auch der Kreuzberger hatte schon ein paar Sätze in seinem Blog dazu verfasst. Ich schütze die Farbe blau und falls der Himmel mal wieder blau werden sollte....

16/1/07 10:42

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@opa: Link ist nachgebessert. Den Aufruf habe ich auch bei Euch schon gesehen und selbst bereits vor Wochen gezeichnet. Nichtsdestoweniger braucht das Thema ja immer noch ein wenig Aufmerksamkeit, gerade weil so wenige Menschen sich bislang beteiligt haben. Und so dachte ich, ich stoße nicht direkt mit dem Hauptpulk sondern ein wenig später dazu. :)

16/1/07 10:53

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@lennyundkarl: Ja, plötzlich wurde der Glossenschreiber in einer Glosse beschrieben. Doppelt reflexive Ironie des Daseins. Womöglich werde ich nun wiederum als Beobachter des Beobachter in den Beobachtungen des Beobachters beobachtet?! Derzeit scheint es fast verdienstvoller, sich auch noch das Grau des Himmels zu schützen. Aber wer will das schon? Und wer zahlt für grauen Himmel? :)

16/1/07 10:55

 
Anonymous Anonym meint...

Schön, dass Du jetzt auch mitmachst. Es stockt ja zurzeit ein wenig.

Apropos Kommasetzung bei Luther: Ich "durfte" mal im Deutschunterricht analysieren, warum Georg Büchner im "Hessischen Landboten" an einer Stelle ein Semikolon und nicht Punkt oder Komma gesetzt hatte. 45 Minuten lang.

16/1/07 11:29

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Ich glaube mich zu erinnern, dass es Klaus Doderer war, der sich ganze dreißig Jahre mit den Satzzeichen in Luthers Texten befasste. Ich bin ihm im zweiten Semester mal bei einer Hausarbeit begegnet. Daneben nehmen sich 45 Minuten, die indes für ein einziges Satzdings schon enormst sind, ja fast schlapp aus.

16/1/07 13:47

 
Anonymous Anonym meint...

"Keine Zeit" gibt es nicht, nur schlechtes Zeitmanagement.

16/1/07 17:12

 
Anonymous Anonym meint...

Ganz gewiefte Taktik. Ausspreche mittlere Anerkennung! :-)

16/1/07 18:42

 
Anonymous Anonym meint...

Zu Beginn Deines Beitrags dachte ich darüber nach in den Bemerkungen ein kleines Loblied über das (mir leider nicht mögliche) Leben des Bohemiens zu schreiben, jetzt schreibe ich nur: "Du hast Deine Zeit genutzt :-)" Beachtlicher Artikel, den man direkt im Briefkasten des Verbandes wiederfinden sollte.

16/1/07 21:04

 
Anonymous Anonym meint...

Ich lese mich erst mal ein, aber wenn es wirkl9ich so ist, dann nimmt das mittlerweile dimensionen an... ich versteh die leute nicht, die ohne mal vorher zu fragen ein foto verwenden und dann über klagen jammern, aber die story scheint mir auf den 1. blick einen schulter schluß wert. danke für den hinweis, ear ole.

17/1/07 00:35

 
Anonymous Anonym meint...

ole, sehr geschmackvolles neues karamell-titelbild, das läßt einem ja alles im munde zusammenlaufen, aber wo ist diese wunscherschöne zeichnung von dir??? - träne kuller...

17/1/07 09:31

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@brit: Es soll mir hier ja auch nicht darum gehen, eine Generalamnestie o.ä. zu fordern. Aber so wie sich mir die Geschichte dargestellt hat, finde ich die Reaktion und Forderung in irritierendem Maße überzogen, auf so rechtskräftigen Füßen sie auch stehen mag.

17/1/07 10:35

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@rulla: Es ist nach wie vor zu bewundern unter dem Link "Selbstgemaltes, Selbstgeknipstes". :)

17/1/07 10:35

 
Blogger viktorhaase meint...

prima. die sache braucht einen neuen anstoß.

17/1/07 12:41

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Michael, ich dachte, ich nehme mir ein wenig Zeit, um erst noch ein paar Kühe aufs zeitgerechte Glatteis zu schieben, bevor ich ans eigentliche Thema gehe. :)

17/1/07 14:50

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Viktor: Versprochen bleibt ja auch versprochen. :)

17/1/07 14:52

 
Anonymous Anonym meint...

Manchmal und für manche Texte könnte ich Sie küssen...

17/1/07 18:10

 
Anonymous Anonym meint...

Tut mir Leid, mich hat die Olympiade noch nie annähernd interessiert.
Aber der Text ist dennoch unterhaltsam.. die Bibliothekstüren erinnern mich an meine gute alte Schulzeit; da hat man sowas meistens gemacht, wenn den Lehrern nichts mehr eingefallen ist.

Der neue Header begeistert mich sehr. Besser als der alte, obwohl der alte natürlich auch nicht von schlechten Eltern war. Aber der Neue ist klassischer.

18/1/07 07:02

 
Anonymous Anonym meint...

Hihi, lustige Idee, der DOSB als das neue Prekariat.

18/1/07 22:28

 

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