Eine Seefahrt, die ist lustig...
Festvertäut liegt der rotweiß getünchte Riese vor uns in den Fluten, ragt steil in den dunklen Abendhimmel auf. Menschenmengen wuseln vor dem Eingang des Terminals durcheinander. Kofferrädchen rappeln über Bordsteinfugen. Autos hupen, kurven, quetschen sich als zähflüssiger Blechstrom durch schmale Fluchten. Fahrer suchen Parkplätze. Uns geht es ebenso. Und wir hatten mit nichts anderem gerechnet: Wir sind die einzigen zwei Nasen, die sich mit dem Fahrrad zum Fähr-Anleger aufgemacht haben. Für die wenigen Geschöpfe, die zur Fähre radeln, haben die Linien-Betreiber indes keine Ständer gekauft. Mit leicht mulmigem Gefühl ketten wir insofern die zwei klapprigen Stahlklepper am Gebüschrand der Bushaltestelle um ein Straßenschild. Nicht dass ordnungsliebende Bürokraten oder Langfinger sich daran zu schaffen machen. In den kommenden anderthalb Tagen werden wir keine Chance haben, ein Auge auf sie zu werfen. Denn an Bord der ausgebuchten MS Isabella wollen wir nebst 2.500 anderen Fahrgästen um neun Uhr abends ablegen, um die Nacht über von Turku über Långnäs auf Åland durch den Bottnischen Meerbusen nach Stockholm zu schippern.
Niemand röntgt unsere Rucksäcke, als wir durch die Sicherheitskontrolle schlurfen. Niemand tastet uns ab. Nirgends wird gewogen, wie schwer unsere Baggage ist. Kein Mensch erklärt Joghurtlöffel zu tödlichen Waffen. Ein wohltuendes Vertrauen. Eine halbe Stunde vor dem Ablegen drängelt der kofferbepackte Pulk an Bord. Unsere kleine Kajüte liegt auf dem untersten Deck des Schiffes, im Rumpf. Direkt über uns das Autodeck, wo sich Fahrzeuge dicht an dicht quetschen. Es gibt einen Fahrstuhl, doch um den Wartepulk zu umgehen, klettern wir durch winzige Treppengänge hinab und beziehen die vier Wände, die für die nächsten elf Stunden unser Refugium sein werden. Inklusive Astronauten-Klo samt Dusche. Schlicht, doch angenehm sauber. Einen Sonnenuntergang auf See können wir bestaunen. Von Vorhängen eingerahmt. Die Sonne ist längst untergegangen, auf See sind wir noch nicht: Um ein Fenster handelt es sich folglich nicht. Wie auch. Unsere Schlafstatt liegt nicht an der Außenwand. Es ist Foto-Tapete. Macht nix. Auch schön. Ein kleines Radio ist in eine Messingleiste unterhalb der untergehenden Sonne eingelassen. Ich drehe am Knopf. Weißes Rauschen und wenige unverständliche Silben. Klick. Aus.
Ein eng bedrucktes Pamphlet preist uns das Programm der Nacht bis hinein ins Morgengrauen an. Es hält uns nicht lange unten im Schiffsbauch. Und so schwirren wir mit dem Fahrstuhl aufwärts, stapfen hinaus an Deck, wo uns die eisig-steife Westbrise fast die Brillen von den Nasenbeinen fegt. Die bronzefarbenen Lichter des Hafens von Turku schrumpfen ins Dunkel hinein.
Von Nieselregen umschwirrt, klammern sich Raucher mit klammen Fingern an ihre Zigaretten. Rauchfahnen verwirbeln im Nu. Gemütlich zockelt unser Dampfer an leuchtenden Bojen vorbei, die die schmale Fahrrinne anzeigen. Gut vierzig Seemeilen muss sich das Schiff zwischen den etwa 20.000 kleinen Schären-Inseln hindurch, ehe ansatzweise die offene See erreicht ist. Warm erleuchtete Fenster von Holzhäuschen lugen aus dunklem Wald-Dickicht an den Ufern. Seemöwen kreischen ihr Abendlied. Schräg vor uns durchpflügt der Bug rauschend die sanften Wogen.
