Samstag, April 28, 2007

Die Paar Probleme (VII)

Coras pflaumenfarbenen Augen glänzen feucht, als sie Jens stumm, fast wehrlos das Wortfeld überlässt. Ihre Lippen eng aufeinander gepresst, leicht bibbernd.. Sie verharrt, fast wie gelähmt, zuckt zweimal kurz, als schwebe ihr ein Wort auf den Lippen, als wolle sie seinen Monolog unterbrechen, doch bleibt reglos, blass. Ihre Hände umklammern kreideweiß die Zigarettenschachtel. Die Schultern, die im Brast eben noch energisch vorragten, hängen nurmehr schlaff. Und auch Jens hält – vom Vorpreschen, von der eigenen Courage, dem eigenen Gefühlsausbruch scheinbar überrascht – inne, glättet die Schöße seiner blauen Strickjacke, die er verkrampft zwischen den übereinander geschlagenen Beinen eingeklemmt hatte. Fast scheint es, als hätte sein glänzendes Beispiel, sein verbaler Schachzug, die von langer Hand vorbereitete Pointe, sich zum Hinterausgang getrollt, sich irgendwo im zerebralen Ganggewirr verirrt oder sei auf dem kraftstrotzenden Weg zur Zunge erschöpft und konditionell entkräftet zusammengebrochen.

Jens räuspert sich, die Stirn in Falten geworfen, die Schläfen straff, der Blick streng und suchend. Wie ein Witzeerzähler, der im geschwinden Spurt zur Pointe hin vergessen hat, wie sie lautet. Wie ein Fußballstürmer, der sich im Konter den Ball weit vorlegt, ihm wild hinterherstürmt und urplötzlich zögert, schüchtern verzagt und fast unmerklich abbremst, sodass der Ball ins Aus trudelt. Chance vertan. Ohne Einwirkung des Gegners. Schweißperlen glitzern auf seiner Stirn. Er reibt sich hinter dem linken Ohr, schweigt, blickt auf die eckige Tischplatte vor sich, dann hinauf zum unbeirrt kreiselnden Ventilator an der Decke, weicht Coras Blicken aus. Und dann, nach quälenden Sekunden, ja vielleicht Minuten des beiderseitigen Schweigens fragt Cora mit zittriger Stimme:

„Dein Beispiel… Du wolltest doch… wolltest Du nicht? Dein Beispiel, Jens?“
„Ach ja… nun… ja… also… wie fange ich an?"
Jens stottert beinahe, besinnt sich aber und holt tief Luft. "Also gut... ein Mann, der in seiner Firma eine neue Stellung erhalten hatte und nun oft bis tief in die Abendstunden hinein arbeiten musste, hatte seiner Frau für den Tag das Auto überlassen, die mit den Kindern zur Großmutter fahren wollte. Es war zuletzt zu kleineren Missstimmungen zwischen ihnen gekommen, weil seine Frau – ohne es zu wollen – plötzlich zweifelte, ob er wirklich nur wegen der neuen Aufgaben derart spät nach Hause kam. Alle seine Freunde, die sie heimlich behelligte und subtil befragte, versicherten glaubhaft, dass sie keinerlei Anzeichen wahrgenommen hätten, dass irgendetwas Heimliches im Gange sei. Alle bekräftigten, wie liebevoll und begeistert er immer noch von ihr spräche, und dass es wahrlich keinen Grund gäbe, sich Sorgen zu machen. Die Frau hatte sich hierauf beruhigt, und doch war es, als hätten diese Zweifel ihr leise Gift ins Ohr geträufelt, das die Sinne schärfte, ihre Vertrauensfestigkeit innerlich allmählich zersetzte und wie ein Tumor den Argwohn in ihr streuen und wuchern ließen. Sie bemerkte an sich, wie viel aufmerksamer sie plötzlich auf seinen Stimmfall achtete, wie viel genauer sie auf seine Hände sah, während er, meist von der Arbeit müde, sprach. Teilweise fühlte sie sich wie ein Geheimdetektiv auf Spurensuche, überzeugt davon, dass eine akribische Untersuchung tatsächlich etwas Skandalöses hervorbringen würde, und dann schämte sie sich wieder, weil er sich eigentlich verhielt wie immer. Und doch… warum guckst Du plötzlich so…?“
„Wie gucke ich denn?“
„Naja… ich weiß nicht. Undurchdringlich?“
„Wie kann man denn undurchdringlich gucken?“
„Ich weiß nicht. Aber irgendwie…“
„Du wolltest Deine Geschichte erzählen. Nun bring sie auch zu Ende!“
„Ja… stimmt… also… irgendwelche Zweifel blieben der Frau, auch wenn sie selbst nicht genau benennen konnte, was diese eigentlich nährte. An diesem Tag war sie nun samt Kindern mit dem Auto zu den Großeltern gefahren und saß am Abend, die Kinder hatte sie schon zu Bett gebracht, vor dem Fernseher. Sie hätte ihren Mann mit dem Auto von der Arbeit abholen können, aber sie scheute davor zurück, etwas entdecken zu können, was sie gar nicht wissen wollte und was zu erfahren sie trotzdem brennend drängte. Der Mann wiederum – arglos – spazierte nach Feierabend, diesmal schon etwas früher als sonst, zu Fuß nach Hause und kam an einem Blumengeschäft vorbei, was just im Schließen begriffen war. Spontan sprang er noch in den Laden, flehte die Verkäuferin an, noch nicht zu schließen und ihm noch das gesamte Kontingent roter Rosen zu verkaufen, die sie noch in ihren grünen Plastikvasen stehen hatte. Es waren nur noch neun, ein eher kümmerlicher Strauß, aber es ging bei allem ja um die Geste. Eine Freude machen wollte er seiner Frau und ihr noch einmal zeigen, wie ernst es ihm um sie war, nachdem er zuletzt das Gefühl hatte, sie misstraue ihm plötzlich ein wenig. Und so ging er mit dem kleinen Rosenstrauß durch die dunklen Straßen heim. Zu Hause angekommen, lächelte er seine Frau an, die Rosen noch hinter dem Rücken verborgen, küsste sie (sie küsste nur spitz und mit festen Lippen kurz zurück) und holte dann den kleinen Rosenstrauß hervor, streckte ihr die Rosen freudig entgegen und sagte: ‚Für Dich Schatz, weil ich Dich liebe.’ Die Frau, überrumpelt und verdattert, hörte sich aber selbst daraufhin nur fragen: ‚Wofür denn das? Ist irgendetwas nicht in Ordnung?’, und insgeheim dachte sie: Der schenkt mir doch nicht ohne Grund einfach Rosen, und warum sagt er exakt in diesem Moment, dass er mich liebt? Er hat womöglich doch etwas zu verbergen und will mich ruhig stellen, ablenken, damit ich seine heimlichen Machenschaften nicht durchschaue. Und so nahm sie ihm die Rosen beinahe ruppig ab, zog eine schnippische Flunsch, zischte ‚Danke’ und eilte energisch in die Küche. Der Mann – völlig verwirrt – schritt ihr hinterher und fragte: ‚Ist alles in Ordnung? Hab ich irgendwas falsch gemacht? Hab ich was Falsches gesagt? Hätte ich Dir keine Rosen mitbringen sollen?’ Sie aber knurrte nur, während sie Wasser aus dem Spülkran in eine Vase füllte, ‚Doch! Alles bestens!’ Sie blieb den Rest des Abends auf Abstand, von stärkeren Zweifeln dunkel durchflutet. Sie schliefen weit voneinander entfernt ein. Der Mann wusste nicht, was los war, mutmaßte aber, die Geste sei vielleicht übertrieben gewesen, schlief still ein und nahm sich vor, es am nächsten Tag anders zu machen. Als er diesmal nach der Arbeit heimkam, hatte er keine Blumen dabei, sagte, als er die Wohnung betrat, nur ‚Hallo’, lächelte flüchtig und ging ins Bad, um sich umzuziehen. Die Frau wurde hierüber aber noch misstrauischer. ‚Es muss gestern eine Finte gewesen sein. Wenn er gestern gesagt hat, er liebt mich und Blumen mitbringt und heute nur kurz angebunden herein kommt, dann muss das einen Grund haben. Warum sagt er das heute nicht? Hat er innerlich schon mit mir abgeschlossen? Sein Herz schon ganz auf eine andere Schnepfe ausgerichtet? Will er mir nur zeigen, wie verzichtbar ich bin, dieser Schuft?“


Plötzlich fällt Cora Jens ins Wort. Ihr Gesicht hat während seines Monologs eine fast puterrote Farbe angenommen. Die Haut wirkt papiern, fast meint man, sie wütend rascheln und knistern zu hören. Ihre Pflaumenaugen schießen giftige Blitze, sie schnaubt Tabakrauchwolken aus den Nüstern und herrscht ihn an: „Scheißkerl!“
„Wer?“
„Du!“

to be continued...

