Ich bin ein pergamentenes Puzzle, dessen Teile sich lösen. Hauchfein blättert es fetzenweise. Zumindest einige Tage lang. Mein erster Sonnenbrand seit Jahren. Er sagte vorher nicht Bescheid, kam ganz unerwartet. Sind uns am Vortag noch Regenmassen sturmbefeuert entgegengeklatscht, ist der frische Gegenwind uns doch geblieben, so herrlich die Sonne nun auch aus wolkenfreiem Blau herab strahlt. Eine trügerische Wärme, frisch genug, in uns gar nicht den Gedanken aufkommen zu lassen, dass es angebracht sein könnte, sich einzucremen.
Wie völlig anders die heutige Tour sich zeigt. Von Gasselte aus schlängeln wir uns vergnügt auf kleinen, asphaltierten Pfaden durch Mischlaubwald, kurven zwischen Kiefern hindurch, passieren knorrige Eichen, durchqueren grüne Felder und weit geschwungene Heideflächen. An Grolloo vorbei, entdecken wir inmitten von endlosen Heidelandschaften und Gebieten, die eher an finnische Tundra erinnern, zwei
versteckt gelegene Radioteleskope, streifen beinahe das alte Durchgangslager Westerbork, von wo aus Juden zur NS-Zeit in die Todeszüge gen Osten verfrachtet wurden. Eine seltsam mulmige Beklommenheit kriecht in mir hoch, Bilder uralter Lastwagen, schlammiger Wege, brauner Uniformen, Tod und Blut mischen sich mit den Blicken, die durch diese abgeschiedene, sonnenbeschienene Idylle schweifen.
Hinter Beilen erreichen wir dann das größte Naturschutzgebiet der Region, den "Nationaal Park Dwingelderfeld". Wieder schlängeln wir uns auf engen Pfaden durchs Unterholz, überqueren dickflüssige, algenwuchernde Sümpfe, aus denen tote Baumstämme wie morsche Zeigefinger aufragen, radeln durch kleine, frei wuchernde Buchweizenfeldchen. Wilder Mohn und Kornblumen grüßen in voller Blüte am Wegrand. Ein besoffener Pulk radelnder Frauen kommt uns entgegen. Die Spur halten sie nur unter großen Anstrengungen. Einige von ihnen haben sich Spiralfeder-Plastikaugen vor die Stirn gepappt, wegen derer sie zwar kaum noch etwas sehen können, die aber lustig baumeln. Sie juchzen, sie lachen, sie stürzen beinahe. Doch Betrunkene haben ja oft tapfere Schutzengel.
Wir besuchen die „Schaapskooi“, den Schafstall, inmitten der heidebewachsenen Weiten. Von hier aus schlendert ein Schäfer tagtäglich mit den wuscheligen Blökern über Feld und Flur. Er ist weit vor uns losgezogen, wir haben uns vielleicht auch etwas viel Zeit gelassen am Morgen, sind wir doch erst kurz vor zwölf Uhr abgefahren. Und doch: Nachdem uns tags zuvor die Eisenbahnbrücke im Regen stehen lassen und aufgehalten hat, findet sich auch diesmal ein Hindernis auf unserer Reise.
Denn die Herde von mindestens Hundert Heidschnucken, die wir eigentlich an ihrem „Schaapskooi“ besuchen wollten, grast vielmehr einige Kilometer weiter mitten auf unserem schmalen Radweg, blökt munter und macht zeigt kein gesteigertes Interesse daran, kurzzeitig auf das Abrupfen und Zerkauen der flachen Grashalme am Wegrand zu verzichten, um uns vorbei zu lassen. Nur zögerlich tapsen sie mit ihren zahnstocherdünnen Beinen ein Stück seitwärts, grummeln uns ein halb entspanntes, halb nörgeliges „Määh“ zu und bewegen ihre wollüberwucherten Leiber ein kleines Stück.
