Szoltan, der Dauerpassagier
Schon als Kind hüpfte sein Herz vor Freude, wenn er qualmende, zischende Dampfloks sah. Lokführer wollte er werden. Gigantische Eisenschlangen durch die Lande steuern. Unbedingt. Und den Heizer herumkommandieren. Aber den Heizer gab es nicht mehr, seine Minitrix-Eisenbahn hatten seine Eltern verscheuert, als er zwölf war. Dann waren kurzzeitig auch Mädchen spannender geworden. Aber mit Mädchen konnte man sich nicht über Eisenbahn unterhalten. Über den Kohletender der alten 52, über das Krokodil, über Neigewagentechnik, Drehscheiben vor Ringlokschuppen, den Güterbahnhof in Hamburg-Maschen oder die alten Schweineschnauzentriebwagen.
So wurden ihm Gespräche mit Mädchen früh fad, auch wenn ihre Gegenwart auf anderer Ebene seltsam prickelte. Seit zwei Jahren studierte er nun. Beziehungsweise: Er fuhr Zug. Schmierte sich frühmorgens einige Stullen, nahm sich Lektüre mit (alte, antiquarisch erworbene Modelleisenbahnmagazine mochte er), kochte sich eine Thermoskanne Kaffee und fuhr einfach los. Kurvte quer durch Niedersachsen. Kaufte sich ein Teilchen im Uelzener Bahnhof, stieg in Helmstedt aus, um nicht die Bordtoilette benutzen zu müssen, suchte in Hameln nach einer Telefonzelle.
Während tausende unbekannter Häuser an seinem Blick vorbeizischten, wurde ihm bewusst, wie viele dieser Häuser er nie in seinem Leben betreten würde, wie viele Frauen dort wohnten, mit denen er nie schlafen würde, wie viele Menschen es überhaupt gab, die man nie kennen lernen würde. Doch wollte man das wirklich?
Auch dachte er manchmal darüber nach, wenn der Zug jetzt dauerhaft verschlossen bliebe und man auf lange Zeit nur mit den derzeitigen Insassen zu tun hätte - mit wem könnte man sich anfreunden, welche Frauen würde er für sich interessant finden? Auch konnte er, was er sah, in Musik umsetzen im Kopf. Das Talent hatte er, doch entgegen aller guten Ratschläge weigerte er sich, es zum Geldverdienen zu nutzen. Diese Gedankenspielereien verkürzten ihm die Fahrzeit enorm. Und sie ergänzten sich mit seinem zweiten Hobby, Menschen zu beobachten, ihnen fiktive Biographien anzudichten.
Langweilig nur, dass scheinbar heute niemand von Osnabrück nach Diepholz fahren wollte. Nun gut, es war erst 7 Uhr morgens. Aber niemand zum beobachten.
So durchwaberte das Abteil eine reglose Langeweile. Szoltan kaute weiter an seiner Kochschinkenstulle und starrte aus den schlierigen Scheiben. Draußen erstrahlte die Sonne inzwischen in reinem Fis-Dur, die Bäume sausten im Dreivierteltakt vorbei. Ritardando, nächster Halt: Lemförde.
Labels: In vollen Zügen
25 Wortmeldung(en):
Ja, die Studentenbewegung ...
7/4/06 13:10
Musik und Menschen und ein einsamer Dauerpassagier, das ist wohl die richtige Mischung, für eine gute Geschichte.
7/4/06 13:22
william turner lässt auch irgendwie grüßen...
7/4/06 13:23
Traumhaft... schön...
Gibt es solche Menschen wirklich?
7/4/06 15:47
Gibt es da biographische Züge?
7/4/06 16:04
Vor allem der letzte Absatz erinnert mich irgendwie an Christian Anders: "Es fährt ein Zug nach nirgendwo - mit mir allein als Passagier ..."
7/4/06 17:31
@dolce vita: Ich selbst fahre zwar auch häufiger mal Zug, aber schon mit konkretem Ziel und nicht anstelle des Studiums. Autobiographische Bezüge sind vielleicht in minimalstem Umfang vorhanden, vielleicht aber auch nichtmal das. Die Geschichte, so wie sie hier erzählt wird, hat mit meinem Leben keine nennenswerte Ähnlichkeit.
7/4/06 19:46
@diagonale: Möglich wär's ja. :)
7/4/06 21:08
@ich bin erkältet: Mal sehen, was sich aus dieser ersten Keimzelle noch entwickeln mag. Bin selbst gespannt. :)
7/4/06 21:09
@anonym: Turner ist großartig, aber mir fehlt grad ein Bild vor Augen, was mir in Zusammenhan gmit dieser Geschichte einfallen könnte...
7/4/06 21:10
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7/4/06 21:42
puffreis ist auch nicht schlecht.... :-))
wünsch dir ein herrliches wochenende!
7/4/06 21:44
Wer online Klavier spielen lernen möchte, kann meinetwegen da unten mal reinschneien. Wer nicht will, dem geht's wie mir. :)
7/4/06 21:53
Falls Szoltan noch frei sein sollte, ich nehm ihn gerne. Ich red dann auch über Eisenbahnen.
7/4/06 23:12
Nach Telefonzellen in Hameln suchen. Großartig!
8/4/06 13:26
Was für ein geiles Foto! Und was für ein geiler Text dazu! :)
8/4/06 14:45
...stimmt, als obs in Hameln am Bahnhof keine Telefonzelle gäbe!? :)
8/4/06 18:45
Verehrter Mr. Absurdistan,
wunderschöne Geschichte - aber nigelnagelneu ist sie nicht. Mir ist beim Lesen der "Dürfer von Trees" wieder in den Sinn gekommen. ;-)
Deine Version ist aber mindestens genauso gut !
8/4/06 21:33
ein hoch auf das reisen!
8/4/06 23:55
Na, Herr Cordsen, "täglicher, als du denkst" ? :)
9/4/06 14:50
Ein lautes Hoi an Oles wirre Welt!
Deine Nachricht ist schon länger her - trotzdem großes Dankeschön. Beim nächstes Einsturz des Weltbildes werde ich streng genau darauf achten, dass der Kopfwandkontakt genau eine Stunde betragen wird :)
Bis bis, Gruß,
ladosy
10/4/06 01:46
@nora: Das "täglicher als Du denkst" wird auch prompt wieder wegretuschiert, nachdem sich am Wochenende unser seltsames externes WG-Modem erhängt und erschossen hat. Von zu Hause komme ich derzeit nicht mehr ins Netz, auf unbestimmte Zeit. Insofern ist's dann auch schwierig, von sich lesen zu lassen.
10/4/06 10:25
@french kiss: "Dürfer von Trees" sagt mir die Bohne nichts. Ich habe zwar beim Nachgoogeln grad irgendwelche Artikel gefunden, schlauer daraus geworden bin ich aber auch maximal bedingt. Keine Ahnung. Ich hatte keine Vorlagen im Kopf beim Ausdenken. :)
10/4/06 10:27
@Lu: Heißesten Dank! :)
10/4/06 10:29
@ Ole: Das hatte ich Dir auch nicht unterstellt. :-) Es handelt sich beim "Dürfer von Trees" um eine Gestalt in einem sehr phantasievollen Kinderbuch, das ich vor langer Zeit einmal gelesen habe...
10/4/06 10:32
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