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Donnerstag, April 26, 2007

Zufall kommt vor dem Fall

In solchen Fällen wird Stochastikern schwindelig. Doch es gewinnen ja auch Menschen den Lotteriejackpot. Verschwindend wenige, aber. Noch immer frage ich mich: Wäre er aus Terracotta gewesen, was dann? Es ist eine unsinnige Frage, denn er war aus Bast geflochten. Doch wenn. Und wenn sie vielleicht dann nicht auf das Auto gewartet hätte, um es passieren zu lassen, sondern noch vor der Stoßstange entlang geeilt wäre und zwei Schritte früher dortgewesen wäre. Es ist hypothetisch, ich weiß. Es ist nicht dazu gekommen. Es hätte auch bei mir anders kommen können, aber ich saß im Knautschlackledersessel beim Friseur. Meine Haare hatte die Friseurin bereits gewaschen (Kopfhautmassage inclusive). Der Nacken und die Schläfen waren bereits mit dem Langhaarschneider getrimmt. Gerade war sie dabei, das Haupthaar zu stutzen. Ich selbst rang mit verblichenen Erinnerungen, die unwillkürlich erwachten und wieder durch die Nervenbahnen sprudelten. Mémoires involontaires. Es war ihr Duft. Ralph Lauren. Trotz pollenverschnupfter Nase schnitt sich die Essenz in die Riechzellen, vor allem ins Vomeronasalorgan. Derselbe Beruf, derselbe Duft wie damals. Reiz - Reaktion. Keine Chance. Jedes Mal wieder. Verknüpfungen, die vielleicht unlösbar sind. Vieles wird spontan vor dem inneren Auge wieder lebendig. Eine Zeit, die inzwischen längst egal geworden ist, aber an welche die spontanen Erinnerungen immer noch verwirren können. Ein kurzes gespenstisches Frösteln, zusammenzucken, ein eisiger Hauch, der nach Vergangenheit riecht und alten Staub aufwirbelt. Damals. Und dann zuckte ich erneut zusammen.

Pock! Padautz!

"Oh mein Gott!", kreischte die Hauptfriseurin, schlug die Hände über ihren gesträhnten Locken zusammen und stürzte aus dem Laden. Auch meine Friseurin ließ die Schere fallen. Ich hatte es durch den Spiegel gesehen. Man sieht, während man gedankenverloren hindurch und damit hinter sich blickt, viele Menschen am Schaufenster vorbeigehen. Manche haben einen Hund dabei. Andere tragen Einkaufstüten oder eine Mütze. Sie tragen knappe Trägertops, T-Shirts, rot, gelb, beige, weiß. Sie pirschen nach links, sie schlendern nach rechts. Manche werden überholt. Aber die wenigsten fallen um. Umfallen auf einer Straße gehört zu den stochastisch unwahrscheinlichsten Aktionen. Und doch hatten sich die Vorgeschichten so verzwirnt, die Ereignisse derart verheddert, dass das Unwahrscheinlichste geschah. Fast schemenhaft sah ich irgendetwas hinab sausen und die Frau in ihrer grauen Bluse mit dem champagnerfarbenen Rock, die erst ging wie viele andere gehen und die ich gar nicht bewusst wahrgenommen hatte (ich war noch in den gedanklichen Auswirkungen des Duftes gefangen), und die urplötzlich, wie vom Blitz getroffen, zu Boden stürzte. Doch es war kein Blitz. Es war ein Blumentopf.

Wäre die Windböe in einem anderen Augenblick durch das offen stehende Fenster gestrichen, wer weiß, was dann. Es ist egal, denn es kam, wie es kam. Im dritten Stock war es. Erst stürzte der Topf, dann stürzte die Frau. Volltreffer. Und was für ein Glück im Schrecken sie hatte. Denn er war nur aus Bast geflochten, mit Stiefmütterchen darin, die nun nebst Erdkrümeln über den Bürgersteig gepulvert lagen. Er war nicht aus Terracotta. Wenn, wäre er schneller gefallen, und es wäre vielleicht auch nur der Schreck geblieben. Doch wäre es ein Steingutblumentopf gewesen und hätte der Wind auch diesen erwischt und er wäre von der Fensterbank gepurzelt, direkt auf den Kopf eines wildfremden Bürgersteigflaneurs. Womöglich hätte die Frau, die vielleicht diese Wohnung bewohnt und das Fenster vergessen hatte zu schließen und nur kurz einkaufen, vielleicht aber auch bei der Arbeit war oder bei einer Freundin zum Kaffee trinken, womöglich hätte sie dann die Staatsanwaltschaft gegen sich gehabt und eine Anzeige wegen fahrlässiger Körperverletzung oder gar Tötung. Was nicht alles passieren kann, ohne dass man es möchte und ohne dass man damit rechnet. Der Zufall kann in jeder Ritze lauern. Aber nicht immer kommt es ja zum Schlimmsten. Und hier blieb der Schreck. Vielleicht eine kleine Beule. Verwirrte Nervenbahnen. Zitternde, butterweiche Knie. Nichts Arges. Ein unwahrscheinlicher Schock. Und zerstobene Blumenerde auf dem Trottoir. Die Hauptfriseurin half der Dame auf und lud sie auf einen Cappuccino auf Ladenkosten ein. Noch sicherlich zehn Minuten pustete die Dame und atmete schwer, aber sie lachte schon wieder und war um eine Geschichte reicher, die sie am Nachmittag und am Frühabend und in den folgenden Wochen ihren Freunden und Verwandten erzählen konnte. Und meine Friseurin hatte ihre Schere wieder aufgeklaubt und schnitt weiter und dünnte aus und erzählte von den Grillvorhaben am ersten Mai, und ich hörte zu und versuchte den Duft zu ignorieren und schmunzelte darüber, dass auch ich eine neue Geschichte zum Erzählen hatte.

Dienstag, April 24, 2007

De profundis


Tausend alte Bilder kommen,
Ach! und jedes, jedes spricht:
Ist der Pfeil auch weggenommen,
Ist's darum die Wunde nicht.
(Franz Grillparzer)

Die Spatzen pfeifen nichts mehr von den Dächern. Sie senken gramgebeugt ihr Haupt. Schwarze Raben schweben mit schweren Schwingen am Himmel. Tiefgrauer Regen perlt verbitterte Trauerweiden hinab. Am Himmel dräuen schwarze Wolken. Auch das Schöne muss sterben, das Götter und Menschen bezwinget. Und manchmal bezwinget es auch die besonderen. Denn alles Fleisch, es ist wie Gras und alle Herrlichkeit des Menschen wie des Grases Blumen. Tränenschwanger schwellen schwarze Bäche zu reißenden Fluten, abwärts. Totes Geäst mitreißend. Hinfort gerafft hat es ihn. Alle Kräfte gewichen, alles Leben zerborsten. Sankt Bernhard ist nicht mehr. Hinfort gerafft von plötzlicher Schwäche, mitten aus gischt- und bierschäumendem Leben. Die spitze Feder abgebrochen. Die Bartstoppeln erstarrt. Die Schläfen, hinter denen teuflisch kluge Windungen wendigst sich verbanden, werden welken. Er wird die Gänseblümchen hochdrücken, seine Verdauungsprozesse sind Geschichte. Er hat den Eimer getreten, den Vorhang fallen lassen, ist runter vom Zweig, dem blutenden Chor der Unsichtbaren beigetreten. Was bleibt, stiften die Dichter. Und er war einer von ihnen. Der "Man in black" im Netz der Texte. Letzte Hoffnungsschimmer klammern sich an Wiederauferstehung. Vorerst jedoch breitet der Frühling sein schwarzes Band über den Nordstrand. Noch einige Tage flattert das Leichtuch im Wind. Danach bleiben die Erinnerungen. Und leise Hoffnungen auf irgendetwas, was in Zukunft kommen mag. Doch: Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten ist herrlich. Dona ei requiem.

