Geisterstunde vor dem Ahlener Bahnhof. Die Bahnhofs-Uhrzeiger haben Mitternacht just verlassen. Über den Dachwipfel lugt der Mond hervor wie eine Honigmelonenspalte, serviert auf schwarzem Tuch. Betrunkene Kreppeisen-Frauen geistern über die Bürgersteige. Eine davon gespenstisch in einem zerschnippelten Bettlaken. Pinneken baumeln an Nylonbändchen um die Hälse. Unbenutzt. Sie schlucken direkt aus der Pulle. Grölen „Viva colonia“.
Lieferwagen in der Haltebucht geparkt. Schlüsselbund klappert silberhell beim Schlüsselsuchen. Schmutziggelbe Wanne vom Stapel geklaubt. Stahltür quietscht beim Aufschließen der Lieferschleuse im Taxistand. Wird morgen abgeholt, dann. Kurze Pause. Brötchentüte raschelt beim Griff in den Rucksack. Pfefferminztee gluckert beim Eingießen. Noch zu heiß zum Trinken. Gute Thermoskanne. Edelstahl. Die Grölfrauen torkeln vorbei. Junggesellinnenabschied. Süß stechende Parfümwolken, schon aus meterweiter Entfernung. Ein Pottwal schlurft auf mich zu. Hafergrützfarbene Strickjacke, Boxerlefzen, Tripelkinn, schnauft. Taxifahrer. Aus dem Mundwinkel hängt ein Wurstzipfel, im Schnurrbart Krümel.
- Hey Burschi!
- Äh, ja?
- Siehst aus, als ob Du Geld gebrauchen kannst.
- Eigentlich immer. Aber Sie werden mir doch nicht einfach welches schenken?
- Ich hätte da nen Geheimauftrag.
- Ach.
- Ja. Ich hab da ein Problem.
- Und dabei kann ich helfen?
- Vielleicht. Was haste denn zu tun gerade?
- Fahre Medikamente aus. Mache kurz Pause, um gleich weiterzukurven.
- Willste Dir nicht 50 Euro extra verdienen?
- Wie das?
- Ich hab da nen Spezialauftrag. In Rinkerode sitzt ein besoffener Gastwirt. Darf nicht mehr Auto fahren. Muss aber zurück zu seinem Restaurant, hier um die Ecke. Soll da hinfahren, ihn abholen und dann musst Du sein Auto zurückfahren und ich nehm ihn mit dem Taxi mit.
- In Rinkerode war ich aber gerade erst. Das ist die völlig verkehrte Richtung.
- Mann, hallo? Fuffzich Piepen. Da sacht man doch nich „nee“! Ich hab grad schon mit Gisela telefoniert.
Der Pottwal wird laut. Der Wurstzipfel fällt beim Sprechen aus dem Mundwinkel.
- Wer ist denn Gisela?
- Na meine Kollegin. Die Gisela. Tolle Frau. Die hat Mööpen, sach’ ich Dir.
- Und was haben Giselas Mööpen mit fünfzig Euro zu tun? Und vor allem mit mir?
- Na… nix!
- Ach was.
- Janee. Aber die Gisela kann nicht. Die wär sonst mitgefahr’n nach Rinkerode. Den ollen Suffkopp hierherkutschier’n. Also… biste dabei?
- Das macht aber ne Stunde Umweg. Vielleicht mehr. Und ich bin so schon erst um drei im Bett. Und außerdem bin ich doch nicht versichert, dann. Und ich kann den Lieferwagen hier doch nicht einfach stehen lassen.
- Versichertpopichert. (Er kichert) Watt bistn Du für’n spießiger Vogel? Ich mach Dir datt Geschäft Deines Lebens und Du kommst mir mit „versichert“.
- Wenn beim Geschäft meines Lebens nur 50 Euro rausspringen, wird’s ein armes Leben.
- Ach daher weht der Wind! Der Kleine will abkassieren. Will mich schröpfen! Mir meine sauer verdienten Scheine aus der Tasche rupfen!
- Äh, nee?!
- Na, komm! Sechzig.
- Es geht mir nicht ums Geld. Das könnte ich gut gebrauchen. Aber ich hab’ morgen früh um zehn nen Termin, hab’ keine Lust, noch mal quer zurück durch’s Münsterland zu gurken, und wenn dann auch nur irgendwas passiert, bin ich der Depp und Schuld.
- Feigling. Dann eben nicht. Kleiner Nichtsnutz.
- Danke. Schönen Abend noch.
Pottwal schlurft weg. Zurück zum Taxi. Brüllt „Boh, Scheiße!“ Tritt wuchtig mit der Schuhspitze gegen einen Eisenpoller. Flucht wieder. Hinkt zum Auto. Wird irgendwen anders anrufen. Vielleicht. Obwohl: Schlafen ja schon viele jetzt. Aber ein paar wache Kollegen sollte er doch haben. Gibt doch nicht nur einen Taxifahrer in Ahlen. Oder? Die Geisterstunde rückt vor. Tee ist inzwischen abgekühlt. Kann getrunken werden. Noch zwei große Schlücke, dann kann es weitergehen. Nicht nach Rinkerode. Nach Dolberg, Beckum, Neubeckum, Ennigerloh, Westkirchen, Ostenfelde und dann über Freckenhorst und Everswinkel zurück. Keine Suffköppe kutschier’n. Nur Medikamente. In schmutziggelben Wannen. Ist entspannter.
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