Donnerstag, März 08, 2007

Unweit vom Dümmer

Geschwungene Kringel auf Fliesen, aus Ton gebrannt, reihen sich wie eine Backsteinbordüre oder ein Gürtel, wie Perlen auf der Schnur um das ziegelrote Hauptgebäude. Doch fast niemand schert sich je darum. Im Obergeschoss sind die Gardinen vergilbt. Im Eingangsbereich langweilt sich ein Passbilderautomat. Selbst dem Zigarettenautomaten neben ihm hat er schon lange nichts mehr zu sagen. Der Wind weht, ohne sonderliches Interesse zu zeigen, dann und wann in linden Böen über den Dachfirst, greift einer umherliegenden Plastiktüte unter den Rock, wirbelt sie herum, doch gibt es bald auf. Das Publikum sieht nicht hin. Genau genommen gibt es nahezu keins. In den Briefkasten wurden heute Vormittag zwei Briefe und eine Postkarte geworfen - um fünf wird sie ein Postbeamter abholen. Vielleicht werden noch drei Postkarten hinzukommen. Vielleicht auch ein Geschäftsbrief. Noch ist nicht Feierabend, es ist gerade erst früher Nachmittag.

Die gittrigen Milchglasfenster der Treppe hinüber auf den anderen Steig sind von Dreck und Algen noch stumpfer geworden. Viele der Stahlnieten rosten. In einiger Entfernung glitzern kleine Regenwassertümpel, die sich auf den Stoppelfeldern gebildet haben. Schlackehaufen, die schon lange niemand mehr berührt hat, langweilen sich. Fahrräder warten auf ihre Fahrer. Stunden-, manchmal tagelang. Drei fette Schülerinnen in Bomberjacken sitzen auf der Bank und rauchen. Sonst ist niemand da außer mir. Auf den verwaschenen Betonfliesen klebt alter Kaugummi. Wohl schon seit Monaten. Vielleicht Jahren. Die dicken Drei beratschlagen, wer heute abend Korn mitbringt und wer Cola. Sie werden dann zu viert sein und daher von allem jeweils vier Flaschen brauchen. Und später ins "Empire" gehen. Und dass der Tobi jetzt ja mit der Vanessa. Und dass die sich ja sogar geküsst... und das, obwohl der doch so viele Pickel im Gesicht... igitt.

Die Dickste unter ihnen - mit Lefzen wie eine Bulldogge - zerrt eine aufgerissene Plastikpackung aus ihrem Rucksack. Drei trockene Wiener Würstchen krümmen sich noch darin. Zwei davon grapscht sie mit ihrer linken Hand, zieht noch einmal an der Kippe und stopft sie dann in ihren Mund (stereo). Erst jetzt sehe ich, dass sie eine Zahnspange trägt. Wahrscheinlich werden sich Wurstfetzen darin verheddern. Die anderen beiden rauchen weiter und sehen scheinbar die Schlackeberge an. Da sich dort nicht viel tut, blicken sie dann und wann woanders hin. Oder denken an den Korn und die Cola. Noch ist ungeklärt, wer was mitbringen wird. Die Sonne schiebt einige Wolkenberge beiseite. Das Gebüsch, das seine trockenen Finger durch den rostigen Maschendrahtzaun steckt, grünt noch nicht. Nichts regt sich auf den Gleisen. Und dann kommt er doch. Der Zug. Wie ein roter Wurm kriecht er um die Kurve. Und ich steige ein, damit er mich rausbringt aus der Einöde. Raus aus Diepholz im ländlichen Nichts, nördlich vom Teutoburger Wald. Die Mädchen bleiben sitzen in ihren Bomberjacken. Sie scheinen nirgendwohin fahren zu wollen. Sie rauchen, essen Wurst und organisieren, wer Korn und Cola besorgt. Vielleicht werden sie es auch in Stunden noch tun. Dann werde ich weit weg sein von hier.

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10 Wortmeldung(en):

Blogger Melli meint...

Es gibt wahrlich schönere Dinge im Leben, als das Organisieren und Zelebrieren solcher "Festlichkeiten".

Auf der anderen Seite empfinde ich es jedoch als erstaunlich, wie leicht man doch manche junge Menschen zufrieden und glücklich stimmen kann....

8/3/07 19:34

 
Anonymous Anonym meint...

Warum in die Ferne schweifen? Sieh, der Maschendrahtzaun liegt so rostig nah!

Hoffentlich verheddert sich die Zahnspange nicht darin.

8/3/07 22:22

 
Anonymous Anonym meint...

Der Tobi mit der Vanessa ist ja wohl voll krass. Echt die Härte. Sowas hör' ich jetzt immer morgens im Bus. Ganz erstaunlich, wie leicht juvenile Leidenschaften anzustacheln sind.

(Sehe gerade den Tristram Shandy unter Deiner Leselampe und gratuliere. Da gibt's auch einen Toby. Der später die Witwe Wadman, Vanessa oder nicht, mit den Künsten des Fortifikationswesens belagern wird - auch umgekehrt. Ganz großer Fußball. Hoffentlich in der Michael-Walter-Übersetzung.)

8/3/07 22:51

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@opa: Ich werde dort so schnell nicht wieder hinkommen. Aber so kreidestumpf sie auch wirkten, so blöde, sich in einem Zaun ohne Durchgang aber mit Gestrüpp zu verheddern, wirkten sie dann auch nicht. :)

9/3/07 02:06

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@melli: Man muss wohl die Chancen nutzen, die sich einem bieten. Und derlei gibt es rund um Diepholz wohl nicht so viele. Und was soll man sich dann um Alternativen scheren, die gar nicht in Frage kommen? :)

9/3/07 02:07

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@simplex: Jepp. Hatte vor Jahren mal angefangen ihn zu lesen in der Rudolf Kassner-Ausgabe, bin aber nie wirklich reingekommen. Nun bin ich aber mit voller Fahrt drin und mit glühender Begeisterung dabei. In der Michael Walter-Übersetzung und der schnieken, luxuriösen, todschicken (nur leider auch nicht ganz billigen) Neuausgabe bei Eichborn. Trotz der fast 40 Euro Anschaffungskosten jeden Cent mehrfach wert! Erwäge derzeit, noch ein Fortifikations-Studium anzuhängen. Oder Nasologie. Absolut großartiges Werk. In jeder Hinsicht.

9/3/07 02:45

 
Blogger Scheibster meint...

Wundervoll beobachtet und beschrieben. Ländlich Einöde ohne Perspektiven.

Gut, Herzverfettung mit Gratisinfarkt, Lungenkrebs und Leberzirrhose mögen manchem wie ein Segen erscheinen im Vergleich zu noch mehr Jahren in Diepholz.

Aber kann es das sein?

Und überhaupt, wenn Vanessa genauso aussah und sich gebar wie die anderen drei, muss die arme Sau ganz schön verzweifelt gewesen sein.

*wirftfünfeuroindasarroganzschwein*

9/3/07 09:57

 
Blogger Lenny_und_Karl meint...

Zum letzten Satz sage ich nur: Zum Glück!

10/3/07 11:26

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

Und zum Rest? ;)

10/3/07 11:48

 
Blogger Oles wirre Welt meint...

@scheibster: Gratisinfarkte werden im Zuge der Gesundheitsreform alsbald vom Markt verschwunden sein. ;)

10/3/07 11:49

 

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