Sonntag, April 22, 2007

Krümel, Hack und Pappteller (II)

g„Wie läuft es eigentlich mit der Kirche, die Du gegründet hast?“
„Es gab die erste Schenkung.“
„Die erste Schenkung?“
„Ja. Pappteller. Drei Riesenstapel. Dreihundert Stück insgesamt. Alle mit 23cm Durchmesser. Das ist gut.“
„Wieso?“
„Sonst hätte ich sie selbst zahlen müssen. Aus dem Opferstock. Außerdem ist auf ihnen mehr Platz als auf den Papptellern mit 20cm Durchmesser.“
„Das klingt nachvollziehbar. Und wer hat Dir die Futterpappen gespendet?“
„Ich kenne den Namen nicht.“
„Und wie bist Du daran gekommen?“
„Eine heilige Stimme in mir hat mich geführt. In die Moltkestraße.“
„Du vernimmst heilige Stimmen?“
„Sonst hätte ich doch keine Kirche gegründet.“
„Und was hat die Stimme gesagt?“
„Geh am Donnerstag morgen in die Moltkestraße.“
„Mehr nicht?“
„Nein. Doch. Aber den Rest konnte ich nicht verstehen. Es muss eine Störung im Äther gegeben haben.“
„Und dann bist Du einfach in die Moltkestraße gegangen?“
„Ganz genau. Am Donnerstag morgen.“
„Stand da dann ein heimlicher Kontaktmann, der Dir die Tellerstapel überreicht hat?“
„Nein. Sie lagen einfach da. Neben gelben Säcken. Originalverpackt. Ich musste sie nur aufklauben. Es war ein Wunder.“
„Ein Wunder im Müll. Unglaublich.“
„Wunder kann es überall geben, glaube ich. Auch im Müll.“
„Und wie entwickelt sich Deine Kirche neben dem ersten Wunder?“
„Ich stecke noch in Verhandlungen.“
„Mit wem?“
„Mit Schlachthöfen.“
„Mit Schlachthöfen? Planst Du einen industriellen Kollektivselbstmord?“
„Nein, aber es ist Frühling.“
„Was hat Frühling mit Schlachthöfen zu tun?“
„Ich verhandle doch auch mit Bäckereien.“
„Äh.“
„Im Winter sollte es doch Spekulatius geben. Mangels Mitgliedern habe ich die alle selbst gegessen.“
„Wie viele?“
„Fünfzig Packungen.“
„Ganz allein.“
„Ja. Es war sonst keiner da.“
„Hatte das irgendwelche Folgen?“
„Mein Arzt hat es mir irgendwann verboten.“
„Wieso das?“
„Ich hätte beinahe Skorbut bekommen.“
„Aber das kriegen doch nur Piraten.“
„Es ist eigentlich vor allem Vitaminmangel. Und scheinbar sind Spekulatius nicht sehr vitaminreich.“
„Das erklärt noch nicht, warum Du jetzt mit Schlachthöfen verhandelst.“
„Und mit Bäckereien.“
„Ich vergaß, stimmt. Und mit welchem Ziel verhandelst Du?“
„Um günstige Konditionen zu erreichen.“
„Ja, wofür denn?“
„Es soll im Frühling doch Mettbrötchen geben.“
„Solltest Du dann nicht auch mit Molkereien in Kontakt treten?“
„Ich glaube, ich kann nicht auch noch für Milch sorgen.“
„Aber Du solltest wenigstens an Butter denken. Sonst werden die Brötchen sehr trocken sein.“

Teil 1 siehe hier

Samstag, April 21, 2007


Ein Bart in der Menge

Donnerstag, April 19, 2007

Tüteninferno (2/2)

Irgendwo anders in derselben Stadt. Fast zeitgleich. Altbauwohnungen dösten an einer blaubasaltgepflasterten Seitenstraße. Irgendwer hörte Punkrock. Zu laut. Ein Terrier markierte sein Revier an einer Telefonzelle, in der schon lange niemand mehr den Hörer abgehoben hatte. Ein oder zwei Schwalben zwitscherten zwischen zwei Zweigen. Dutzende Autos kuschelten sich dicht aneinander neben dem Trottoir. Nur wo Schilder mit Abschleppdiensten drohten, klafften kleine Lücken. In einem dunklen Schaufenster wurde für "Alten- und Fußpflege" geworben.

Unweit davon zwinkerten die Lampen der Eckkneipe (sie war seit Kurzem unter neuer Führung und nannte sich nun 'Carmener Kreuz') den Bürgersteigpassanten verführerisch zu. Gesichter, die schon zur Zeit des Prager Frühlings angegraut waren, kauerten darin faltig am Eichentresen. Manche hielten sich an senkrechten Streben fest. In der Ecke stach der Skatclub "Eichel Unter" Trümpfe und kippte Herrengedecke. Hier, in einer der hinteren Ecken, hockten zwei junge Männer, die den Altersschnitt der Gäste um Jahre senkten. Beide tranken Fassbier aus Steinkrügen. Einer seufzte und vergrub, immer wieder Kopf schüttelnd, sein Gesicht in den Händen. Der andere erhob kurz später seine tiefe Stimme.

"So, Korni. Und jetzt verrätst Du mir endlich mal was los ist. Ist ja kaum auszuhalten, Deine Laune heute."
"Scheiße! Alles Scheiße, Mathis! Selten hat mir das Schicksal einen größeren Haufen vor die Tür gesetzt."
"Geht's auch konkreter?"
"Du weißt doch noch... Samstag."
"Ja? Du meinst, dass Mainz auch gegen Schalke..."
"Ach, killefitt. Klar, das ist auch Mist. Nee..."
"Hilf mir auf die Sprünge."
"Mojowax-Party, Du erinnerst Dich?"
"Oh ja, rattenstramm warst Du. Biste von den Bullen angehalten worden? Lappen weg?"
"Nein, quatsch! Ganz anders."
"Dann schieß los."

Kornelius (er war derjenige, der immer wieder sein Gesicht vergrub) hob den Steinkrug und nahm einen kräftigen Schluck Pils. Einige Tropfen rannen von den Mundwinkeln aus sein Kinn hinab.

"Ihr seid ja irgendwann getürmt und noch weiter ins Fusion."
"Ja. Hättst ja noch nachkommen können."
"Klar, aber darum geht's nicht. Jedenfalls: Kurz nachdem Ihr weg wart, tanzt mich da eine unglaublich schnuckelige Kleine an. Mit nem Lächeln, so süß, das Diabetiker ins Zuckerkoma schicken könnte."
"Und Du bist abgeblitzt? Haste's verbockt?"
"Ja. Nein. Eigentlich nicht. Und doch. Herrje!"

Er schlägt wütend mit der Faust auf den Tisch. Gläser klirren aneinander. Die anderen Gäste drehen sich kurz irritiert um.

"Also, wir tanzen uns gegenseitig an. Immer näher, immer näher. Plötzlich dreht sie sich um und schmiegt ihren niedlichen Hintern in meinen Schritt. Es wird immer heißer. Sie führt meine Hände von den Hüften auf ihre Brüste."
"Wow!"
"Dann reiße ich sie herum und wir beginnen mit einer wilden Knutschorgie. Mitten auf der Tanzfläche."

"Hossa! Geiler Typ!"

Mathis hält die Hand hoch zum Abklatschen bereit. Kornelius schlägt aus.