In Ruinen machen wir
Halt, rasten ein wenig. Entgegen des Namens, ist Ruinen überaus gut erhalten, bestzt unzählige winzige Häuschen, von denen nicht eins kaputt ist, malerische Vorgärten und keinen Hauch von Verwitterung, Zerstörung und Verlassenheit. Wir gönnen uns am Dorfplatz
frisch gebackenen, noch warmen Apfelkuchen mit Zimtstreuseln. Ein absolutes Gedicht und willkommene Stärkung, denn es liegen noch einige Kilometer vor uns, die Zeit rollt nicht rückwärts, und irgendwann schließen die Campingplatzrezeptionen. Von hier ab wird es friesischer. Bauernhäuser drömeln an schnurgeraden Straßen, Milchvieh grast auf saftigen Weiden. Der Wald bleibt hinter uns, das Ijsselmeer rückt näher, auch wenn wir kilometerweit Abstand dazu halten werden.
Nach abermals knapp achtzig Kilometern, die sich am Ende auf nicht enden wollenden Straßen geradeaus hinziehen wie zähtrüber Rübensirup, erreichen wir unser Ziel dann aber doch, spät, zur Tagesschauzeit, aber noch rechtzeitig. Wir schlagen unser Quartier auf in Westeinde, knapp außerhalb von Wanneperveen, auf einem kleinen Motorbootcampingplatz inmitten riesiger, schilfumrankter Seen. Direkt an einer der winzigen Grachten, in denen die Boote dümpeln und an die sich die Dauercampingcontainer kuscheln, bekommen wir ein kleines Stück Hecke und wähnen uns plötzlich im Nebel. Doch ist es kein milchiger Wasserdampf, der heraufzieht, es sind Mückenschwaden, dicht wie Rauch, ein bissiger Vielvölkerstaat, der sich blutrünstig mir entgegen stürzt, während ich – noch benetzt mit Mannesschweiß des Tages – nach dem Aufbau unserer Unterkunft vor dem Campingkocher knie, um das Abendessen zuzubereiten. M. ist das Privileg vergönnt, sich zuerst unter die erfrischende Brause zu schlagen.
Immer wieder schlage ich wild umher, doch die Blutsaugerwolke gibt sich ungerührt, wünsche mir ein Moskitonetz, fege beinahe den Topf vom Brenner, indem die Pasta für das Abendessen brodelt. Als alles verspeist ist, flüchte ich in die Dusche, spüle mir die Strapazen des Tages vom Leib, tausche den mückenmagnetischen Schweißduft mit Pfirsich-Odeur des Duschgels und erschrecke ein wenig. Meine Füße sehen aus wie Bahnschranken, rotweiß gestreift, halb belichtet von der Sonne, halb abgedeckt durch die Sandalen. Auch Arme und Nasen sind rot wie Hummerfleisch, das aus kochend heißem Wasser gezogen wird. Zu frisch war der Wind, da kommt man schnell darüber hinweg, sich einzucremen. Nun, es schmerzt nicht, außerdem bin ich Indianer. Ein Indianer, der vielleicht auch die Sonnenresistenz seiner Haut überschätzt hat.
Zurück am Zelt, haben sich die Stechbiester ein neues Opfer gesucht. M. scheint ihnen gar noch besser zu schmecken, denn von nun an lassen sie mich in Ruhe. M. wird am nächsten Tag über vierzig rote Stiche zählen dürfen, ich finde meine Stiche am nächsten Morgen nicht wieder. Doch vorher setzen wir uns noch auf einen Steg an einem der großen Seen, schreiben Tagebuch, lesen ein wenig, trinken Bier und gönnen uns die erste, köstliche Milchtüte voll mit Vanille-Vla. Unter unseren Füßen schwappt Wasser selbstverloren gegen die Steg-Pfosten. Die Sonne geht inzwischen unter. Wir sitzen immer noch da, genießen die Mückenfreiheit dieses Fleckens, reden leise, starren fast kontemplativ ins Dunkel. Zwei Motorboote fahren mit kleinen Leuchten hinaus in die Finsternis. Nacheinander. Mit etwa einer Viertelstunde Abstand. Hinaus auf's große Nass. Wohin sie wollen? Wir wissen es nicht. Es hat fast etwas Unheimliches. "Vielleicht versenken sie ein paar Kinderleichen an einer abgelegenen Stelle im Schilf?", mutmaße ich. M. bleibt skeptisch. Zurecht. Wir werden es nicht klären können. Und so schlurfen wir zurück zum Zelt, werfen noch einen Blick über die um Dunkeln von Lichtern glänzende Minigracht vor unserem Zelt, klettern dann in unsere kleine Unterkunft, verriegeln das Innenzelt mit dem Mückengitter besonders sorgfältig und legen uns schlafen.
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