Jenseits der heimlichen Vitrinen des Alltags
Er meinte, das seien Großstadtdiamanten und fügte an, selbst in einer leeren Cola-Dose stecke Poesie. Er habe eine große Vitrine gebastelt, sagte er, erinnere ich mich, und darin habe er eine Reihe benutzter Spritzen aufgestellt, die direkt Gitterzaun hinter dem Spielplatz am Kösliner Ring gelegen hätten. Daneben hätten Kinder gespielt. Und eins habe gesagt: "Guck mal, wir haben ein riesiges Loch gebuddelt." Und da habe er gestaunt, denn es sei ein sehr großes Loch gewesen. Gerne hätte er es mitgenommen. Aber es sei kein Platz in seiner Wohnung für ein Sandkastenloch gewesen.
Und wenn er etwas nicht mit nach Hause nehmen konnte, habe er sich davorgekniet, es fotografiert und die Aufnahmen liebevoll in Fotoalben geklebt. Eine Wasserwaage benutze er dafür sogar, sagte er, erinnere ich mich. Man solle Fotos nie schief einkleben.
Er erzählte, er sei ein Archäologe der Gegenwart, lachte darüber und schnippte Asche in seinen Plastikbecher. Ganz leer getrunken hatte er ihn scheinbar nicht (es sei Kalhua-Apfelsaft gewesen, sagte er, das möge sonst niemand, ihm munde es vorzüglich), denn es zischte, als die Glut hineinfiel. Dann betrachtete er mich plötzlich mit einem Blick wie verwelkende Lilien und fragte sehr leise, fast gehaucht: "Findest Du das seltsam?"
"Ich mag so etwas sage ich", und dann lächelte ich. "Das ist selten", sagte er, erinnere ich mich, ehe er sich umdrehte und zu einer Runde Medizin-Studenten hinüberschlich, die seit einer halben Stunde in ein Buch zu Photosynthese vertieft schienen, über dessen Inhalt sie lebhaft diskutierten. Auch ihnen hätte er gern über seine Sammelleidenschaft erzählt, glaube ich. Zumindest hob er zweimal an. Doch niemand beachtete ihn. Und so ging er allein in die Küche, klaubte zwischen dem Kartoffelsalat und dem Nudelsalat einen neuen Plastikbecher hervor und schenkte sich abermals Kalhua und Apfelsaft ein. Minuten lang stand er nur da, blickte in die halbleer gegessenen Schüsseln und zupfte sich am fusseligen Kinnbart. Dann entschied er sich zum Gehen.
Er kam noch einmal kurz zu mir herüber und flüsterte mir zu, gleich beginne die Morgenröte. Dies sei die beste Zeit, um neue Großstadtdiamanten zu entdecken. Er nahm noch einen großen Schluck, stellte den Becher auf die Kommode im Flur und verschwand, ohne sich von den restlichen Gästen zu verabschieden. Still. Fast unhörbar schloss er die Tür. Erst als er fort war, fiel mir ein, dass er mir seinen Namen gar nicht verraten hatte, erinnere ich mich. Und staunend musste ich feststellen, dass auch kein anderer der Gäste ihn wusste. Niemand hatte ihn zuvor gesehen. Bis heute habe ich ihn nicht wieder getroffen. Ich hätte mir sein Museum gerne einmal angesehen.
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