"Ja. Nein. Das schon. Nun. Gut. Irgendwann flüstert sie mir ins Ohr, sie wolle allmählich gehen. War ja auch schon nach fünf."
"Und Du bist nicht hinterher?"
"Doch, klar. Ich bin mitgegangen."
"Wo ist dann das Problem?"
"Beide hatten wir immensen Hunger, und so sind wir noch gemeinsam zum Dönermann gefahren."
"Sie ist doch nicht etwa Veget..."
"Nein, Mathis. Sie isst Fleisch." Kornelius rollte die Augen.
"Na ist doch super!"
"Ja. Gut. Während wir aufs Essen warten, schlingt sie sich erneut um mich und lässt wild die Zunge kreisen. Wir dann gemeinsam den Döner gegessen, fragt sie mich plötzlich, ob ich nicht einfach mit zu ihr kommen will."
"Und? Du hast doch nicht etwa gekniffen, oder?"
"Iwo! Irgendwer hätt' mich kneifen dürfen, ich dachte, ich träume!"
"Und?"
"Ja, geil war's. Donnerknispel, die Frau hat Sachen gemacht, die andere erst mein zwanzigsten Mal mit Dir machen. Oder nie! Fast illegal! Und Titten zum Drinversinken."
"Aber kein Kondom dabei gehabt?"
"Du weißt, ich bin immer bewaffnet."

Kornelius verzog den Mund zu einem galligen Lächeln.

"Ja, was zur Hölle ist dann mit Dir los, Alter? Heiße Mieze klar gemacht, mal wieder einen versteckt... ist doch super!"
"Schon. Nun. Naja..."
"Was... stand plötzlich ihr Macker im Zimmer?"
"Nein. Quatsch. Jedenfalls: Wir vögeln, dass die Wände wackeln, immer schneller, immer wilder. Und irgendwann, als nix mehr geht und die Sonne schon über die Dachwipfel klettert, sind wir eingeschlafen."
"Ja dann ist doch alles bestens! Wann triffst Du sie wieder? Haste ihre Nummer?"
"Das ist ja gerade das Problem."
"Wie? Hat sie Dich rausgeworfen? Will sie Dir die Nummer nicht geben?"
"Nein. Sie hat doch geschlafen. Geschnurrt wie eine Persekatze hat sie."
"Ja, was zur Hölle?"
"Mach mal halblang. Ich werd's Dir verklickern. Irgendwann vormittags wache ich auf. Über meinen Kopf gestülpt scheint ein Astronautenhelm mit Visier aus Milchglas, schwer wie ein Dutzend Walfische. Der Mund eine übersäuerte Wüste. Ausgelaugt wälze ich mich im Bett hin und her. Auch das Hirn windet sich in Krämpfen, als ich es auffordere, sich zu erinnern, was in der Nacht zuvor passiert ist und wie genau ich in dieses Schlafzimmer gekommen bin. Nur zögerlich schleichen verstreute Erinnerungen in zerrupften Lumpenfetzen zurück ins Bewusstsein. Nur in Zeitlupe fügen sich die zerborsten Wahrnehmungssplitter wieder zu einem geschlossenen Ganzen. Nun... allmählich hat auch die Verdauung sich zurück zum Dienst gemeldet, und so schleppe ich mich für das große Geschäft ins Badezimmer. Die Kleine schläft meilentief weiter. Nun... ich hocke mich also auf die Schüssel, um...


(Hier lässt der Autor den Lesern aus Pietätsgründen unbeschriebenen Freiraum, um sich selbst für oder wider bildliche Vorstellungen zu entscheiden.)


Als ich fertig bin, tauchen Erinnerungen auf, die vorher noch ihren Rausch ausgeschlafen haben mussten. Sie hatte mit besorger Miene gebeten, ich sollte mich doch nicht am Chaos stören. Sie und ihre Mitbewohnerin renovierten gerade. Nun, als ich spülen will, passiert nichts. Nada. Niente. Rien. Nitschego. Die Toilette war nicht angeschlossen, scheinbar wegen der Umbauten abgeklemmt."
"Potz Strahl! Und dann?"
"Naja... versuch mal mit völlig zermörsertem Hirn klar zu denken. Gut, die Kleine schläft noch. Und irgendwie muss dieses Malheur ja aus der Welt. Weißt Du - großartig wie es war, will ich mir ja nicht einfach sämtliche Chancen auf eine Fortsetzung zersägen. Und plötzlich fällt mir ein, dass ich in der Jackentasche noch die Plastiktüte vom Dönermann haben müsste. Und ich entdecke auf der Waschmaschine eine Packung feuchter Toilettentücher. So entscheide ich mich spontan für das scheinbar geringste Übel, wenn auch mit einem Würgen im Hals und halb erstaunt über mich selbst: die Schüssel selbst zu reinigen und alles in die Tüte umzufüllen (irgendwo jenseits der Wohnung würde sich ja schon ein Müllcontainer finden, in den man die Tüte unauffällig fallen lassen könnte), dann der Süßen einen kleinen Brief zu schreiben (so könnte ich ihr ja nie wieder unter die Augen treten), dass ich schon weg musste und so und unbemerkt zu verschwinden."
"Und?"
"Ich hab's getan."
"Und sie fand's scheiße?"
"Streich das s. Denn als ich den Brief fertig geschrieben habe und mich klammheimlich aus der Wohnungstüre schleiche und sie leise hinter mir zugezogen habe, breche ich fast zu sammen. Auf dem Tisch... neben dem Brief... lag noch die..."
"Nein!"
"Doch!"
"Heilige Scheiße!"
"Du sagst es."

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Mittwoch, April 18, 2007

Tüteninferno (1/2)

Schon einige Sekunden zuvor war das Knarzen der hölzernen Stufen im Treppenhaus heraufgedrungen und nähergekommen. Dann verstummte der Flur für einen Sekundenbruchteil, ehe - endlich! - die Wohnungstürklingel blechern schepperte. (Es war eine billige Türklingel.) Zuvor schon waren Susannes Nervenschaltkreise heißgelaufen, hatten sich immer dieselben Gedanken gegenseitig aufgeschaukelt. Erlebnisse, die auf der Zunge brannten, Neuigkeiten, die keinen weiteren Aufschub duldeten. Und so sprintete sie durch den Flur, riss die Tür auf und fiel beinahe über ihre beste Freundin Jessica her, die sie dringlichst herbestellt hatte, und die nun halb verdattert im Flur stand.

"Ist sowas zu fassen? Ich frage Dich: Hat man sowas schon einmal gehört? Es ist so... so..."

Susanne raufte sich die dunklen Locken, fuchtelte mit ihren Armen umher. Nervöse Flecken sprenkelten ihre Wangen. Jessica, einigermaßen überrumpelt, kräuselte die Stirn fragend.

"Nun mal ganz langsam. Lass mich doch erstmal die Jacke ablegen. Was um alles in der Welt ist denn eigentlich los? Du warst am Telefon schon so... Atme erstmal tief durch. Hier, ich habe uns ne Flasche Rotwein mitgebracht."

Jessica reichte ihr die Flasche, Susanne drehte sich erst zweimal verwirrt auf der Stelle, wuselte dann in die Küche und begann hektisch, die Küchenschubladen nach dem Korkenzieher zu durchwühlen. Gefunden. Entkorkt. Gläser unter hektischem Klirren aus dem Schrank geklaubt. Dann in Susannes Zimmer. Noch immer wirkte sie wie ein Hochdruckkessel, rannte ziellos hin und her, wurde mal blass wie Muschelkalk, ehe eine verschämte Pfirsichröte darüber spielte, wieder verschwand, sie wütend errötete. Im Sekundentakt wechselten ihre Gesichtsausdrücke, verschwommen ineinander. Und Jessica saß verwundert daneben. Hatte sie ihre Freundin doch nahezu noch nie so außer sich gesehen. Dann plötzlich japste Susanne, halb außer Atem, von Neuem:

"Es war so... so... was ist mir nur eingefallen ein derartiges Schwein, einen so unverfrorenen Perversen, einen solch kackdreisten Kranken süß zu finden? Und ihn sogar noch einzuladen, mit zu mir nach Hause zu kommen?"
"Wer denn überhaupt? Wovon redest Du?"
"Kornelius heißt der Schuft."
"Äh... erfahre ich auch noch etwas mehr?"
"Der... herrje.. aber wie großartig war die Nacht selbst. Er konnte keine zwei Schritte mehr geradeaus gehen, aber er selbst im tiefsten Suff wusste er... hach, Jessi, er wusste genau, wie er mich berühren muss. Alles in mir hat gebibbert, gezittert, pulsiert, mein Blut hat gebebt, meine Synapsen sprangen einen Flicflac nach dem anderen, so wild und aufregend war es noch nie..."