Eine knappe halbe Stunde lassen wir die Böen um unsere Ohren flirren. Das Hirn lüften. Drinnen nimmt das Bord-Programm allmählich Fahrt auf. Auf dem Shopping-Deck rattern die Rollos des zollfreien Supermarktes hoch. Kauflustige Horden stürmen durch die schmalen Gänge, stopfen Zigarettenstangen in die Armbeugen, stapeln Bierdosenkartons. Whiskey-, Weizenbier- und Wodka-Pullen klappern, riesige Toblerone-Stangen türmen sich, auch wandern Schokoladentafeln in die Einkaufswagen, groß und schwer wie Folianten. Oder gigantische Lakritz-Säcke. Beißendsüße Parfümschwaden wabern durch die Gänge. Hektisch werden Flacons gegrapscht, geschüttelt, Wölkchen zerstoben.
Ein Deck darüber sind viele der Spielautomaten schon besetzt. Eine Finnin mit Steinpilz-Frisur singt Karaoke. Die ersten Biere sind bereits geleert. Schaumbläschen zerplatzen am Glasboden. Eine Gruppe von sieben englischen Schülern sitzt im Treppenhaus und zückt Taschenmesser: Dosenstechen! Äußerst beliebt in Finnland und Schweden: Das Oktoberfest. Und so servieren drallbusige Blondinen in knackengen Dirndln Masskrüge. Eine schrulliges, quietschfideles Quartett mit Tirolerhüten, gezwiebelten Schnurrbärten und Lederhosen liefert dafür die passende musikalische Schunkelgrundlage, rumpelt sich durch bajuwarische Gassenhauer, die sie teils auf finnisch, teils in radebrechendem Deutsch singen. Spätestens als die spritbefeuerte Meute „Ich hab drei Haare auf der Brust, ich bin ein Bär“ grölt, wird dieser skurrile Auftritt zu einer Sternstunde.
Im großen Nachbarsaal werden teure Cocktails geschlürft. Graumelierte Gestalten kuscheln zu Bossa-Nova-Klängen einer Tanzband über ein Plexiglas-Karree. Das Casino hat inzwischen auch geöffnet. Scheine Flattern, faites vos jeux, Mist, Mienen ringen um Fassung, wenn einmal mehr die falschen Karten auf der Hand landen. Ein sturzbetrunkener Glatzkopf prügelt sich mit Sicherheitskräften, die ihn mit auf den Rücken gedrehten Armen in einen Fahrstuhl wuchten und irgendwohin bringen. Um Mitternacht öffnet die Disco, wo überwiegend russischer Techno und Rihanna gespielt werden. Fast niemand tanzt dort zu Beginn. Ob es später anders wird? Ich erfahre es nicht mehr. Gegen eins schleichen wir uns zurück in die kleine Kabine, knipsen das Licht aus, ehe um fünf Uhr morgens der Kapitän aus dem Radio kräht, in anderthalb Stunden lege das Schiff an, wir möchten doch allmählich aufstehen, könnten noch für teures Geld frühstücken, alsbald beginne zumindest die Kabinen-Reinigung. Wir grummeln leise, drehen uns auf den beiden Pritschen links und rechts des schmalen Gangs noch dreimal um, ehe wir uns dann doch aus den Betten hieven. Noch immer geht die Sonne auf See unter. Wir werfen uns kristallklares Wasser ins Gesicht, putzen Zähne, schnüren unsere Siebensachen zusammen und schultern sie, um noch einmal an Deck zu klettern. Links der Fahrtrinne klammern sich Wohnhäuser an breit ausladende Hügel ins Dunkel. Der erste Morgenkaffee scheint schon aufgegossen, aus einigen Fenstern strahlt warmes Licht. Ganz ruhig schippern wir der schwedischen Metropole entgegen, deren Lichtschein immer näher rückt. Und damit ein eindrucksvolles weiteres Kapitel der Reise.
22 Wortmeldung(en):
Was ein schöner Text!
19/11/07 10:49
Ja, so kann man es auch sagen :-)
19/11/07 10:58
Gut beobachtet und lebendig beschrieben. Eine Frage:
Was ist eine Steinpilzfrisur?