Wonnig glitzerten Susis Augen, deren Blicke vor Sekunden noch fast vor Abscheu barsten. Sie und Jessica saßen inzwischen gemeinsam auf dem Bett, von wo aus das Grauen seinen Lauf nahm, schwigen nun kurz. Beide nippten (beinahe synchron) an ihrem Glas mit Rotwein. Über Susis Bett hing ein Poster mit van Goghs Nachtcafé.

"Wann denn überhaupt? Und wer zum Henker ist Kornelius?"
, fragte Jessica nach einem Moment.
"Der... ach... Samstag. Du weiß doch. Auf der Mojowax-Nacht..."
"Warst Du völlig stramm."
"Ja... okay... das auch", murmelte Susanne verlegen. "Nachdem Ihr so früh gegangen seid, bin ich ja noch geblieben..."
"Schätzchen, wir sind um halb vier gegangen, das ist doch nicht früh."
"Naja... ich bin - wie Du Dich erinnerst - noch da geblieben. Und irgendwann... ja... irgendwann... ich weiß es nicht mehr genau. Jedenfalls war ich auf der Tanzfläche... und dann haben wir uns geküsst."
"Du und..."
"Kornelius, ja."
"Einfach so?"
"Ich weiß nicht mehr genau, wie es dazu kam."
"Und wieso ist er jetzt so ein Arsch?"
"Naja... wir sind dann irgendwann beide aufgebrochen, hatten beide Hunger und sind gemeinsam noch einen Döner essen gegangen. Und während wir auf den Döner warteten, haben wir uns plötzlich wieder geküsst. Mein Gott, konnte er küssen, der verdammte Vollpfosten!"
"Ja, aber was hat er denn getan?"
"Nun, völlig berauscht von seinen Küssen, habe ich ihn nach dem Essen noch mit zu mir eingeladen."
"Und?"
"Erst war es mir peinlich, denn - Du weißt ja, wie unsere Wohnung zurzeit aussieht, aber er hat sich gar nicht groß drum geschert. Wir sind gleich in mein Zimmer und sofort übereinander hergefallen."
"Das klingt ja furchtbar."
"Ja. Nein. Das nicht. Das war unglaublich. Toll. Der Wahnsinn."
"Aber?"
"Es war so wunderschön. Irgendwann sind wir völlig erschöpft zusammengesunken, haben uns aneinander gekuschelt (Du weißt, wie sehr mir das fehlt, es ist immerhin schon vier Monate her, seit ich das letzte Mal...). Wie dem auch sei. Ich bin selig eingeschlafen in seinen Armen. Dann wache ich morgens auf, und..."

Susanne erbleichte, schluckte. Nippte am Wein, sprach mit beinahe erstickter Stimme weiter.

"Dieses Schwein... dieses... hach, ich könnte ihn... ich dachte, er findet mich auch toll, aber stattdessen... und wie ich ihn angeschmachtet habe... und dann das! Wie kann man sowas tun?"
"Ja was denn nun? Verrätst Du's auch?"
"Nun, als ich aufwachte... war er einfach weg. Ohne ein Wort zu sagen. Ich habe ihn in der ganzen Wohnung gesucht. Nichts. Spurlos verschwunden. Wobei, nein. Nicht spurlos. Ganz im Gegenteil. Er hatte einen Brief auf dem Tisch hinterlassen. Wie unglaublich zynisch dieser Kerl gewesen ist. In honigsüßen Tönen hat er von der Nacht geschwärmt und bedauert, dass er so abrupt weggemusst hätte..."
"Na, dann ist er doch aber kein so großer Arsch."
"Das ist ja nicht alles. Denn da war noch... noch... ich kann es nicht sagen, mir wird jetzt noch davon übel!"

Fortsetzung folgt.

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Samstag, April 14, 2007

Die Paar Probleme (VI)

Einige Minuten verstreichen wie Frischkäse. Der Lockige mustert Coras Kurven lüsternen Blickes, sie würdigt ihn keinem einzigen, sitzt, selbstverloren, raucht, nippt an ihrem inzwischen erkalteten Kaffee, durchwühlt ihre Handtasche nach ihrem Handy, wirft dabei versehentlich einen Tampon heraus, drückt auf Tasten, hofft anscheinend auf eine Kurznachricht, doch nichts. Sie steckt ihr Handy und den Tampon zurück, starrt auf die Milchglasschirme der Wandlampen. Fast erschrickt sie, als Jens sich plötzlich wieder ihr gegenüber hinsetzt. Sie hat ihn nicht zurückkommen bemerkt.

"Du hast aber lange auf Toilette zugebracht."
"Und?"
"Ich sag's ja nur. Ich stelle nur fest."
"Richtig beobachtet. Und es hat nicht deswegen länger gedauert, weil ich mir die Hände gewaschen habe. Das tue ich jedes Mal- entgegen Deiner manchmal, als ich angeblich allzu schnell wiederkam, geäußerten Bedenken."
"Äh..."
"Sei's drum. Reden wir nicht lange um den heißen Brei: Ich könnte momentan eine ganze Badewanne vollkotzen."
"Womit?"
"Vomit, exakt. So kann man es auf Englisch auch nennen."
"Was? Wovon redest Du?"
Cora zieht erschrocken die Augenbrauen hoch.

"Ist doch egal, für's Erste. Was ich sagen will, ist: Ich... es reicht. Ich dachte, als wir dieses Café betraten, alles wird seinen hocherfreulichen Gang nehmen. Wir bestellen uns einen Kaffee, freuen uns daran, dass wir uns wiedersehen, berühren uns heimlich an Stellen, die dem Blick der anderen Cafébesucher verborgen bleiben, nippen nebenbei an den Tassen und brechen danach allmählich auf zu Tines Party."
"Aber Tine liegt doch..."
"Ich weiß, dass sie im Krankenhaus liegt. Wenn dieser Abend eine Erkenntnis mit sich bringt, dann die, dass ich mir eingestehen muss, dass ich wohl finanziell am Hungertuch nagen würde - würde ich als Hellseher arbeiten."
"Wieso als Hellseher?"
"Nun... hätte ich mehr hellseherisches Talent, hätte ich wohl vorhergesehen, dass ein Sportwagen sie über den Haufen fährt, hätte ihr vielleicht sogar vorher telefonisch Bescheid gegeben, dass sie den Kreisel bitte umfahren möge, und dann hätte die Party heute stattfinden können..."
"...zu der ich nur Deinetwegen gegangen wäre..."
"Ja..."
Jens seufzt. "Exakt. Darüber hinaus hätte ich aber wohl auch im Voraus wissen können, wie sich unser Wiedersehen, auf dass ich mich so gefreut habe, verlaufen würde."
"Was meinst Du?"
"Nun, ich hätte bereits im Vorfeld gewusst, wie sehr Du Dich gegen runde Tische sträubst (ich weiß ja immer noch nicht, wieso), wäre ich sicherlich nicht auf den Gedanken verfallen, Den erstbesten anzusteuern (auch wenn Du es mir längst hättest verraten können) und vielleicht wäre dann auch der Rest unseres gemeinsamen Cafébesuchs nicht in einen solchen - tschuldigung, aber - Zickenterroranschlag gemündet. Ich bin noch am Überlegen, ob ich lieber eine Badewanne vollkotzen würde wegen der haarsträubenden Stricke, die Du mir aus meinen Aussagen gleich im Dutzend gedreht hast, oder weil ich nicht in der Lage war, den Verlauf vorherzusehen und vorbeugend einzuwirken. Ich fürchte, ich habe da einiges falsch eingeschätzt."

Fast meint man hierauf Gischtschäumen in Coras Augen zu vernehmen, sie presst ihre Lippen zu einem haarfeinen Strich, bläst die Backen auf, wirft ihren Kopf schnippisch zur Seite. Doch dann, plötzlich, weichen ihre Gesichtszüge auf.

"Bin... bin ich wirklich so schlimm? Solch ein Scheusal?"
"Was heißt schlimm, Scheusal..."
Jens windet sich ein wenig.
"Ich... wirklich, das musst Du... glaub mir, will das doch gar nicht. Weißt Du, ich habe mich doch genauso auf Dich gefreut."
"Das freut mich, aber nach allem, was gerade passiert ist, brauche ich noch ein wenig Zeit, das glauben zu können. Und was glaubst Du, kann man nun in Zukunft dagegen tun?"

Cora zuckt verlegen mit den Schultern.

"Weißt Du", fährt Jens fort, "ich muss ganz ehrlich sagen: Gerade war ich drauf und dran durch den Hinterausgang zu verschwinden, wortlos abzutauchen, wirklich nach Hamburg zurück zu fahren, Dich anzurufen und Dir zu sagen: Das war's."

Cora erbleicht, greift nervös nach ihrer Zigarettenschachtel. Jens hebt die Arme wie ein Pastor beim Segensspruch vor dem Altar.

"Ich sagte mir: So einen Scheiß lasse ich mir nicht bieten. Streiten, wenn es der Sache dient, gerne, und sei es nur, um sich im Spaß zu zanken, um die Reibung zu steigern und die Spannung in einer vor Leidenschaft brodelnden Versöhnungssex-Orgie verglüht."
"Aber das können wir an sich doch..."
"Wir können eine Menge, aber ich habe, gerade, als ich auf Toilette war, nachgedacht. Nicht nur darüber, dass ich nicht hellsehen kann. Weißt Du noch, wie ich Dir zu unserem Halbjährigen das Bilderbüchlein geschenkt habe - 'Weißt Du eigentlich, wie lieb ich Dich hab?'"
"Ja"
, haucht Cora mit zittriger Stimme, tränentrüben Blickes.
"Ich lieb dich bis zum Mond und noch viel weiter, heißt es doch darin."

Cora - mit plötzlich völlig versöhntem Blick - scheint beinahe schmelzen zu wollen, stützt ihre Ellenbogen auf und legt ihr Kinn sanft in beide Handballen, während sie selig lächelt und schweigt.

"Gerade eben hätte ich Dich am Liebsten bis zum Mond oder noch weiter geschossen."

Coras wieder aufkeimender verliebter Blick zerspringt im Schreck.

"Ich weiß nicht, was ich getan habe, dass Du gerade zu ausgetickt bist. Wir haben x-fach darüber gesprochen, wie sehr ich heimliche Sündenregister hasse, bei denen man am Ende plötzlich eine immense Rechnung präsentiert bekommt, bei der man vorher aber nie Bescheid bekommen hat, dass - sagen wir - Kostenpunkte entstanden sind. Punkt eins: Du darfst und solltest längst wissen, dass ich niemals etwas tue, was Dich absichtlich kränkt oder irgendwie Dir schaden könnte."
"Das habe ich doch gar nicht ges..:"
"Das nicht. Aber wenn ich auf eins keinen Bock habe, ist es, unschuldig angeklagt zu werden. Ich will und werde mich nicht mehr für Dinge rechtfertigen, die ich nicht getan habe. Ich wüsste nicht, wo und wie ich Dir je Anlass gegeben habe, daran zu zweifeln, dass ich es ehrlich mit Dir meine. Wenn Dir irgendwas nicht passt, dann sag es mir bitte gleich. Jedes Mal aufs Neue. Wozu haben wir beide Zungen und Stimmbänder? Ich würde Dir gerne jeden Wunsch von den Lippen ablesen und würde auch gern in jeder Deiner mimischen Regungen erkennen können, woraus sie resultiert. Aber das kann ich auch kaum besser als hellsehen."


Er rührt, während er glutvoll weiterspricht, klickend mit seinem Löffel in der inzwischen leer getrunkenen Kaffeetasse herum. Eine Fliege umkreist seinen Nacken, er wedelt sie mit der anderen Hand fort.

"Und ich habe auch keine Lust, jedes Wimpernzucken unter Motivverdacht zu stellen. Denn genau dann würde ich auch in den argwöhnischen Misstrauensstrudel geraten, der Dich anscheinend gerade umherwirbelt. Wie ich gesagt habe: Als ich gerade auf Toilette war, ist mir wirklich die Galle hochgekommen. Nie zuvor war ich derart entschlossen, unsere Sache zu beenden. Schlussstrich, Abschnittwechsel, zack, aus, vorbei. Aber das wäre zu einfach gewesen. Und es ist nicht, was ich will. Auch wenn ich mich gerade ernsthaft gefragt habe, ob es noch etwas bringt mit uns. Zu oft habe ich in der Vergangenheit geduldig ertragen, wenn Du Dich in Dir selbst verheddert hattest. Aber - was mich rasend macht - ist, dass ich mich frage, was Dich dazu bringt, mir nicht zu vertrauen?"
"Ich... ich weiß nicht... es liegt nicht an Dir..."
"Umso mehr frage ich mich dann, wieso ich dann aber mit Konsequenzen leben soll, an denen ich scheinbar unbeteiligt bin. Es gibt keinen Zweifel daran, dass ich Dich - mit allen Macken - aufrichtig liebe. Aber ich bin kein Buddhist. Ich habe keine Lust stoisch immer wieder von vorn immer wieder dieselben Gebetsmühlen von vorn zu beginnen. Du hast gesagt, ich würde Dich nicht mehr so verliebt wie früher ansehen, äußerst, dass ich Dir nur noch selten Komplimente machen würde, forderst sie fast ein."
"Aber das ist doch auch so..."
"Ja, aber hier wird das Huhn zum Ei oder umgekehrt... äh... egal. Was ich sagen will: Wenn ich ständig in Frage gestellt werde, wenn mein Wort nichts gilt, weil ich ja insgeheim etwas ganz anderes sage als ich meine und ich vielleicht sogar flunkere, da ich in Wirklichkeit ja ein grässlich schlimmer Finger bin, der seine Pranken in Gedanken (zumindest) schon längst in fremde Unterwäsche gesteckt hat, wenn ich Dir von morgens bis abends bekräftigen muss, wie sehr ich Dich liebe, da Du scheinbar enorme Zweifel daran hast und unentwegt die Bestätigung brauchst, ist daran irgendetwas sexy? "
"Wie?"
"Nun, ich mag da eigen sein, aber ich äußere Komplimente gern freiwillig. Ich habe keinen Bock, dass sie zu selbstverständlichen Pflichtaussagen werden."
"Aber..."
"Ich weiß nicht, was genau Dich beunruhigt, aber es wäre schon schön, ein wenig mehr Vertrauen zu spüren. Weißt Du? Ich bin doch nicht ohne Grund mit Dir zusammen. Ich wäre nicht mit Dir zusammen, wenn ich es nicht wollte - und umgekehrt. Aber je mehr ich das Gefühl habe, dass jede Liebesbekundung von mir in erster Linie meine Pflicht ist, die sanktioniert und sofort unter Verdacht gestellt wird, wenn sie unterbleibt, desto weniger Lust habe ich darauf - und dass ich Dir (auch zurecht) gerne Komplimente mache, ist keine Frage!"


Cora ergreift seine Hand, zwei kleine Tränen rollen die Wangen hinab. Jens fährt indessen fort: "Ich will Dir mit einem Beispiel versuchen zu erklären, was ich meine."

to be continued...

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Achtung, nicht lesen - Todesgefahr!

Wenn ist das Nunstück git und Slotermeyer? Ja! ... Beiherhund das Oder die Flipperwaldt gersput.