19/11/07 13:58
@sillerin: Stell Dir einen Haarschopf gewordenen Steinpilz vor. Etwas regenschirmiger als ein beatlesker Pilzkopf. :)
19/11/07 14:07
@sabbeljan: Dös freit mi.
19/11/07 14:08
@opa: Erfreuliche Variante. Was wären die Alternativen gewesen? ;)
19/11/07 14:08
WIIEEEEEEEE? und ihr hab NICHT getanzt???
erschütternd, was für ein deutschlandbild ein kleiner teil dieses landes international hinterlässt...
19/11/07 15:14
obwohl ich gestehen muss, toblerone - dafür gäbe ich einiges, da hätte ich glatt mitgekauft
19/11/07 15:16
Welch Atmosphäre in Wort und Bild ... schwelgen, nichts als schwelgen ... und wenn jetzt noch die Drahtesel da waren bei der Rückkehr ...
Herzlich
Ihr Erdge Schoss
19/11/07 15:19
@rulla: Nicht zu russischem Tekkno. Aber da hat auch sonst niemand getanzt. Es war auch niemand da, der hätte tanzen können. Über alle weiteren unserer Tanz-Aktivitäten steht doch gar nichts im Text. Es ist ja nur eine selektive Beschreibung einiger (und nicht aller) Erlebnisse... :)
19/11/07 15:25
@rulla (II): Ist ja auch zu lecker.
19/11/07 15:25
@erdge: Ich hatte selbst nicht damit gerechnet, aber: Ja, waren sie, waren sie.
19/11/07 15:26
Genialer Text mit wunderbaren, leuchtenden Sprachbildern.. Eine Finnin mit Steinpilzfrisur, Russischer Techno und Rihanna, was für eine Kombination! :)
Was Herr Erdge andeutete, habe ich mich auch gefragt: Waren die Fahrräder noch da?
19/11/07 15:31
@anna: Freut mich. Und wie ich schon Herrn Schoss schrob: Ja, waren sie.
19/11/07 15:37
Ach Ole, es fing so wunderbar still und naturnah an...und dann: doch nur wieder karnevalleske Menschenviecher...wie bitter diese Welt doch ist! Ich hätte mir ein bis zehn zollfreie Bier gekauft, sie ganz profan mit dem dafür vorgesehenen Schnips geöffnet und mir irgendwo am hinteren Ende des Schiffes ein sehr, sehr einsames Plätzchen gesucht und in der nebelfeuchten Luft eine geraucht ;)... (bei der Vorstellung finde ich die Vorstellung schon wieder schön)..und MS Isabella? Die große Sehnsucht nach Wärme und Sonne????
19/11/07 22:01
Schöööööne Isabella von Kastilien? :)
Es tut mir Leid, FrauH. So ist das Leben. Mich hat selbst befremdet, wie hochprozentig die beiden aufeinander folgenden Beiträge waren. Aber ich finde, auch in besoffenen Köpfen kann viel Anmut liegen. Und es gibt ja eben durchaus noch das "Daneben", das Suff-Jenseits. Man muss nur hinschauen. Das ist das Tröstliche. :)
19/11/07 22:09
3?
Das wäre schön.
Habe jüngst ein graues Brusthaar entdeckt und sofort herauspinzettiert!
20/11/07 10:32
Mit drei Brusthaare ein Mann wird zum Bär?
Oh no!
Mc, für jeder Graue das Du herauspflucht wachsen zwei neue.
Ole, toller Text!
20/11/07 19:33
Alternative: trockene Berichterstattung a la Opa mit einem Hinweis, dass es sich um eine wahre Begebenheit gehandelt hat ;-)
21/11/07 14:32
Überfahrten mit den Känen auf der Ostsee sind leider meist wenig spektakulär.
21/11/07 16:38
@the exit: da habe ich von der fähre helsinki - tallinn ganz anderes gehört. :)
21/11/07 17:37
lars: Es gibt ja durchaus relative Bären. Von Homer Simpson bis zu Chewbacca aus Star Wars ist es ja auch nicht weit. :)
21/11/07 17:45
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