Mittwoch, April 11, 2007

Paaksterfüür

Aschgraue Nebelschwaden verkleben die Abendluft. Dicker Rauch verschluckt die mageren Birken im Moor, die überstrüppten Wallhecken, die Äcker, die ehemaligen Torfkanäle, die winzigen Bauernhöfe mit ihren kärglichen Vorgärten. Blühende Ginsterbüsche keuchen, Amseln durchwühlen ihr Nest nach Schutzmasken. Nur selten dreht der Wind kurz und fächelt etwas Frischluft in die feinverstaubten Lungen. Es ist der Vorosterabend, und überall in Ostfriesland brennt es. Alte Äste, Tannengrün, Buschwerk, übrig gebliebene Laubhaufen aus dem letzten Herbst oder Stumpen entwurzelter Bäume sind seit Wochen und Monaten auf den Feldern zusammengekarrt und aufgetürmt worden, auf Rasenflächen hinter den Häusern oder auf öffentlichen Plätzen. Und nun, einen Abend vor Christi Wiedergeburt, wird ein Haufen nach dem nächsten entflammt, ehe tausende Flammen prasseln. Äste knacken, Laub knistert, während die Feuerzungen sie glutheiß umlecken und allmählich einäschern. Osterfeuer.

Drumherum scharen sich die Nachbarschaften. Bei größeren Feuern ganze Dörfer. In Gummistiefeln und Trainingsanzügen. Schnurrbärte und Dauerwellen werden hier nie aus der Mode geraten und werden schon in jungen Jahren sorgsam gezüchtet. Schluck um Schluck werden Pinneken gekippt. Die Augen trüben sich vom Klaren. Bei den Harten (die in den Garten kommen wollen) entschuldigt nur der Tod den Verzicht auf den nächsten Schnaps. Kruiden1 um Kruiden rötet die Backen - literweise rinnt das scharfe, dunkle Gesöff die Kehlen hinab. Bierfass um Bierfass wird in den Buden nachgefüllt und in Windeseile leergetrunken. Dickspeckige Mittvierziger mit fettigen Fingern baggern drallbusige Teenager mit wasserstoffweißer Knittereisenhaarpracht an, während ihre Ehefrauen quietschvergnügt auf der holprigen Wiese rund um die Bierbude Polonäse tanzen und mit dem Kommando "Ruut ut' Wech, anners göbeln wi jo vull!"2 auf Schockeffekt und Ekelfaktor zu setzen, um sich eine Schneise durch die Menschenmengen zu bahnen.

Der Wind hat gedreht, der Rauch zieht nun flach gen Bratwurststand. Augen brennen, wüstes Husten, Hände fächeln. Milchglasig dreinblickende Milchschnurrbartträger wanken, um den Zapfer in der Bierbude strumpelduun3 anzubölken: "Diäau mi man noch eeihm tweei Meters Charly!"4. Anschließend torkeln sie in weiten Bögen zu ihren Vereinskameraden zurück. Die Kinder, die sich noch nicht betten mussten, turnen abseits ihrer schluckspechtigen Eltern im flackernden Schein um den Feuerrand, halten Äste mit Teigwickeln in die Glut, um sich Stockbrot zu backen oder werfen Zweige in die Flammen. Schiefe Gebisse zerkauen Bratwürste, inzwischen wieder ohne Hustenattacken (der Wind hat wieder gedreht), das ungeröstete, weiße Toastbrot pappt am Gaumen, die Pappschälchen landen in den Flammen oder neben der Mülltonne (es ist zu spät zum Zielen). Der Vizepräsident des Kegelclubs bietet seiner Nachbarin an, seine Hasenpfote zu kraulen. Sie schüttelt sich, schüttet sich vor Lachen aus und nennt ihn einen Schlingel. Mit jeder halben Stunde müssen die Schritte vorwärts sorgsamer einzeln geplant werden, verschwimmt der Blick, wackelt der Horizont stärker, schläft das Gleichgewicht tiefer seinen Rausch aus, so dass sich die torkelnden Horden bald wie Fleischlawinen über den Platz walzen, jeden, der nicht schnell genug aus dem Weg springen kann, anrempeln, Bier und Schnaps verschütten, an anderen Lawinen hängen bleiben.

Freche Jungs reißen einem verrucht geschminkten Mädchen mit gigantischen Silberklunkern an den Ohren die Buchse runter. Die Menge grölt. Sie steht betreten, betrunken und unter der Gürtellinie nackt da und zieht die Hosenbeine verschämt wieder hoch, fängt vor Wut zu heulen an. Der Trainer der Alten Herren grinst gelb und zahnlückig unter seinem Schnurrbart hindurch, packt ihr mit festen Pranken auf die Schulter und raunt "Maak Di d'r nix van! Hier... ick geev Di'n Kur ut un denn is't ook weer giäaud, hör?"5 Sie schnieft, nickt stumm, sucht nach ihren Zigaretten, findet nur noch eine leere Schachtel, wirft sie frustriert zu Boden und folgt ihrem angegrauten Gönner zur Theke. Die Flammen werden langsam kleiner, die Rauchschwaden dünner. Die Nacht rückt tiefer, Ostern rückt näher. Doch hier ist noch lange nicht Schluss. Egal, wie doppet man sieht und wie viel länger der Heimweg durch Torkelumwege wird - was zählt, ist Durst. Und der ist noch massig vorhanden an den Osterfeuern meiner Heimat.
____________________________________
1 Kruiden ist (abgesehen von Tee) das ostfriesische Nationalgetränk, ein besonderer kastanienbrauner, scharfer Kräuterschnaps mit geheimer Zusammensetzung
2 "Raus aus dem Weg, andernfalls werden wir uns auf Euch übergeben!"
3 sturzbetrunken
4 wortwörtlich: "Tu mir mal noch eben zwei Meter Charly" --> Gib mir doch bitte noch zwei Meter (~15 Becher) Charly (stark dosierte Cola-Weinbrandmischung, oftmals mit "Landrat Melchers" zubereitet).
5 "Mach Dir nichts draus. Hier... ich geb Dir nen Schnaps aus und dann ist es auch wieder gut, hörst Du?"

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Freitag, April 06, 2007

Bücherkistenblues


Die Nacht bricht herein, wenn Städte sich in Platinen verwandeln. Sogar die Sonne können wir in den Schatten stellen, so lange wir nur nicht einrosten. Aus der Vogelperspektive ragen Fluchtlichtmasten heraus wie Fackeln, und alles, was ich weiß ist: Du sitzt hier direkt neben mir. Nur selten erkennen wir die umher schwirrenden Warnzeichen in der Luft, die wir atmen. Hier und jetzt spüre ich jedes einzelne Bröckchen. Die Fährte führt stracks zu Dir zurück. Du sagst, Du brauchst mich, um auszubrechen. Den ganzen Abend hast Du damit verbracht, Bücher aus Kisten zu klauben. Mich hast Du Dir entgehen lassen, so dass es nicht aussieht, als brächest Du ein Versprechen. Zerstreute Polaroidbilder und gesprenkelte Wörter rund um Deinen Ausschnitt - auf lange Sicht, sagtest Du, hast Du gewusst, dass es so kommen würde.

Dies ist durchaus etwas Neues, doch es hat sich gezeigt, dass es eigentlich nur geborgt war. "Warum muss jede Enttäuschung nur derart dünn sein?" Regen explodiert in dem Moment, als die Taxitür sich schließt, fühle ich das Gewicht Deines Kusses -mehrdeutig. Dir bleibt nichts übrig als abzureisen, ich begrüße das, doch ich hasse es, wenn die Unterhaltung unseren Händen entgleitet. Den ganzen Abend hast Du damit verbracht, Bücher aus Kisten zu klauben. Mich hast Du Dir entgehen lassen, so dass es nicht aussieht, als brächest Du ein Versprechen. Zerstreute Polaroidbilder und besprenkelte Wörter rund um Deinen Ausschnitt - auf lange Sicht, sagtest Du, hast Du gewusst, dass es so kommen würde.

Zwei Körper in Bewegung: Es stand fest, dass es nicht gemacht war, um zu halten. Der stampfende Regen fällt weiterhin trist und fade herab, und wir entschieden uns, nur zu schreiben, letzten Endes.

Frei nach Maxïmo Park - Books from boxes

Donnerstag, April 05, 2007

In späten Stunden, wenn die Konzentration sich blubbernd auflöst wie Brausetabletten in Leitungswasser, kann es schon einmal vorkommen, dass man plötzlich beim Lesen auf erdbeersichere Bunker stößt.

Dienstag, April 03, 2007

Erleichtert rückte sich Wjatscheslaw Parfjonowitsch Ukrow (nicht im Bild) die zerdellte Holzfällermütze (er hatte sie einst in Murmansk auf dem menschenleeren Bahnsteig gefunden und behalten) aus der Stirn, als er sah, dass seine kleine selbstgezimmerte Werkstatt den infamen Angriff seines Nachbarn Igor Iwanowitsch Kuzenko ohne Schaden überstanden hatte, der sie des Nachts hektoliterweise mit Anti-Schuppen-Shampoo übergossen hatte, weil der Anblick des windschiefen Holzgebildes seine Augen quäle, wie er auf Dorffesten immer wieder gern kundtat.

Montag, April 02, 2007

Tausend Mal berührt? Musik zum Millennium (I)

Kein Trommelwirbel trillerte von Ferne, von nirgendwo wehte Fanfarenhall. Kein Spatz zwitscherte es von der Dachrinne. Niemand hatte eine Konfettikanone vorbestellt, denn kaum jemand besaß auch nur den blassen Schimmer einer vagen Ahnung. Doch es gibt etwas zu feiern. So überrascht ich selbst noch bin, so ist doch dieser Beitrag hier der 1000. Text, den ich für die "Nachrichten aus Absurdistan" in Worte kleide. Verrät der Zählmechanismus hinter den Kulissen. Geld, um eine Schampussause zu schmeißen, klimpert keins in meiner Börse. Stattdessen gibt es aber - nach langer Zeit einmal wieder - zum feierlichen Anlass einen neuen musikalischen Rundumschlag mit jeder Menge mehr oder weniger bekannter Künstler, von denen ich finde, dass sie bereits zurecht die Aufmerksamkeit genießen, die ihnen gebührt, oder die es verdient hätten, mehr Ohren geliehen zu bekommen. Möglicherweise findet über diese Songs ja die ein oder andere Neuentdeckung oder Erinnerung ihren Weg auf Eure Plattenwunschzettel. Der Frühling hat einen blühenden Strauß knackfrischer Musik verdient. Hier kommt er. Viel Spaß!

Den Auftakt machen Maximo Park, die sich mit ihrem furiosen Debüt "A certain trigger" vor zwei Jahren Fans und Kritikern verblüffte Schweißperlen auf die Stirn zauberten. Ohrwurm drängte sich hier derart eng an Ohrwurm, dass man beinahe Vergleiche zur Bevölkerungsdichte von Hong-Kong heran ziehen mochte. Verspulte Gitarrenriffs verknoteten sich selbst die Füße, wie ein Flummi sprangen die Songs wild umher, über Stock und Stein und liefen doch nie aus dem Ruder. Jetzt ist mit "Our earthly pleasures" der fantastische Nachfolger am Start - derzeit mein absoluter Liebling des Jahres. Die Songs brauchen länger, um zu wirken, sind zunächst unscheinbarer, aber hintenrum kriegen sie Dich, und zwar gewaltig. Reinhören geht hier über das vergleichsweise poppige und klavierselige Your Urge.
Auch die großartigen Arcade Fire - die verspulten Feuilletonhelden und erklärte Lieblingsband von Größen wie David Bowie oder Brian Ferry - haben mit "Neon bible" einen neuen Monolithen von einem Album gemeißelt. Hier gibt es den Opener Black mirror zu bestaunen. Ganz vorne dabei ist auch die neue edle Perle von Bloc Party und hier verteten mit Vision of heaven.
Tief in die Trickkiste vertrackter Rockmusik hat auch das irre Trio 31 Knots auf ihrem neuen Album wieder gegriffen und ein gutes Dutzend zupackender, komplexer und frisch dampfender Nummern zusammengeschraubt. Kennenlernen? Kein Problem Man become me sowieso der Hit der Vorgängerscheibe, Hearsay, stehen Euren Ohren offen.

Zucker für die Lauscher ist auch immer wieder der feine Indiepop der Shins, die mit ihrem bezaubernden neuen Album "Wincing the night away" um die Ecke turnen. Dass man nicht nur seinen Feind, sondern auch seine Zwiebel kennen sollte, beweist augenzwinkernd Know your onion. Und auch Phantom limb nimmt beschwingt prompt Kurs auf die Gehörgänge.

Die bislang aufregendste und ungewöhlichste Band, die mir dieses Jahr über den Weg gestolpert sind, nennt sich Larrikin Love, kommt aus England, tobt durch alle Schubladen und bringt jeden ins Schwitzen, der versucht, zu beschreiben, wie ihre Musik klingt. Mal klingen sie, als hätten die Arctic Monkeys an einem Salsa-Kurs teilgenommen, dann als ob die frühen Police in einem kroatischen Bergdorf einen Achsbruch mit ihrem Bulli erlitten und auf eine Balkanpolka eingeladen worden wären. Mit fesselnden Melodien, verspulten Ideen und erfrischendem Schmiss bleiben sie spannend ohne zu überfordern und sind bei mir bislang die Neuentdeckung des Jahres. Einen Höreindruck kann man auf ihrer Myspace-Seite bekommen. Kostenlos zum Mitnehmen gibt es in diesem Fall leider nichts, und leider fehlen einige der besten Songs der Band dort. Sei's drum. Immerhin.

Mit erfrischendem, detailverliebten Indie-Pop, fein gesponnenen Melodiebögen und originellen Ideen haben sich auch Destroyer einen Platz im Reigen meiner aktuellen Lieblinge erspielt. Wie verstanden gefühlt ich mich beispielsweise bei Painter in your pockets gefühlt habe, wo Stifte (neben [sauberen!] Joghurtlöffeln) doch beinahe Dauergäste in meinen Hosentaschen sind.

Rumpelnder, druckvoller Indie-Rock - ungewaschen, verschwitzt, schlecht rasiert, aber unverschämt anziehend - kommt auch von The Velvet Teen. Von ihnen gibt's hier In a steadyman spray.

Jamie T
hingegen verquirlt auf seiner neuen Scheibe ohne mit der Wimper zu zucken HipHop mit Reaggae, Punk oder BigBeat mit flirrendem Geplucker, windschiefen Salsaklavierkaskaden und verschrobenen Bläsern. Eine der aufregendsten HipHop-Scheiben der bisherigen Saison, finde ich. Antesten? Bittesehr - Oh my girl. Das staubschluckende, dreckspuckende und enorm elektrisierende Retrorockgebräu von Wolf & Cub reinigt den Magen und sorgt für frischen Drive beim Frühjahrsputz, der ersten Cabriofahrt der Saison oder beim Wachrocken unter der Dusche. Passt auf Euer Hab und Gut auf, denn hier kommt Steal their gold.

Der elektrische Tanzflächenknaller des Jahres sind bislang sicherlich !!! mit ihrem grandiosen Hüftschwinger "Myth takes". Zwei Songs vom Album - perfekt für den Tanz in den Mai in Richtung Sommer - gibt es hier.

In epischer Panharmonie, hauchfeiner Traurigkeit und malmender Wucht schwelgen Aereogramme auch auf ihrer neuen Scheibe "My heart has a wish that you would not go" - eine meiner Lieblingsbands, die hier bereits mehrfach angepriesen wurden. Diesmal mit Conscious life for coma boy vom neuen Album. Viel zu unbekannt sind leider auch immer noch die fantastischen, herzzerreißenden und traumschönen Songs der Indierocker von Okkervil River. Wer es nicht eh schon im Regal stehen hat, lässt sich ja vielleicht von No pan, no key überzeugen. Feinnervig, ein bisschen hektisch, aber einfallsreich bis zum Umfallen ist auch der spannende Achterbahnpop von Deerhoof, bei denen unter den Melodiebögen einer kindlichen Mädchenstimme Bläser knarzen und Gitarren knurren, während ihnen der wuselnd-treibende Groove die Schnürsenkel über kreuz verknotet. Testfahrt ab sofort und hier mit +81.

Teil II folgt.

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